Keine Eilbedürftigkeit bei ALG II anstatt Hilfe zum Lebensunterhalt
Veröffentlicht: 23. November 2022 Abgelegt unter: Eilverfahren Hinterlasse einen KommentarIn einem Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes fehlt es für das Begehren, anstelle von Arbeitslosengeld II Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt in gleicher Höhe zu erhalten, regelmäßig an der Eilbedürftigkeit.
Der Hilfebedürftige in diesem Verfahren bezog von der Landeshauptstadt Kiel Hilfe zum Lebensunterhalt. Nachdem Feststellungen zur Erwerbsfähigkeit des Hilfebedürftigen nicht getroffen werden konnten, stellte die Stadt die Leistungen zum 01.06.2022 ein und verwies den Hilfesuchenden an das Jobcenter Kiel. Da ihm auch das Jobcenter Kiel ab 01.06.2022 keine existenzsichernden Leistungen (ALG II) bewilligt hatte, wandte sich der Hilfebedürftige an das Sozialgericht Kiel mit dem Antrag, die Stadt vorläufig zu verpflichten, ihm weiter Hilfe zum Lebensunterhalt zu zahlen. Das Sozialgericht lud das Jobcenter Kiel dem Verfahren bei und verpflichtet dieses, dem Hilfebedürftigen ALG II zu gewähren. Hiergegen wandte sich der Hilfeempfänger mit seinem Antrag zum Landessozialgericht und begehrte weiter, von der Stadt Kiel Hilfe zum Lebensunterhalt zu erhalten. Zur Begründung trug er vor, als ALG II-Empfänger müsse er sich – anders als als Empfänger von Hilfe zum Lebensunterhalt – etwa auf Arbeitsangebote bewerben, eine Arbeit aufnehmen, Eingliederungsvereinbarungen unterschreiben bzw. die in einem ersetzenden Verwaltungsakt einseitig festgelegten Pflichten erfüllen, die sanktionsbewährt seien. Er befürchte, diesen Pflichten aus gesundheitlichen Gründen nicht nachkommen zu können. Die Sanktionsgefährdung begründe einen rechtlichen Nachteil, dessen Abwendung eilig sei.
Die Eilbedürftigkeit erkannte das Landessozialgericht nicht. Der Bedarf sei durch ALG II gedeckt. Auch die sanktionsbewährten Pflichten im ALG II-Bezug begründeten keine Eilbedürftigkeit. Gegen etwaige – nach Ansicht des Landessozialgerichts unwahrscheinliche – Maßnahmen des Jobcenters könne sich der Hilfebedürftige notfalls mit den Mitteln des einstweiligen Rechtschutzes wehren. Zudem gelte bis zum 01.07.2023 für die meisten Sanktionen wegen der Corona-Pandemie ein Sanktionsmoratorium, so dass aktuell außer bei Meldepflichtsverletzungen keine Sanktionen drohten.
Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, Beschluss vom 02.08.2022, L 9 SO 71/22 B ER
Erstveröffentlichung in HEMPELS 10/2022
Rechtsanwalt Helge Hildebrandt
Zur Durchsetzung der Förderung einer Ausbildung im Eilverfahren
Veröffentlicht: 1. November 2021 Abgelegt unter: Ausbildung, Eilverfahren, Eingliederungsleistungen, Rente, Umschulung Hinterlasse einen KommentarIm Regelfall kann ein Anspruch auf Förderung einer Ausbildung als Leistung zur Teilhabe gegen die gesetzliche Rentenversicherung (DRV) nicht im einstweiligen Rechtsschutzverfahren durchgesetzt werden.
Im Sozialrecht ist es möglich, einen Sozialleistungsträger durch ein Sozialgericht zu einer vorläufigen Leistungserbringung verpflichten zu lassen. Voraussetzung hierfür ist, dass dem Leistungsberechtigten durch das Abwarten einer Entscheidung im normalen Klageverfahren aufgrund der langen Verfahrenszeiten schwere und unzumutbare Nachteile entstehen würden.
In vorliegendem Fall hatte eine Versicherte einen Anspruch auf Förderung einer Ausbildung zur Ergotherapeutin als Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben (§ 16 SGB VI i.V.m. §§ 33 bis 38 SGB IX) gegenüber der DRV im gerichtlichen Eilverfahren verfolgt. Zur Begründung der besonderen Eilbedürftigkeit hatte sie vorgetragen, dass sie demnächst auf Hartz IV angewiesen sei, weil ihr Arbeitslosengeldanspruch auslaufe. Ihre hohe Miete würde dann absehbar vom Jobcenter nicht anerkannt. Sie fühle sich deswegen in ihrer Existenz bedroht.
Hierin sah das Gericht indessen keine schweren und unzumutbaren Nachteile. Der mögliche Hartz-IV-Bezug sowie ein mögliches Kostensenkungsverfahren würde nämlich erst Ende 2021 Wirkung entfalten. Zudem seien im Teilhaberecht viele Betroffene wegen gesundheitlicher Einschränkungen nicht mehr erwerbstätig und auch auf Hartz IV angewiesen. Mit dem Ausnahmecharakter vorläufiger Regelungen sei es aber nicht vereinbar, regelmäßig und automatisch Leistungen im einstweiligen Rechtsschutzverfahren zuzusprechen. Der Eilantrag wurde deswegen abgelehnt.
Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, Beschluss vom 12.05.2021, L 1 R 50/21 B ER
Erstveröffentlichung in HEMPELS 10/2021
Rechtsanwalt Helge Hildebrandt
Es eilt nicht erst bei einer Räumungsklage
Veröffentlicht: 1. Juni 2020 Abgelegt unter: Eilverfahren, Kosten der Unterkunft, Mietschulden, Obdachlose, Schulden Hinterlasse einen KommentarDie Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit haben in einstweiligen Rechtsschutzverfahren unter anderem zu prüfen, ob die notwendige Eilbedürftigkeit für eine vorläufige Leistungsgewährung vorliegt. Wenn Jobcenter Leistungen für die Unterkunft gar nicht oder nicht in der tatsächlichen Höhe gewährten, haben viele Sozial- und Landessozialgerichte in der Vergangenheit die für einen erfolgreichen Eilantrag notwendige Eilbedürftigkeit pauschal davon abhängig gemacht, ob der Vermieter bereits eine Räumungsklage erhoben hatte. Andernfalls drohe keine Wohnungs- oder Obdachlosigkeit, die zu vermeiden der einzige Zweck unterkunftsichernder Leistungen sei.
Diese Rechtsprechung, die in erheblichem Umfange zu Räumungsklagen und folgender Obdachlosigkeit von Leistungsberechtigten geführt hat, hat das BVerfG bereits im Jahr 2017 für mit dem in Art. 19 Abs. 4 GG garantierten Recht auf einen effektiven gerichtlichen Rechtsschutz unvereinbar erklärt. Relevante Nachteile sind nämlich, so das Bundesverfassungsgericht, nicht nur Wohnungs- oder Obdachlosigkeit. Die Regelung zu den Kosten der Unterkunft in § 22 SGB II soll nicht nur die bloße Obdachlosigkeit verhindern, sondern darüber hinaus auch das Existenzminimum sichern, wozu es gehört, möglichst in der gewählten Wohnung zu bleiben. Daher muss bei der Prüfung des Anordnungsgrundes berücksichtigt werden, welche negativen Folgen finanzieller, sozialer, gesundheitlicher oder sonstiger Art ein Verlust gerade der konkreten Wohnung für den Leistungsberechtigten hätte.
BVerfG, Beschluss vom 01.08.2017, 1 BvR 1910/12
Erstveröffentlichung in HEMPELS 04/2020
Rechtsanwalt Helge Hildebrandt
Wie Jobcenter gerichtliche Eilverfahren vermeiden können – und wie nicht!
Veröffentlicht: 6. November 2018 Abgelegt unter: Eilverfahren, Jobcenter Kiel 4 KommentareVor der Inanspruchnahme gerichtlichen Eilrechtsschutzes ist Behörden die Möglichkeit zu geben, ihr Verwaltungshandeln zu überprüfen und gegebenenfalls zu korrigieren. Hierzu ist den Sozialbehörden eine angemessene Frist zu gewähren, die – je nach Sachverhalt und Eilbedürftigkeit – zwischen einem halben Werktag (Sozialgericht Schleswig, Beschluss vom 07.11.2007, S 7 AS 770/07 ER) und zwei Wochen liegen kann.
