Ist § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II verfassungswidrig?
Veröffentlicht: 10. April 2013 Abgelegt unter: Kosten der Unterkunft, Mietobergrenzen | Tags: § 22 SGB II, Kosten der Unterkunft, SG Dresden Urteil vom 25.01.2013 S 20 AS 4915/11, SG Leipzig 15.02.2013 S 20 AS 2707/12, SG Mainz Urteil vom 08.06.2012 S 17 AS 1452/09, SG Mainz Urteil vom 22.10.2012 S 17 SO 145/11 7 KommentareIn einem aktuellen Urteil vom 15.02.2013 zum Aktenzeichen S 20 AS 2707/12 hat das SG Leipzig entschieden, dass die Regelung des § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts in seinem Hartz-IV-Urteilen vom 09.02.2010 (Az. 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09) genügt, da die Vorschrift nicht hinreichend bestimmt genug festlege, in welcher Höhe Leistungsberechtigten nach dem SGB II Leistungen für die Unterkunft zustehen. Deswegen sei § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II verfassungskonform dahin auszulegen, dass grundsätzlich die tatsächlichen Wohnungskosten zu übernehmen sind.
Eine Beschränkung auf die „angemessenen“ Unterkunftskosten könne derzeit „nur als eine Art Korrektiv dienen, nämlich dann, wenn die Unterkunftsverhältnisse bzw. -kosten in einem offensichtlichen Missverhältnis zu den sonstigen Lebensumständen des Alg-II-Empfängers stehen. Mit anderen Worten: Das Maß ist überschritten, wenn Empfänger von Sozialleistungen in Luxusunterkünften wohnen.“
Das SG Leipzig beschreitet damit in konsequenter Umsetzung der Rechtsprechung des BVerfG einen völlig neuen Weg bei der Bestimmung der im SGB II zu übernehmenden Unterkunftskosten. Es bleibt abzuwarten, wie das Sächsische Landessozialgericht im Berufungsverfahren entscheiden wird.
Wie das SG Leipzig haben bereits entschieden:
SG Mainz, Urteil vom 08.06.2012, S 17 AS 1452/09:
„3. Die Kammer konkretisiert den Angemessenheitsbegriff deshalb nach Maßgabe des Grundsatzes der verfassungskonformen Auslegung in der Weise, dass unangemessen im Sinne des § 22 Abs. 1 S. 1 SGB II lediglich Kosten der Unterkunft sind, die deutlich über den üblichen Unterkunftskosten für der Größe und Struktur nach vergleichbare Haushalte im geografischen Vergleichsraum liegen.“
SG Mainz, Urteil vom 22.10.2012, S 17 SO 145/11:
„3. Die Kammer konkretisiert den Angemessenheitsbegriff deshalb nach Maßgabe des Grundsatzes der verfassungskonformen Auslegung in der Weise, dass unangemessen im Sinne des § 35 Abs. 2 S. 1 SGB XII lediglich Kosten der Unterkunft sind, die deutlich über den üblichen Unterkunftskosten für der Größe und Struktur nach vergleichbare Haushalte im geografischen Vergleichsraum liegen.“
SG Dresden, Urteil vom 25.01.2013, S 20 AS 4915/11:
„Solange keine den Vorgaben des BVerfG genügende Regelung über die Ermittlung der Angemessenheit der Bedarfe der Unterkunft im Sinne von § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II zur Verfügung steht, erscheint es der Kammer angezeigt, in diesem Zusammenhang auf die vom Gesetzgeber in einem dem vom BVerfG verlangten nahekommenden Verfahren errechneten Werte der Tabelle in § 12 Abs. 1 WoGG zurückzugreifen und diese um einen maßvollen Zuschlag von 10 % zu erhöhen (vgl. BSG, Urteil vom 11. Dezember 2012 – B 4 AS 44/12 R, Rn. 19).“
Rechtsanwalt Helge Hildebrandt
Die Richter am SG können dann sicherlich erklären, wieso die vollständige Übernahme von KDU jemals verfassungsrechtliche Relevanz zu Lasten der Hilfebedürftigen haben könnte.
Wird hier von einer Benachteiligung der „Behörden“ ausgegangen ist dieses Argument nicht durchgreifend, weil die „Behörden“ selber eben nur ausführende Organe des (Bundes-)gesetzgebers sind.
Sieht ein Gericht die Notwendigkeit verfassungsrechtlicher Auslegung hat es eigenständig – und nicht durch die übergeordnete Instanz – bereits die Vorlagepflicht.
BVerfG, 2 BvR 2500/09 vom 7.12.2011
Das BSG meinte in 2011, selbst die Umlage für ein Schwimmbad im Haus wäre noch nicht zwingend sittenwidrig, denn auch dem HB muß es freigestellt bleiben, zwischen vollen qm und gehobener Ausstattung abzuwägen.
Es wurden in dem Fall ja nicht die vollen KdU übernommen.
Natürlich verstößt der Gesetzgeber mit der vollen Übernahme von KdU gegen keine Grundrechte oder sonstigen Verfassungsbestimmungen. Er ist selbstverständlich aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG aber auch nicht verpflichtet, KdU in beliebiger Höhe zu übernehmen.
Ein Gesetz steht dann nicht im Widerspruch zu einem Grundsatz von Verfassungsrang, wenn es verfassungskonform ausgelegt werden kann. Lässt mithin ein Gesetz mehrere Auslegungsmöglichkeiten zu, so ist die Möglichkeit zu wählen, die zu dem Ergebnis einer Vereinbarkeit mit der Verfassung kommt. Ihre Grenzen findet die verfassungskonforme Auslegung allerdings dort, wo sie mit dem Wortlaut und dem klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers in Widerspruch treten würde (vgl. BVerfG 09.02.1982- 1 BvR 845/79 sowie BVerfG 04.06.1985 – 1 BvL 7/85). Die verfassungskonforme Auslegung lässt damit nur eine Einschränkung bzw. Präzisierung dessen zu, was der Gesetzgeber gewollt hat, nicht jedoch eine inhaltliche Veränderung. Diese Auslegungsmethode, die vom BVerfG entwickelt wurde, soll verhindern, dass Gesetze nur aufgrund ihrer Mehrdeutigkeit für verfassungswidrig und daher für nichtig erklärt werden müssen.
Zum Haus mit Schwimmbad: Wird selten vorkommen, aber auch hier gilt die Produkttheorie, d.h. entscheidend ist allein die Miethöhe.
Bindend ist im Gesetz für Unangemessenheit folgendes vorgeschrieben:
§ 31 SGB I
Damit muss ein JC für die Festlegung von Unangemessenheit über ein Gesetz legitimiert sein. Diese Festlegung selber ist aber gerade kein Verwaltungsakt.
Auch dem Land oder Kreis fehlt dazu eine Ermächtigung, denn diese dürfen nur das Gegenteil davon – zur Verwaltungsvereinfachung können die Festlegen, was eben immer noch als angemessen gilt, um nicht in jedem Fall eine unsinnige Einzelfallprüfung machen zu müssen.
Und der Satz, die tatsächlichen KDU sind angemessen, bis das Gegenteil bewiesen ist, bedarf keiner teleologischen Auslegung, weil er keine „Regelungslücke“ enthält oder unklar wäre.
[…] Die SG L Entscheidung gibt es hier: http://srif.de/files/1365523938_E130203.pdf dazu mehr auch hier: https://sozialberatung-kiel.de/2013/04/10/%C2%A7-22-sgb-ii-verfassungswidrig/ […]
Auch §22 Abs.1 Satz 2 SGB II ist mehr als fragwürdig: Bei einem „nicht erforderlichen“ Umzug wird nur der bisherige Bedarf übernommen, auch wenn die Kosten der Unterkunft unterhalb der Angemessenheitsgrenzen liegen. Die Erhöhung der Wohnkosten wegen allgemeiner Mietsteigerungskosten und Steigerung der Heizkosten jedes Jahr wird dabei völlig außer Acht gelassen. Diese Kosten wären auch in der alten Wohnung entstanden. Auch ist keine zeitliche Begrenzung im Gesetz angegeben und damit wird die Durchführung von §22 Abs.1 Satz 2 zur Dauersanktion. Hier verschaffen sich die Kommunen einen einseitigen Vorteil gegenüber den Leistungsempfängern, indem sie sich selbst von der Kostensteigerungsentwicklung am Wohnungsmarkt abkoppeln.
Guter Hinweis.
Die Deckelung der Leistungen für die neue Unterkunft bei einem nicht erforderlichen Umzug auf die bisher zu tragenden Aufwendungen ist nicht (dauerhaft) auf den Zahlbetrag im Auszugszeitpunkt bezogen. Maßgeblich ist, wie sich die Unterkunftskostenbelastung bei Verbleib in der bisherigen Wohnung entwickelt hätte, so dass mit zunehmender Entfernung zum Umzug die Ausgangsgröße (Miete bei Auszug) um zu erwartende Mieterhöhungen und vor allem Betriebskostensteigerungen anzupassen ist („dynamisches Leistungsniveau“), Berlit in LPK-SGB II, 4. Aufl. 2011, § 22 Rz. 69 m.w.N.
Auf einem anderen Blatt steht, wie praktikabel solche Regelungen sind. Und die Frage zu formulieren, welches Jobcenter eine solche „Dynamisierung“ in der Praxis tatsächlich (selbsttätig) vornimmt, heißt, sie zu beantworten. Leider hat der Gesetzgeber in seinem ideologiesierten, von Leistungsmißbrauchswahn gekennzeichneten Normierungszwang die Leistungsverwaltung, die das alles umsetzen soll, wohl schon vor langer Zeit aus dem Blick verloren. Die Leistungsberechtigten ja ohnehin.
Im Übrigen gilt § 22 Abs. 1 Satz 2 SGB II nicht für einen Umzug außerhalb des örtlichen Bereichs (BSG, Urt. vom 1.6.201, B 4 AS 60/09 R) und natürlich ist stets eine besonders sorgfältige Prüfung der Erforderlichkeit eines Umzugs vorzunehmen.
Dazu habe ich etwas gefunden!
Das Jobcenter Flensburg, Arbeitshinweise zu den Kosten der Unterkunft (auf deren Homepage nachzulesen): § 22 Abs. 1 Satz 2 SGB II wird grundsätzlich auf 2 Jahre befristet angewandt.
Außerdem sollte wohl in Berlin zumindest die Dynamisierung der KdU durchgeführt werden.
In Berlin gab es dazu nämlich folgende Urteile.
S 37 AS 14345/11, Urteil vom 11.11.2011
S 82 AS 7352/09, Urteil vom 16.07.2010
S 82 AS 20480/08, Urteil vom 12.09.2008