Hartz IV: Keine Aufrechnung Strom gegen Gas

Beziehen Leistungsempfänger nach dem SGB II Strom und Gas von dem selben Anbieter und rechnet dieser in der Jahresabrechnung ein vorhandenes Stromguthaben gegen eine Heizkostennachforderung auf, muss der SGB II-Leistungsträger die gesamte Heizkostennachforderung übernehmen und nicht nur den um das Stromguthaben geminderten Betrag.   

Geklagt hatten die Eltern dreier Kinder, die als Familie Leistungen nach dem SGB II vom Jobcenter Schleswig-Flensburg erhalten. Mit der Jahresabrechnung für das Jahr 2017 teilten die Stadtwerke ihnen mit, dass aus den für Strom gezahlten Abschlägen ein Guthaben in Höhe von 611,79 € resultiere, für Gas aber noch eine Nachzahlung in Höhe von 649,24 € geleistet werden müsse. Die Stadtwerke rechneten diese beiden Beträge gegeneinander auf und forderten noch einen Betrag in Höhe von 37,45 € von der Familie. Nur diese Nachzahlung übernahm das Jobcenter. Die Familie forderte den gesamten Betrag für die Heizkostennachforderung in Höhe von 649,24 €.

Das Sozialgericht gab der Familie Recht. Denn die Heizkosten werden vom Jobcenter übernommen, Strom zahlen die Leistungsempfänger hingegen aus ihrem Regelsatz selbst. Somit steht ihnen grundsätzlich auch das aus einer Jahresabrechnung resultierende Guthaben für zu viel gezahlte Stromabschläge zu. Ist der Stromanbieter ein anderer als der Gaslieferant, bekommen Leistungsempfänger daher ein etwaiges Stromguthaben zurück, während sie eine Nachforderung für Heizgas vollständig über die SGB II-Leistungen erstattet erhalten. Das gilt genauso, wenn Leistungsbezieher Strom und Gas von demselben Versorger erhalten und dieser Guthaben und Nachzahlung miteinander verrechnet. 

Sozialgericht Schleswig, Urteil vom 10.08.2022, S 35 AS 635/18; Revision beim Bundessozialgericht anhängig unter dem Aktenzeichen B 7 AS 21/22 R

Erstveröffentlichung in HEMPELS 1/2023

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Die Bürgerbeauftragte informiert: Wichtige Änderungen in der Sozialhilfe ab Juli

Zum 1. Juli 2017 sind zahlreiche Änderungen im SGB XII erfolgt. Die Bürgerbeauftragte Samiah El Samadoni weist darauf hin, dass sich das auf die Bewilligungspraxis bei der Hilfe zum Lebensunterhalt, bei der Grundsicherung im Alter und bei voller Erwerbsminderung auswirken kann. „Die Rechtsänderungen erfüllen mich allerdings mit Sorge, da zahlreiche Regelungen die Rechtslage des Bürgers verschlechtern, die Rechtsanwendung verkomplizieren und der Verwaltungsaufwand höher wird“, sagte El Samadoni heute in Kiel.

Im Einzelnen handelt es sich um folgende Änderungen:

Der neu eingeführte § 37a SGB XII sieht vor, dass Betroffenen auf Antrag ein Darlehen zu gewähren ist, wenn sie ihr anzurechnendes Einkommen – wie zum Beispiel beim erstmaligen Rentenbezug – erst am Monatsende erhalten und ihren Lebensunterhalt bis zum tatsächlichen Zuflusszeitpunkt nicht selber decken können. Das Darlehen wird ab dem Folgemonat mit Raten in Höhe von fünf Prozent des Eckregelsatzes (derzeit 20,45 Euro) mit den laufenden Leistungen aufgerechnet bis zu einem Höchstbetrag von 50 Prozent des Eckregelsatzes (derzeit 204,50 Euro). In der Vergangenheit wurde in diesen Fällen trotz Fehlens einer ausdrücklichen Rechtsgrundlage oftmals ebenfalls ein Darlehen gewährt, das dann aber aufgrund finanzieller Überforderung der Betroffenen in eine Beihilfe umgewandelt beziehungsweise niedergeschlagen wurde. Diese Möglichkeit besteht nun nicht mehr.

Grundsicherungsberechtigte, die sich länger als vier Wochen ununterbrochen im Ausland aufhalten, erhalten nach Ablauf der vierten Woche bis zu ihrer nachgewiesenen Rückkehr ins Inland keine Leistungen mehr (§ 41 a SGB XII). Bislang konnten Grundsicherungsempfänger ohne Verlust des Leistungsanspruchs ins Ausland fahren, wenn sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt weiterhin in Deutschland hatten. Hierfür wurde von der Verwaltungspraxis und den Gerichten teilweise ein Auslandsaufenthalt von bis zu sechs Monaten als unschädlich angesehen.

Eine weitere Neuregelung (§ 42a SGB XII) wurde hinsichtlich der Bedarfe für Unterkunft und Heizung bei Grundsicherungsempfängern, die in der Wohnung von Eltern, Geschwistern oder eines volljährigen Kindes leben und keinen gesonderten Mietvertrag abgeschlossen haben, eingeführt. Für diesen Personenkreis werden die Kosten für Unterkunft und Heizung künftig in pauschalierter Form nach einer Differenzmethode als Bedarf berücksichtigt. Ferner wurde für Leistungsberechtigte in Wohngemeinschaften ohne eigenen Mietvertrag eine Regelung geschaffen, wonach sie Anspruch auf kopfteilige Aufwendungen für Unterkunft und Heizung eines entsprechenden Mehrpersonenhaushaltes haben. Damit ist ausgeschlossen, dass jede Person der Wohngemeinschaft Anspruch auf Unterkunftskosten eines Einpersonenhaushaltes hat. „Das ist nicht nur kompliziert, sondern wird in der Praxis auch zu finanziellen Verschlechterungen für zahlreiche Betroffene führen“, kommentierte die Bürgerbeauftragte.

Schließlich regelt § 44a SGB XII, dass Leistungen der Grundsicherung nur noch vorläufig zu bewilligen sind, wenn bereits bei deren Bewilligung Veränderungen in den Einkommensverhältnissen der Leistungsberechtigten oder bei den anzuerkennenden Bedarfen zu erwarten sind. Hauptsächlich betroffen sind von dieser Änderung Personen, die in einer Werkstatt für behinderte Menschen arbeiten und schwankendes Arbeitseinkommen (Urlaubs-, Weihnachtsgeld) erhalten. „Auch diese Vorschrift bedeutet aus meiner Sicht eine Verkürzung der Rechte der Betroffenen. Vorläufige Entscheidungen begründen nämlich keinerlei Vertrauensschutz und sind daher mit einer weitgehenden Erstattungspflicht verbunden“, erklärte El Samadoni.


Aufrechnung in Höhe von 30% mit der Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums vereinbar!

Bundessozialgericht in Kassel

Bundessozialgericht in Kassel

Die gesetzliche Ermächtigung zur Aufrechnung in Höhe von 30% des Regelbedarfs über bis zu drei Jahre ist mit der Verfassung vereinbar.

Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (Artikel 1 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 1 Grundgesetz) ist als Gewährleistungsrecht auf die Ausgestaltung durch den Gesetzgeber angelegt. Gegenstand dieser Ausgestaltung sind nicht nur die Höhe der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts und das Verfahren ihrer Bemessung, sondern können auch Leistungsminderungen und Leistungsmodalitäten sein.

Die Aufrechnung nach § 43 SGB II, die die Höhe der Leistungsbewilligung unberührt lässt, aber die bewilligten Geldleistungen nicht ungekürzt dem Leistungsberechtigten zur eigenverantwortlichen Verwendung zur Verfügung stellt, ist eine verfassungsrechtlich zulässige Ausgestaltung des Gewährleistungsrechts. Dies gilt zumal für die Aufrechnung in Höhe von 30% des maßgebenden Regelbedarfs. Denn diese knüpft an eine vorwerfbare Veranlassung des Erstattungsanspruchs durch den Leistungsberechtigten und damit an seine Eigenverantwortung als Person an, die Teil der Artikel 1 Absatz 1 Grundgesetz zugrunde liegenden Vorstellung vom Menschen ist. Zudem enthalten die gesetzlichen Regelungen mit der Einräumung von Ermessen hinsichtlich des Ob und der Dauer einer Aufrechnung, der Möglichkeit einer Aufhebung des Dauerverwaltungsakts der Aufrechnung bei Änderung der Verhältnisse sowie mit der möglichen Bewilligung ergänzender Leistungen während der Aufrechnung bei besonderen Bedarfslagen hinreichende Kompensationsmöglichkeiten, um verfassungsrechtlich nicht hinnehmbaren Härten im Einzelfall zu begegnen.

BSG, Urteil vom 09.03.2016, B 14 AS 20/15 R

Die vollständige Medieninformation 7/16 findet sich hier.


Hartz IV: Bei mehreren Darlehen ist die Aufrechnungshöhe auf 10 % begrenzt

(c) Gerd Altmann / pixelio.de

(c) Gerd Altmann / pixelio.de

Bei der Aufrechnung mehrerer gleichzeitig zu tilgender Darlehen darf die Aufrechnungshöhe 10 % nicht übersteigen. Die Begrenzung auf 10 % des jeweils maßgeblichen Regelbedarfes greift allerdings nicht, wenn neben einem Darlehen nach § 42a SGB II auch noch Erstattungsforderungen nach § 43 SGB II aufgerechnet werden. In diesen Fällen ergibt sich die Obergrenze der Aufrechnungsbeträge aus § 43 Abs. 3 in Verbindung mit Abs. 2 Satz 2 SGB II. Die Bundesagentur wird ihre Fachlichen Hinweise zu § 42a SGB II entsprechend ändern (Schreiben der BA vom 12.01.2016 an Harald Thomé vom Tacheles e.V.).


Rückforderung von ALG II nach neuer Rechtslage!

Seit Anfang 2011 gelten für die Rückforderung von Überzahlungen neue Regeln. Konnte das Jobcenter bisher nur mit eigenen Ansprüchen auf Erstattung oder Schadensersatz in Höhe von 30 % des maßgeblichen Regelsatzes aufrechnen, die der Leistungsberechtigte durch vorsätzlich oder grob fahrlässig unrichtige oder unvollständige Angaben veranlasst hat, ist seit dem 1.1.2011 eine verschuldensunabhängige Aufrechnung möglich.

Nach § 43 SGB II n.F. gilt nun:

(1) Eine Aufrechnung in Höhe von 10 % des maßgeblichen Regelsatzes ist verschuldensunabhängig möglich bei Rückforderung von

• den tatsächlichen Anspruch übersteigende Vorschüssen nach § 42 Abs. 2 Satz 2 SGB I,

• vorläufige erbrachten Leistungen nach § 43 Abs. 2 Satz 1 SGB I,

• vorläufig erbrachten Leistungen nach § 328 Abs. 3 Satz 2 SGB III (gem. § 40 Abs. 2 Nr. 1 SGB II auch im SGB II anwendbar) sowie

• in den Fällen, in denen der Leistungsberechtigte nach Antragstellung oder Leistungsbewilligung Einkommen oder Vermögen erzielt hat, welches zum Wegfall oder zur Minderung des Leistungsanspruches führt, § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X.

(2) Eine Aufrechnung in Höhe von 30 % des maßgeblichen Regelsatzes ist möglich bei verschuldeten Rückforderungen

• nach § 45 SGB X, also i.d.R. nur, wenn

– die Leistungen durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt worden sind,

– die Leistungsgewährung auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat oder wenn

– der Begünstigte die Rechtswidrigkeit der Leistungsgewährung positiv kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte,

• nach § 48 SGB X, also nur, wenn

– der Betroffene eine Pflicht zur Mitteilung wesentlicher für ihn nachteiliger Änderungen in seinen Verhältnissen vorsätzlich oder fahrlässig nicht nachgekommen ist oder

– der Betroffene wusste oder nicht wusste, weil er die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat, dass der ALG II-Anspruch nicht mehr besteht,

• bei Ersatzansprüchen wegen sozialwidrigem Verhalten i.S.v. § 34 SGB II, d.h. wenn ein volljähriger vorsätzlich oder grob fahrlässig die Voraussetzungen für eine Leistungsgewährung an sich ohne wichtigen Grund herbeigeführt hat oder

• bei Ersatzansprüchen aufgrund sozialwidrigem Verhaltens i.S.v. § 34a SGB II, d.h. wenn durch vorsätzlich oder grob fahrlässiges Verhalten die Zahlung von ALG II an andere (Dritte) bewirkt worden ist.

Voraussetzung für die Rückforderung ist weiterhin, dass gegen den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid (§§ 45, 48, 50 SGB X) kein Widerspruch bzw. keine Klage erhoben wurde, da diese nach wie vor aufschiebende Wirkung haben (§ 39 SGB II).

(3) Die Höhe mehrerer monatlicher Aufrechnungen ist auf insgesamt 30 % des maßgeblichen Regelbedarfs begrenzt (§ 43 Abs. 2 Satz 2 SGB II).  Dies gilt auch für den Fall, dass Aufrechnungen von Darlehen nach § 42a SGB II mit der Aufrechnung von Erstattungsansprüchen zusammentreffen (§ 43 Abs. 3 SGB II), nicht jedoch für hinzutretende Sanktionen nach §§ 31 bis 32 SGB II.

Wichtig:

• Der Hauptanwendungsfall für Leistungsrückforderungen ist nach wie vor die Überzahlung aufgrund erzieltem Einkommen, das zunächst nicht oder in zu geringer Höhe angerechnet wurde.

• In diesen Fällen ist nur eine Aufrechnung in Höhe von 10 % rechtmäßig(s.o.).

• Um dennoch in Höhe von 30 % des maßgeblichen Regelsatzes aufrechnen zu können, wird den Leistungsberechtigten regelmäßig in Textbausteinform vorgeworfen, sie hätten „die Überzahlung verursacht, da Sie eine für den Leistungsanspruch erhebliche Änderung in Ihren Verhältnissen nicht angezeigt haben“.

• Es ist dringend zu raten, sich gegen diesen – in den allermeisten Fällen ungerechtfertigten – Vorwurf zur Wehr zu setzen, denn wer vorsätzlich oder fahrlässig Änderungen in seinen Verhältnissen, die für den Leistungsanspruch erheblich sind, nicht, nicht richtig, nicht vollständig oder nicht rechtzeitig mitteilt, kann mit einem Bußgeld belegt werden, § 63 Abs. 1 Nr. 6 SGB II. In Einzelfällen kommt es auch immer wieder zur Einleitung von Strafverfahren wegen vermeintlichem Sozialhilfebetruges.

• Einkommensnachweise sollten unbedingt persönlich beim Jobcenter gegen Eingangstempel und Unterschrift abgegeben werden. Kostengünstig – wenngleich nicht in jedem Fall „gerichtsfest“ – ist auch die Übersendung per Telefax mit vollständigem Sendebericht (Ausdruck der ersten Seite). Ein Zugangsnachweis ist notwendig, weil beim Jobcenter Kiel nach wie vor ungewöhnlich viele eingereichte Unterlagen „verloren gehen“.

Jüngster Fall aus hiesiger Praxis:

Im Januar 2011 wird die Gehaltsbescheinigung vom Dezember 2010 eingereicht (mit Eingangstempel des Jobcenters belegbar). Mit Anhörungsschreiben im Juli 2011 – also rund ein halbes Jahr später (!) – beginnt das Jobcenter Kiel, die eingereichten Gehaltsnachweise zu prüfen und die Überzahlung zurückzufordern – verbunden mit dem Vorwurf, das Einkommen sei „nicht angezeigt“ worden. Die Frage zu stellen, wer hier nicht rechtzeitig tätig geworden ist, heißt, sie zu beantworten.

(4) Ist eine mit Widerspruch oder Anfechtungsklage angegriffene Aufrechnung bereits abgeschlossen, lässt diese Beendigung der Aufrechnung das Rechtsschutzbedürfnis für die Anfechtung nicht entfallen und der Leistungsträger muss im Fall der erfolgreichen Anfechtung den Aufrechnungsbetrag wieder auszahlen. Soweit das Bundessozialgericht in seinem Urteil vom 27.03.2007 (B 13 RJ 43/05 R) die Auffassung vertreten hat, die Beendigung einer Verrechnung führe zu einer Erledigung des die Verrechnung aussprechenden Verwaltungsaktes auf andere Weise im Sinne von § 39 Abs. 2 SGB X, ist dem nicht zu folgen. Eine Erledigung tritt solange nicht ein, wie von dem belastenden Verwaltungsakt noch Rechtswirkungen ausgehen, seine Aufhebung also zu einem rechtlichen Vorteil für den Adressaten führen würde. So liegt es bei Aufrechnungen ebenso wie bei Verrechnungen auch nach deren Beendigung, denn der die Aufrechnung erklärende Verwaltungsakt bildet den Rechtsgrund für das sog. „Behaltendürfen“ des nicht zur Auszahlung gelangten Teils der Sozialleistung (LSG BB, Urteil vom 25.11.2010, L 27 R 927/07; SG Kiel, Gerichtsbescheid vom 03.08.2012, S 34 AS 354/10, hiesiges Az. 203/12).

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt