Kein Alleinstehendenregelsatz bei Zusammenleben mit Asylbewerber

Eine Ehefrau muss den geringeren Sozialleistungssatz für Verheiratete bzw. Paare in einer Wohnung auch dann hinnehmen, wenn ihr Ehemann die niedrigeren Leistungen für Asylbewerber bezieht.

Bundessozialgericht in Kassel

Die erwerbsgeminderte Ehefrau bezog seit August 2015 zusammen mit ihren vier minderjährigen Kindern ALG II (jetzt Bürgergeld). Ende Januar 2017 zog ihr Ehemann in den Haushalt, der Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz in Höhe von damals 318 € (aktuell 330,00 € für Paare in einer Wohnung) monatlich erhielt. Das Jobcenter bewilligte der Ehefrau daraufhin nur noch die um 10 % abgesenkten Leistungen nach der Regelbedarfsstufe 2 in Höhe von monatlich 368 € (jetzt 502 €) anstatt 409 € (jetzt 451 €) nach der Regelbedarfsstufe 1. Aufgrund der gegenüber ALG II/Bürgergeld niedrigeren Asylbewerberleistungen hatte die Familie 50 € weniger zur Verfügung als ein Ehepaar, bei dem beide Partner ALG II/Bürgergeld beziehen. Aus diesem Grunde begehrte die Ehefrau weiterhin Leistungen wie eine Alleinstehende.

Ihre Klage vor dem Bundessozialgericht hatte keinen Erfolg. Da Ehepaare und Partner aus einem gemeinsamen Topf wirtschaften können und so Einsparpotenziale insbesondere im Bereich Lebensmittel, Energie und Wohnungsinstandhaltung sowie Nachrichtenübermittlung haben, kann der höhere Regelbedarf für Alleinstehende nicht mehr beansprucht werden. Dies gilt auch bei sogenannten gemischten Bedarfsgemeinschaften, bei denen unterschiedliche Sozialleistungen – hier Sozialgeld und die um 50 € geringeren Asylbewerberleistungen – gewährt werden. Denn auch für den Bereich Hausrat, der in den Grundleistungsbedarf nach dem Asylbewerberleistungsgesetz nicht als Geldleistungsbetrag eingeflossen ist und daher wesentlich zur Differenz des ausgezahlten monatlichen Betrags führt – können im Bedarfsfall gesondert Geld- oder Sachleistungen erbracht werden.

BSG, Urteil vom 15.02.2023, B 4 AS 2/22 R

Erstveröffentlichung in HEMPELS 4/2023

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


EU-Ausländer: Anspruch auf ALG II trotz Verlustfeststellung

Schleswig-Holsteinisches LSG

Ausländer aus der Europäischen Union können auch dann einen Anspruch auf ALG II gegenüber dem örtlich zuständigen Jobcenter haben, wenn die Ausländerbehörde den Verlust ihres Aufenthalts- bzw. Freizügigkeitsrechts festgestellt hat.

In dem der Entscheidung zugrundeliegenden Fall hatte die Ausländerbehörde den Verlust des unionsbürgerlichen Freizügigkeitsrechts einer Familie festgestellt. In der Folge hob das zuständige Jobcenter deren ALG II-Bewilligung auf, da ab dem Zeitpunkt der Verlustfeststellung gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 a SGB II kein Anspruch auf ALG II mehr bestehe. Sowohl gegen die Verlustfeststellung als auch gegen Aufhebung der ALG II-Bewilligung erhob die Familie Widerspruch und trug vor, die Mutter haben zwischenzeitlich wieder eine Erwerbstätigkeit aufgenommen und sei damit wieder freizügigkeitsberechtigt. Dennoch wiesen Jobcenter und Ausländerbehörde die jeweiligen Widersprüche zurück.   

Rechtswidrig, entschied das Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht in zweiter Instanz in einem Eilverfahren. Zwar entfalte die Verlustfeststellung der Freizügigkeitsrechts der Familie durch die Ausländerbehörde eine sog. „Tatbestandswirkung“ für den Ausschluss von ALG II-Leistungen. Wird indessen nach Verlust des Freizügigkeitsrechts – hier durch die erneute Arbeitsaufnahme – ein Tatbestand verwirklicht, der ein Freizügigkeitsrecht neu begründet und hebt die Ausländerbehörde ihre deswegen rechtswidrig gewordene Verlustfeststellung nicht auf, können die Sozialgerichte im Rahmen des von § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ohne Bindung an die Verlustfeststellung eigenständig das Aufenthaltsrecht bejahen und das zuständige Jobcenter vorläufig zu ALG II-Leistungen verpflichten.

Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, Beschluss vom 30.08.2021, L 6 AS 10003/21 B

Erstveröffentlichung in HEMPELS 1/2022

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Ausländer: Anspruch auf ALG II nach 5 Jahren in Deutschland

(c) Kurt F. Domnik / pixelio.de

Arbeitsfähige arbeitslose Ausländer ohne Aufenthalts- oder Freizügigkeitsrecht haben in Deutschland keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld II (ALG II). Hiervon gibt es aber eine Ausnahme: Auch diese Ausländer können ALG II erhalten, wenn sie seit mindestens fünf Jahren ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet haben. Die Frist beginnt mit der Anmeldung bei der zuständigen Meldebehörde (§ 7 Abs. 1 Satz 4 und 5 SGB II). Der Aufenthalt muss ohne wesentliche Unterbrechungen über fünf Jahre bestehen und vom Ausländer nachgewiesen werden.

Grundsätzlich ist zum Nachweis diese Aufenthalts zwar eine fortwährende und überdies melderechtskonforme Anmeldung bei der zuständigen Meldebehörde das geeignetste Mittel, aber nicht das einzige. Denn das ist weder dem Wortlaut von § 7 Abs. 1 Satz 4 und 5 SGB II, der lediglich für den Fristbeginn auf eine Anmeldung bei der zuständigen Meldebehörde abstellt, noch der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 18/10211, S. 13 ff.) oder dem Sinn und Zweck der Vorschrift zu entnehmen. Es kann vielmehr ergänzend auf die allgemeinen Mittel der Beweisführung bzw. Glaubhaftmachung zurückgegriffen werden. So können neben Meldebescheinigungen etwa von Personen ohne festen Wohnsitz Nachweise über den Aufenthalt in Obdachlosenunterkünften, Klinikaufenthalten oder Aufenthalten bei Verwandten oder Bekannten vorgelegt werden. Weiter kommen dokumentierte Vorsprachen bei Behörden, Betreuern oder Hilfseinrichtungen als schriftliche Nachweise in Betracht. Der Aufenthaltsnachweis kann für Zeiten ohne melderechtskonforme Anmeldung zuletzt auch über Zeugen erbracht werden, die den Ausländer regelmäßig gesehen haben.

Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, Beschluss vom 09.12.2019, L 6 AS 152/19 B ER

Erstveröffentlichung in HEMPELS 07/2020

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt