Zur Beratungshilfe für die Durchführung eines außergerichtlichen Schuldenbereinigungsverfahrens gemäß § 305 Abs. 1 Nr. 1 InsO durch einen Rechtsanwalt

Neben anerkannten Schuldnerberatungsstellen können auch Rechtsanwälte als sogenannte „geeignete Personen“ im Sinne von § 305 Abs. 1 Nr. 1 InsO außergerichtliche Schuldenbereinigungsplanverfahren durchführen (für Schleswig-Holstein siehe § 1 Nr. 1 AG InsO SH). Der außergerichtliche Einigungsversuch ist Voraussetzung für den Antrag auf Privatinsolvenz.

Gemäß Nr. 2504 VV RVG kann vom zuständigen Amtsgericht Beratungshilfe für die anwaltliche „Tätigkeit mit dem Ziel einer außergerichtlichen Einigung mit den Gläubigern über die Schuldenbereinigung auf der Grundlage eines Plans (§ 305 Abs. 1 Nr. 1 InsO)“ gewährt werden.

Regelfall: Schuldnerberatungsstellen

Nach § 1 Abs. 1 Nr. 2 BerHiG besteht ein Anspruch auf Beratungshilfe auch in diesem Fall allerdings nur dann, wenn „keine anderen Möglichkeiten für eine Hilfe zur Verfügung stehen, deren Inanspruchnahme den Rechtsuchenden zuzumuten ist“.

Diese „anderen Hilfemöglichkeiten“ bieten die steuerfinanzierten Schuldnerberatungsstellen der großen Sozialverbände (in Kiel die Schuldnerberatung des DRK, die katholische Kirche mit ihrem „Sozialdienst katholischer Frauen e.V. Kiel“ sowie der Verein Lichtblick Kiel e.V. mit seinem „Schulden- und Insolvenzberatungszentrums Kiel“, der eng mit der Diakonie des evangelischen Kirche verbunden ist).

Mit einer Ablehnung von Beratungshilfe für einen außergerichtlichen Schuldenbereinigungsversuch verstößt ein Amtsgericht im Regelfall nicht gegen das Willkürverbot des Art. 3 Abs. 1 GG, Art 103 Abs. 1 GG, weil diese Auslegung des § 1 Abs. 1 Nr. 2 BerHiG „einfachrechtlich gut vertretbar“ ist (BVerfG, Beschluss vom 04.09.2006, 1 BvR 1911/06).

Ausnahmefall: Anwaltliche Schuldnerberatung

Unter bestimmten Voraussetzungen kann jedoch auch bei einem bestehenden Angebot an Schuldnerberatungsstellen Beratungshilfe für eine anwaltliche Beratung und Vertretung bewilligt werden:

  • Der Rechtsanwalt ist in der Angelegenheit bereits vorbefasst.
  • Es sind Forderungen strittig.
  • Die Wartezeiten bei den Schuldnerberatungsstellen sind unzumutbar lang (circa mehr als 6 Monate).

Vorbefassung des anwaltlichen Betreuers?

In einer aktuellen Entscheidung hat sich nun das Amtsgericht Kiel zu der Frage geäußert, ob das Merkmal der „Vorbefassung“ in der Person des anwaltlichen Betreuers erfüllt ist. Es hat eine Vorbefassung in diesem Fall abgelehnt, weil eine Vorbefassung als Rechtsanwalt Voraussetzung sei:

„Der Antragstellervertreter ist als gesetzlicher Betreuer des Antragstellers auch für den Bereich der Vermögenssorge bestellt. Er ist damit in sämtlichen Fällen der Vermögenssorge automatisch vorbefasst, was indes nicht Grundlage der Vorbefassung als Rechtsanwalt ist.“

Schuldnerberatungsstellen bieten auch Hausbesuche an!

Nach Ansicht des Amtsgerichts Kiel führen auch körperliche Einschränkungen wie etwa die Wegeunfähigkeit der verschuldeten Person nicht zu einer Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme einer Schuldnerberatungsstelle, denn diese böten – was gerichtsbekannt sei – auch Hausbesuche an:

„Der weiter vorgetragene Umstand, dass eine Inanspruchnahme der Schuldnerberatungsstelle eine persönliche Vorsprache des Schuldners selbst erfordere, steht einer Inanspruchnahme der Schuldnerberatung nicht im Wege. Es ist amtsbekannt, dass die hiesigen Schuldnerberatungsstellen bei Notwendigkeit und Geeignetheit auch Hausbesuche durchführen, um die persönliche Vorsprache zu ermöglichen.“

Amtsgericht Kiel, Beschluss vom 20.03.2024, 7 XI 387/24

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Ablehnung von Beratungshilfe für sozialrechtliches Widerspruchsverfahren verfassungswidrig

Pressemitteilung Nr. 45/2022 vom 24. Mai 2022

Beschluss vom 04. April 2022
1 BvR 1370/21

Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts entschieden, dass die Ablehnung von Beratungshilfe für ein sozialrechtliches Widerspruchsverfahren verfassungswidrig war. Der Antrag des Beschwerdeführers auf die Bewilligung von Beratungshilfe wurde vom zuständigen Amtsgericht in mehreren Entscheidungen wegen Mutwilligkeit abgelehnt.

Sachverhalt:

Der Beschwerdeführer bezog Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Mit Bescheiden aus dem April 2021 wurde die Leistungsbewilligung des Beschwerdeführers für den Zeitraum Juli bis Dezember 2020 endgültig festgesetzt und daneben eine Erstattungsforderung geltend gemacht. Grund für die Erstattungsforderung war unter anderem eine vom Jobcenter festgestellte Überzahlung aufgrund eines Betriebskostenguthabens aus dem Jahr 2019, welches vom Jobcenter in dem Zeitraum Juni bis November 2020 anteilig leistungsmindernd berücksichtigt wurde.

Der Beschwerdeführer beantragte beim Amtsgericht die Bewilligung von Beratungshilfe. Er zweifelte an der Richtigkeit der Bescheide und wollte für die Gestaltung des Widerspruchs anwaltliche Hilfe in Anspruch nehmen. Er nannte der Rechtspflegerin einige Punkte, aufgrund derer die Bescheide nicht richtig sein könnten; unter anderem die leistungsmindernde Verrechnung des Betriebskostenguthabens über einen Zeitraum von sechs Monaten. Die Rechtspflegerin des Amtsgerichts wies den Antrag wegen Mutwilligkeit zurück. Ein eventueller Widerspruch sei ohne anwaltliche Hilfe zu fertigen. Es lägen keine Anzeichen für eine konkrete Rechtsbeeinträchtigung vor.

Der Beschwerdeführer legte Erinnerung ein. Die Anrechnung der Betriebskosten und die Errechnung des Erstattungsbetrags seien komplexe Sachverhalte. Die Rechtspflegerin des Amtsgerichts half der Erinnerung nicht ab. Die Erinnerung wurde mit richterlichem Beschluss wegen Mutwilligkeit abgewiesen. Der Beschwerdeführer wünsche Beratungshilfe, um Leistungsbescheide des Jobcenters pauschal auf ihre Richtigkeit überprüfen zu lassen. Er sei der Ansicht, dass es in den Bescheiden zu Fehlern gekommen sei, könne aber nicht konkret darlegen, um welche Fehler es sich handele. Auch habe er nicht vorgetragen, dass er sich selbst schriftlich oder durch Vorsprache beim Jobcenter um eine Aufklärung des Sachverhalts bemüht habe.

Die von dem Beschwerdeführer erhobene Anhörungsrüge blieb ohne Erfolg.

Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt er eine Verletzung der Rechtswahrnehmungsgleichheit (Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und 3 GG).

Wesentliche Erwägungen der Kammer:

Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet. Die angegriffenen Beschlüsse des Amtsgerichts verletzen den Beschwerdeführer in seinem Anspruch auf Rechtswahrnehmungsgleichheit.

Das Grundgesetz verbürgt in Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und 3 GG die Rechtswahrnehmungsgleichheit von Bemittelten und Unbemittelten bei der Durchsetzung ihrer Rechte auch im außergerichtlichen Bereich, somit auch im Hinblick auf die Beratungshilfe nach dem Beratungshilfegesetz. Unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten stellt die Versagung von Beratungshilfe keinen Verstoß gegen das Gebot der Rechtswahrnehmungsgleichheit dar, wenn Bemittelte wegen ausreichender Selbsthilfemöglichkeiten die Inanspruchnahme anwaltlicher Hilfe vernünftigerweise nicht in Betracht ziehen würden. Dabei kommt es darauf an, ob der dem Beratungsanliegen zugrundeliegende Sachverhalt schwierige Tatsachen- oder Rechtsfragen aufwirft und ob Rechtsuchende selbst über ausreichende Rechtskenntnisse verfügen. Keine zumutbare Selbsthilfemöglichkeit ist jedoch die pauschale Verweisung auf die Beratungspflicht der den Bescheid erlassenden Behörde.

Indem das Amtsgericht das Beratungshilfebegehren des Beschwerdeführers nach § 1 Abs. 1 Nr. 3 Beratungshilfegesetz als mutwillig erachtet hat, hat es Bedeutung und Reichweite der Rechtswahrnehmungsgleichheit verkannt.

Der Beschwerdeführer hatte keine besonderen Rechtskenntnisse, und der zugrunde liegende Sachverhalt warf schwierige Tatsachen- und Rechtsfragen auf. Das gilt jedenfalls für die vom Beschwerdeführer angezweifelte Anrechnung des Betriebskostenguthabens auf den Leistungsanspruch und dessen Aufteilung auf einen Zeitraum von sechs Monaten. Zur Klärung dieser Frage durfte der Beschwerdeführer auch nicht an das Jobcenter verwiesen werden, weil dieses den angegriffenen Bescheid selbst erlassen hatte.

Die Einschätzung des Amtsgerichts, die vom Beschwerdeführer verfolgte Rechtsverfolgung sei mutwillig, ist nicht nachvollziehbar. Der Beschwerdeführer hatte nicht pauschal die Überprüfung eines Leistungsbescheids begehrt, sondern bereits konkret aufgezeigt, auf welche Punkte sich seine Zweifel an der Richtigkeit der Bescheide bezogen. Insbesondere hat er die Richtigkeit der ‒ mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung tatsächlich nicht vereinbaren ‒ Anrechnung eines Betriebskostenguthabens über sechs Monate hinweg angezweifelt. Nähere Erläuterungen zu der nicht einfach gelagerten Frage, ob diese Aufteilung zulässig ist oder nicht, konnten von ihm bei der Beantragung von Beratungshilfe schlechterdings nicht erwartet werden.


Keine Beratungshilfe für das Widerspruchsverfahren, wenn für das Überprüfungsverfahren Beratungshilfe gewährt wurde?

Logo BVerfGWurde Beratungshilfe für die Stellung eines Überprüfungsantrages gewährt, soll die Ablehnung der Beratungshilfe für ein anschließendes Widerspruchsverfahren den Rechtssuchenden nicht in seinem grundgesetzliche verbürgten Anspruch auf Rechtswahrnehmungsgleichheit aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und Abs. 3 GG verletzen. Denn mit der anwaltlichen Beratung im Überprüfungsverfahren sei auch die anwaltliche Beratung im anschließenden Widerspruchsverfahren als bereit gewährt anzusehen (BVerfG, Beschluss vom 7. November 2016 – 1 BvR 1517/16 – ).

Bewertung

Diese Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts überzeugt nicht. Verwaltungsverfahren, Überprüfungsverfahren und Widerspruchsverfahren sind – was gebührenrechtlich vollkommen unstrittig weil gesetzlich eindeutig normiert – verschiedene Angelegenheiten (§ 17 Nr. 1a RVG). Sie werden deswegen vom Rechtsanwalt auch gesondert abgerechnet. Die vom anwaltlichen Vergütungsrecht abweichende Rechtsprechung des BVerfG im Bereich der Beratungshilfe führt damit dazu, dass unbemittelte Bürger ihre Rechte nicht in gleicher Weise wahrnehmen können wie bemittelte Bürger, die ihren Anwalt in beiden Verfahren – Überprüfungs- und Widerspruchsverfahren – bezahlen können.

Zudem vermag die These, mit der Gewährung von Beratungshilfe für das Überprüfungsverfahren sei auch die gewünschte Beratungshilfe für das Widerspruchsverfahren als bereits gewährt anzusehen, nur in Fällen zu überzeugen, in denen im widerspruchsfähigen Ablehnungsbescheid keine neuen tatsächlichen oder rechtlichen Fragen zu beurteilen sind, die im vorangegangenen Überprüfungsverfahren noch nicht aufgeworfen worden sind.

Zuletzt relativiert das BVerfG mit dieser Entscheidung seine bisherige ständige Rechtsprechung, wonach für Widerspruchsverfahren stets Beratungshilfe zu gewähren ist (vgl. Stichwort Beratungshilfe, dort unter 3.3.3). Da die Beschlüsse des Amtsgerichts Bayreuth nicht veröffentlicht sind, lässt sich hier allerdings nicht abschließend beurteilen, inwieweit die Gründe für diese Entscheidung sich in dem konkreten Einzelfall finden lassen.

Dem Rechtsanwalt kann aufgrund von Entscheidungen wie dieser nur geraten werden, Beratungshilfe nur noch gegen Vorlage eines Berechtigungsscheins zu gewähren, da sich die Voraussetzungen der Beratungshilfegewährung zunehmend der rationalen Vorhersehbarkeit entziehen.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


BVerfG: Ablehnung von Beratungshilfe erfordert einzelfallbezogene Begründung

Logo BVerfGPressemitteilung Nr. 84/2015 vom 13. November 2015

Beschluss vom 07. Oktober 2015
1 BvR 1962/11

Die nachträgliche Gewährung von Beratungshilfe für die Einlegung und Begründung eines Widerspruchs darf nicht mit dem pauschalen Hinweis darauf abgelehnt werden, dass die antragstellende Person den Widerspruch selbst hätte einlegen können. Dies hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts mit heute veröffentlichtem Beschluss bekräftigt. Da die Erfolgsaussichten eines Widerspruchs auch von dessen sorgfältiger Begründung abhängen, bedarf die Ablehnung der Beratungshilfe in solchen Fällen einer einzelfallbezogenen Begründung. Einer Verfassungsbeschwerde hat die Kammer stattgegeben und die Sache an das Amtsgericht zurückverwiesen.

Sachverhalt und Verfahrensgang:

Der Beschwerdeführer beantragte über seinen bevollmächtigten Rechtsanwalt beim Amtsgericht die nachträgliche Gewährung von Beratungshilfe für einen Widerspruch gegen die Ablehnung seines Antrags auf Leistungen zur medizinischen Rehabilitation. Er wies darauf hin, dass der Bevollmächtigte den Widerspruch bereits eingelegt habe. Der Antrag wurde zunächst durch Verfügung der Rechtspflegerin und – auf die Erinnerung des Beschwerdeführers – durch richterlichen Beschluss abgelehnt. Die Inanspruchnahme der Beratungshilfe sei mutwillig; zudem sei es dem Beschwerdeführer ohne weiteres möglich und zumutbar gewesen, den Widerspruch selbst beim Rentenversicherungsträger einzulegen.

Wesentliche Erwägungen der Kammer:

Die angegriffenen Entscheidungen verletzen den Beschwerdeführer in seinem Anspruch auf Rechtswahrnehmungsgleichheit.

  1. Das Grundgesetz verbürgt in Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und Abs. 3 GG die Rechtswahrnehmungsgleichheit von Bemittelten und Unbemittelten auch im außergerichtlichen Bereich. Dabei brauchen Unbemittelte nur solchen Bemittelten gleichgestellt zu werden, die bei ihrer Entscheidung für die Inanspruchnahme von Rechtsrat auch die hierdurch entstehenden Kosten berücksichtigen und vernünftig abwägen. Kostenbewusste Rechtsuchende werden dabei insbesondere prüfen, inwieweit sie fremde Hilfe zur effektiven Ausübung ihrer Verfahrensrechte brauchen oder selbst dazu in der Lage sind. Ob diese zur Beratung notwendig ist oder Rechtsuchende zumutbar auf Selbsthilfe verwiesen werden können, hat das Fachgericht unter Berück­sichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalls abzuwägen.
  2. Das Amtsgericht hat ohne die verfassungsrechtlich gebotene Einzelfallprüfung den Beratungshilfeantrag des Beschwerdeführers abgelehnt und sein Beratungshilfebegehren sogar für mutwillig erachtet. Es verweist den Beschwerdeführer für die Einlegung des Widerspruchs auf die Selbsthilfe, ohne konkret zu prüfen, ob ein bemittelter Rechtsuchender die Inanspruchnahme anwaltlicher Hilfe für das Widerspruchsverfahren in Betracht ziehen würde. Der richterliche Beschluss lässt zudem den Vortrag des Beschwerdeführers in seiner Erinnerung außer Acht, dass er die anwaltliche Hilfe auch für die Begründung des Widerspruchs beantrage. Das Amtsgericht verkennt, dass regelmäßig nicht bereits die bloße Erhebung des Widerspruchs zur begehrten Änderung der angefochtenen Entscheidung führt, sondern erst dessen sorgfältige Begründung. Den Entscheidungen ist keine Begründung dazu zu entnehmen, warum die beantragte Beratung für die Durchführung des Widerspruchsverfahrens entbehrlich gewesen sein soll und der Beschwerdeführer deshalb zumutbar auf Selbsthilfe verwiesen werden konnte.

Erst recht trägt der pauschale Hinweis auf ein angebliches Bestreben des Beschwerdeführers, für jegliche Lebenslagen eine anwaltliche Vertretung zu erlangen, die Annahme einer Mutwilligkeit des Antrags auf Beratungshilfe für das konkrete Widerspruchsverfahren wegen der Ablehnung einer Maßnahme zur medizinischen Rehabilitation nicht.

Mehr zum Thema im Stichwort „Beratungshilfe„.


Ablehnung eines Beratungshilfeantrags erfordert förmliche Entscheidung

Logo BVerfGWird einem Antrag auf anwaltliche Beratung nach dem Beratungshilfegesetz nicht in vollem Umfang entsprochen, muss hierüber grundsätzlich förmlich entschieden werden. Dies hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts mit am 3. Juni 2015 veröffentlichtem Beschluss bekräftigt. Dem Gebot der Rechtsschutzgleichheit aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG genügt es nicht, wenn das Amtsgericht den Beratungshilfeantrag nach Erteilung mündlicher Hinweise durch den Rechtspfleger als erledigt erachtet, obwohl ausdrücklich eine anwaltliche Beratung gewünscht war. Zudem überdehnt die Verweisung auf die Beratungsstelle der Behörde, gegen die Widerspruch eingelegt werden soll, den Begriff der „Zumutbarkeit“ vorrangiger anderer Hilfsmöglichkeiten. Einer Verfassungsbeschwerde hat die Kammer stattgegeben und die Sache an das Amtsgericht zurückverwiesen.

Sachverhalt und Verfahrensgang:

Die Beschwerdeführerin beantragte beim Amtsgericht einen Berechtigungsschein für eine anwaltliche Beratung nach dem Beratungshilfegesetz. Ihr Antrag auf Erwerbsminderungsrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung war abgelehnt worden; hiergegen wollte sie – mit anwaltlicher Hilfe – Widerspruch einlegen. Der Rechtspfleger beim Amtsgericht wies die Beschwerdeführerin mündlich darauf hin, dass sie Widerspruch bei der Rentenversicherung einlegen oder sich an die Auskunfts- und Beratungsstelle der Rentenversicherung wenden könne. Er stellte weder einen Berechtigungsschein aus noch beschied er den Antrag förmlich.

Die Beschwerdeführerin legte hiergegen „Erinnerung, hilfsweise Beschwerde“ beim Amtsgericht ein, mit der sie konkret darlegte, aus welchen Gründen sie Widerspruch erheben wolle und aufgrund welcher Erkrankungen sie nicht in der Lage sei, das Widerspruchsverfahren ohne anwalt­lichen Beistand zu betreiben. Die Richterin beim Amtsgericht wies die Erinnerung mit Beschluss vom 10. Juni 2011 zurück. Die Beratungshilfe sei nicht abgelehnt, sondern durch die Hinweise des Rechtspflegers gewährt worden. Die Sache sei damit erledigt; die Bescheidung einer Ablehnung komme daher nicht in Betracht.

Wesentliche Erwägungen der Kammer:

Der Beschluss des Amtsgerichts vom 10. Juni 2011 verstößt gegen das Gebot der Rechtsschutzgleichheit.

  1. Die Auslegung und Anwendung des Beratungshilfegesetzes obliegt in erster Linie den zuständigen Fachgerichten. Das Bundesverfassungsgericht kann hier nur dann eingreifen, wenn Verfassungsrecht verletzt ist, insbesondere wenn die angegriffenen Entscheidungen auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung der in Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG verbürgten Rechtswahrnehmungsgleichheit beruhen. Die Fachgerichte überschreiten ihren Entscheidungsspielraum erst dann, wenn sie einen Auslegungsmaßstab verwenden, durch den einer unbemittelten Partei im Vergleich zur bemittelten die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung unverhältnismäßig erschwert wird. Dabei müssen Unbemittelte nur solchen Bemittelten gleichgestellt werden, die bei ihrer Entscheidung für die Inanspruchnahme von Rechtsrat auch die hierdurch entstehenden Kosten berücksichtigen und vernünftig abwägen und insbesondere prüfen, inwieweit sie fremde Hilfe zur effektiven Ausübung ihrer Verfahrensrechte brauchen oder diese selbst geltend machen können.
  2. Diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen genügt der angegriffene Beschluss des Amtsgerichts nicht. Das Amtsgericht hätte den beantragten Berechtigungsschein erteilen müssen.
  3. a) Das Amtsgericht durfte nicht davon ausgehen, dass sich das Beratungshilfebegehren aufgrund der Hinweise des Rechtspflegers erledigt hat, da die Beschwerdeführerin ausdrücklich einen Beratungshilfeschein für die Konsultation eines Rechtsanwalts beantragt hatte.
  4. b) Zudem wird der Verweis auf Selbsthilfe dem Anspruch der Beschwerdeführerin auf Rechtsschutzgleichheit nicht gerecht. Aufgrund des mit der Erinnerung von der Beschwerdeführerin vorgetragenen Sachverhalts war hinreichend deutlich, dass das von ihr beabsichtigte Widerspruchsverfahren tatsächliche und rechtliche Fragen aufwirft, für deren Klärung auch ein kostenbewusster solventer Rechtsuchender einen Rechtsanwalt in Anspruch nähme anstatt selbst Widerspruch zu erheben.
  5. c) Auch soweit das Amtsgericht es für zumutbar erachtet hat, die Beratungsstelle des Rentenversicherungsträgers in Anspruch zu nehmen, wird die Rechtsschutzgleichheit der Beschwerdeführerin verletzt. Wie das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden hat, wird der Begriff der Zumutbarkeit von den Fachgerichten überdehnt, wenn ein Rechtsuchender für das Widerspruchsverfahren zur Beratung an dieselbe Behörde verwiesen wird, gegen die er sich mit dem Widerspruch richtet.
  6. d) Da sich der Beratungshilfeantrag nicht durch die Erteilung der Hinweise erledigt hat, hätte der Rechtspfleger über ihn entscheiden müssen. Die hiervon abweichende Vorgehensweise des Rechtspflegers erschwert ohne erkennbaren Sachgrund den Zugang der Beschwerdeführerin zu Rechtsberatung für das von ihr beabsichtigte Widerspruchsverfahren. Sie erschwert auch generell die Durchsetzung des Anspruchs auf Beratungshilfe, weil ein vor Bewilligung von Beratungshilfe in der Regel noch nicht anwaltlich vertretener Antragsteller mangels eines mit Rechtsbehelfsbelehrung versehenen Beschlusses nicht ohne weiteres weiß, dass und wie er gegen die Versagung der Beratungshilfe vorgehen kann.

Quelle: Pressemitteilung Nr. 38/2015 vom 3. Juni 2015

Die Entscheidung im Volltext findet sich hier: Beschluss vom 29. April 2015, 1 BvR 1849/11