Möchten Behörden Eilverfahren vermeiden, empfiehlt es sich für diese, sich innerhalb der gesetzten Frist wenigstens bei den Bevollmächtigten zu melden – und sei es nur, um eine Fristverlängerung zu erwirken. Das sollten die Sachbearbeiter der Grundsicherungsträger – wenn sie denn schon das Telefon benutzen möchten – sinnvoller Weise aber nicht mit unterdrücken Rufnummern und ohne eine Nachricht auf etwaigen Anrufbeantwortern machen. Denn dann – oh Wunder – erreicht die Nachricht die Bevollmächtigten nicht mit der Folge, dass die Grundsicherungsträger die Kosten sozialgerichtlicher Eilverfahren zu tragen haben:
„Die offenbar zuvor an diesem Tag mit unterdrückter Rufnummer und ohne das Hinterlassen einer Nachricht auf dem Anrufbeantworter des Prozessbevollmächtigten unternommenen telefonischen Kontaktversuche des Antragsgegners haben den Prozessbevollmächtigten nach seinem nachvollziehbaren Vortrag nicht erreicht. Die Kammer geht davon aus, dass es bei diesem Hergang nach dem Veranlassungsprinzip der Antragsgegner allein zu vertreten hat, dass ein gerichtliches Eilverfahren angestrengt wurde.“ (SG Kiel, Kostenbeschluss vom 05.11.2018, S 41 AS 276/18 ER)
Rechtsanwalt Helge Hildebrandt
Erhöhte Anforderungen an die Eilbedürftigkeit bei bestandskräftig gewordenen Sanktionsbescheiden
Veröffentlicht: 27. März 2013 Abgelegt unter: Eilverfahren, Sanktionen | Tags: SG Kiel Beschluss vom 27.03.2013 S 30 AS 80/13 ER Ein KommentarWird ein belastender Bescheid wie etwa ein Sanktionsbescheid nach §§ 31 ff. SGB II bestandskräftig, weil innerhalb der Widerspruchsfrist kein Widerspruch erhoben wurde, und gelangt der Bezieher von ALG II erst danach – etwa aufgrund einer fachkundigen Beratung – zu dem Ergebnis, dass der Bescheid rechtswidrig ist, so kann der Bescheid nach § 44 SGB X einer Überprüfung unterzogen werden. Gleichzeitig kann im Wege einer Regelungsanordnung nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG bei dem örtlich zuständigen Sozialgericht um einstweiligen Rechtsschutz nachgesucht werden. Das Gericht wird sodann prüfen, ob eine Anordnungsgrund (Eilbedürftigkeit) und ein Anordnungsanspruch (rechtlicher Anspruch auf die begehrte Maßnahme) vorliegen.
Genügt für die Eilbedürftigkeit im Regelfall eine Bedarfsunterdeckung von mindestens 10 % der maßgeblichen Regelleistungen – bei einer alleinstehenden Person mit einem Regelbedarf von 382,00 € also eine Bedarfsunterdeckung in Höhe von 38,20 € -, so sind nach Auffassung vieler Gerichte bei einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach Stellung eines Antrages auf Überprüfung eines bestandskräftigen Bescheides nach § 77 SGG besonders strenge Anforderungen an die Glaubhaftmachung des Anordnungsgrundes zu stellen.
In einem aktuellen Eilverfahren hat das SG Kiel (Beschluss vom 27.03.2013, S 30 AS 80/13 ER) zu dieser Frage ausgeführt:
„Erforderlich wäre insofern, dass massive Eingriffe in die soziale und wirtschaftliche Existenz mit erheblichen Auswirkungen auf die Lebensverhältnisse dargelegt werden. Für deren Vorliegen bestehen hier keine Anhaltspunkte. Streitgegenstand ist der Zeitraum vom 15.03.2013 bis zum 31.03.2013. Die Minderung betrug für den gesamten Monat März € 122,20 und beträgt damit für den streitgegenständlichen Zeitraum ungefähr die Hälfte dieses Betrages. Die Antragstellerin hat zwar eine sanktionsfreie Gewährung ab Antragsteilung bis zu einem vom Gericht zu bestimmenden Zeitraum beantragt. Allerdings endet die Minderung laut Bescheid ohnehin mit Wirkung ab dem 01.04.2013, so dass allein diese Tage im März im Streit stehen. Die Minderungshöhe ist nicht derart hoch, dass die wirtschaftliche Existenz der Antragstellerin gefährdet scheint. Auch ansonsten sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass die finanziellen Einbußen mit fortwirkenden Auswirkungen für die Antragstellerin sind. Hierfür ist der Gesamtbetrag, der über das Verfahren auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes zugesprochen werden könnte, deutlich zu gering. Es wäre der Antragstellerin unbenommen gewesen, bereits im Dezember 2012 Widerspruch gegen den Bescheid einzulegen und ein gerichtliches Eilverfahren zu einem früheren Zeitpunkt anhängig zu machen. Da sie dies nicht getan hat, hat sich der Maßstab für die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes modifiziert und die wirtschaftliche Bedeutung reduziert.“
Beurteilung und Hinweise für Betroffene
Die unterschiedlichen Maßstäbe bei der Beurteilung des Vorliegens eines Anordnungsgrundes je nachdem, ob der inkriminierte Bescheid in Bestandskraft erwachsen ist oder nicht, ergeben sich jedenfalls nicht unmittelbar aus dem Gesetz. Häufig wird die Hinnahme eines (rechtswidrigen) belastenden Bescheides ihren Grund in dem Vertrauen des Leistungsberechtigten auf die Rechtmäßigkeit behördlichen Verwaltungshandelns sowie der zunächst nicht stattgehabten rechtlichen Beratung haben. Zum Vorwurf wird man dies dem Leistungsberechtigten sicherlich nicht machen können, so dass der Hinweis auf die Möglichkeit der rechtzeitigen Widerspruchseinlegung zwar nicht unzutreffend, aber eben auch kein ganz überzeugendes Argument für das Anlegen unterschiedlicher Maßstäbe bei der Beurteilung eines Anordnungsgrundes ist.
Da diese Rechtsprechung akzeptiert werden muss, ist Adressaten belastender Bescheide wie etwa Sanktionsbescheiden dringlichst zu raten, diese sofort und erforderlichenfalls auch unter Zuhilfenahme fachkundigen Rates prüfen zu lassen. Bei Zweifeln an der Rechtmäßigkeit eines Minderungsbescheides sollte gegen diesen innerhalb der Monatsfrist Widerspruch erhoben und – da der Widerspruch gegen einen Sanktionsbescheid nach § 39 Nr. 1 SGB II keine aufschiebende Wirkung hat – gegebenenfalls nach Ablauf einer angemessenen Abhilfefrist ein Eilantrag nach § 86b Abs. 2 SGG bei dem örtlich zuständigen Sozialgericht gestellt werden.
Rechtsanwalt Helge Hildebrandt
Zur Kostentragungspflicht des „Veranlassers“ eines Gerichtsverfahrens
Veröffentlicht: 28. März 2012 Abgelegt unter: Eilverfahren, RA-Kosten | Tags: Kostentragungsgpflicht Jobcenter, Kostentragungspflicht des Veranlassers, Kostentragungspflicht Jobcenter in Eilverfahren Hinterlasse einen KommentarErlässt das Jobcenter einen Änderungsbescheid, aus dem sich die Minderung des Leistungsanspruches ergibt, sind aber die Sanktions- bzw. Minderungsbescheide mangels Zuganges beim Leistungsberechtigten nicht wirksam geworden und wird deswegen gegen den Änderungsbescheid Widerspruch erhoben und weist das Jobcenter den Widerspruch allein mit der Begründung zurück, der Änderungsbescheid enthalte keine „Verfügung“, ohne auf die nicht versandten Sanktionsbescheide hinzuweisen, so hat das Jobcenter nach dem „Veranlasserprinzip“ die Kosten eines sich anschließenden sozialgerichtlichen Eilverfahrens zu tragen.
SG Kiel, Beschluss vom 27.03.2012, S 37 AS 77/12 ER
Hinweis: Voraussetzung der Meldepflicht nach § 59 SGB II i.V.m. §§ 309, 310 SGB III ist eine entsprechende Aufforderung des Trägers der Grundsicherung, vgl. § 309 Abs. 2 SGB III. Die Aufforderung ist ein Verwaltungsakt (Birk in LPK-SGB II, 4. Aufl. 2011, § 59 Rn. 2) und muss dem Aufzufordernden zu dessen Wirksamkeit bekanntgegeben werden, §§ 37, 39 Abs. 1 SGB X. Im Zweifel hat die Behörde den Zugang nachzuweisen, § 37 Abs. 2 Satz 2, 2. Halbsatz SGB X. |
Rechtsanwalt Helge Hildebrandt
Leistungen im Beschwerdeverfahren erst ab Entscheidung des Beschwerdegerichts!
Veröffentlicht: 2. November 2011 Abgelegt unter: Eilverfahren | Tags: Beschwerdewert LSG, Leistungen im sozialgerichtlichen Eilverfahren ab Antragseingang, Leistungen im sozialgerichtlichen Eilverfahren erst ab Entscheidung des Gerichts, Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht Beschluss vom 01.03.2011 L 11 AR 6/11 AS ER, Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht Beschluss vom 12.01.2011 L 11 AR 2/11 AS ER, Sozialgerichtliches Eilverfahren 2 KommentareIn stattgebenden Beschlüssen in Eilverfahren vor den Sozialgerichten werden in Vornahmesachen (einstweilige Anordnungen nach § 86b Abs. 2 SGG) grundsätzliche keine Leistungen für die Vergangenheit zugesprochen. Begründet wird dies in der Regel damit, dass einstweilige Anordnungen lediglich aktuelle Notlagen abwenden sollen (Ausnahme bei Mietrückständen nach § 22 Abs. 8 SGB II).
Leistungen im sozialgerichtlichen Eilverfahren erst ab Antragseingang bei Gericht
Aus diesem Grunde werden Sozialleistungen regelmäßig erst ab Eingang des Eilantrages bei Gericht zugesprochen. Der Anordnungszeitraum (Zeitraum, für den der Sozialleistungsträger zur Leistung verpflichtet wird) wird von den Gerichten unterschiedlich bestimmt: Teilweise wird der Anordnungszeitraum auf 4 Monate bestimmt, manchmal wird aus Gründen der Praktikabilität bei Leistungen nach dem SGB II der Bewilligungszeitraum von maximal 6 Monaten gewählt und in seltenen – hier aus der Praxis nicht bekannten – Fällen soll von Sozialgerichten auch eine einstweilige Anordnung bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache (Klageverfahren) ausgesprochen worden sein.
Beschwerde nur bei Erreichen des Beschwerdewertes zulässig
Wird ein Antrag im einstweiligen Rechtschutz abgelehnt, kann unter den Voraussetzungen der §§ 172, 144 SGG gegen die Entscheidung des Sozialgerichts Beschwerde beim zuständigen Landessozialgericht (LSG) binnen eines Monats erhoben werden. Voraussetzung ist, dass der Beschwerdewert – also der Wert des Anspruches, um den gestritten wird – 750 € übersteigt oder Leistungen für einen Zeitraum von mehr als einem Jahr beantragt werden. Wird der Beschwerdewert nicht erreicht, kommt es darauf an, ob die Berufung in der Hauptsache zuzulassen wäre. Allerdings wird überwiegend – und so auch vom Schleswig-Holsteinischen LSG – die Auffassung vertreten, dass eine solche Prüfung nicht erfolgen kann, so dass eine Beschwerde bei Nichterreichen des Beschwerdewertes nicht möglich ist.
Hinweis: Um in Fällen mit geringem Streitwert doch eine Beschwerdemöglichkeit zu bekommen, besteht aufgrund der – hier allerdings für verfehlt erachteten – Rechtsprechung auch der schleswig-holsteinischen Sozialgerichte nur die Möglichkeit, den Anspruch ausdrücklich für einen Zeitraum von mehr als einem Jahr geltend zu machen oder etwa höhere Sozialleistungen zu beantragen, als „eigentlich“ begehrt werden. Diese Vorgehensweise führt zwar dazu, dass der Beschwerde in der Sache jedenfalls hinsichtlich des „mehr“ beantragten Teils der Leistungen – z.B. ALG II für 13 Monate – kein Erfolg beschieden wird. Angesichts der Dauer der Hauptsacheverfahren vor derzeit 3 bis 4 Jahren ist eine solche Antragstellung aber nicht rechtsmissbräuchlich (wie hier Conradis in LPK-SGB II, 4. Aufl. 2011, Anhang Verfahren, Rn. 131; zur Verletzung des Grundrechts auf effektiven Rechtsschutz durch überlange Verfahrenszeiten an Sozialgerichten etwa BVerfG Beschluss vom 27.09.2011 – 1 BvR 232/11 -; 14.12.2010 – 1 BvR 404/10 -; 24.08.2010, – 1 BvR 331/10 -). |
SH LSG: Leistungen im Eilverfahren erst ab Entscheidung des SG bzw. LSG
Das Schleswig-Holsteinische LSG vertritt in ständiger Rechtsprechung die Auffassung, dass im Eilverfahren Leistungen erst ab dem Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts zuzusprechen sind. Hierzu hat das Schleswig-Holsteinische LSG etwa in seinem Beschluss vom 01.03.2011, L 11 AR 6/11 AS ER ausgeführt:
“Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Beschlusses des Sozialgerichts Kiel vom 24. Januar 2011 ergeben sich insoweit, als der Antragsgegner zur Leistung ab dem 21. Dezember 2010 verpflichtet worden ist. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung soll eine gegenwärtige, konkrete Notlage abwenden. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung einer Notlage ist derjenige der aktuellen gerichtlichen Entscheidung (Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, Beschluss vom 1. November 2010 — L 11 AS 158/10 B ER -‚ vom 12. Januar 2011 – L 11 AR 2/11 AS ER u. L 11 AR 2/11 AS ER PKH -). Nach der Rechtsprechung des für das Beschwerdeverfahren des Antragstellers zuständigen 11. Senats des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts sind Leistungen nicht generell ab Antragseingang bei Gericht zuzusprechen, sondern in der Regel erst ab dem Zeitpunkt der Entscheidung des Sozialgerichts. Abweichend davon können für die Vergangenheit nur Leistungen zugesprochen werden, wenn eine frühere Notlage noch fortwirkt (Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, Beschluss vom 29. Dezember 2010 – L 11 AS 191/10 B ER -‚ vom 12. Januar 2011 – L 11 AR 2/11 AS ER – u. L 11 AR 2/11 AS ER PKH -). Dererlei ist hier nicht dargelegt worden; eine aus der Vergangenheit fortwirkende Notlage ist daher nicht anzunehmen.”
Dies bedeutet:
1) Bei stattgebenden Beschlüssen des SG, gegen die das Jobcenter in die Beschwerde geht, spricht das LSG – selbst wenn es dem SG in der Sache folgt – Leistungen erst ab dem Tag der Entscheidung des SG zu.
2) Bei ablehnenden Beschlüssen des SG, gegen die der Leistungsberechtigte in die Beschwerde geht, spricht das LSG – wenn es den Beschluss des SG aufhebt und dem Antrag stattgibt – Leistungen erst ab dem Tag der Entscheidung des LSG zu.
3) Für „die Vergangenheit“ – d.h. Zeiträume vor der Entscheidung des Gerichts – können Leistungen nur zugesprochen werden, wenn eine „frühere Notlage noch fortwirkt“. In Fällen der Nichtgewährung existenzsichernder Leistungen wird dies häufig der Fall sein und sollte daher in Beschwerdeverfahren vor dem Schleswig-Holsteinischen LSG stets vorgetragen und nachgewiesen werden.
a) Unklar ist, ob bereits aufgelaufene Schulden nach Auffassung des SH LSG eine rückwirkende Verpflichtung zur Leistungserbringung ermöglichen. Dafür sprechen Hinweise des Gerichts im Beschluss vom 12.01.2011, L 11 AR 2/11 AS ER. Das Gericht hat hier auf Seite 4 unten ausgeführt: „Abweichend hiervon können für die Vergangenheit nur Leistungen zugesprochen werden, wenn eine frühere Notlage noch fortwirkt. Das ist hier gerade nicht der Fall. Das Sozialgericht Kiel hat selbst ermittelt, dass die Antragsgegnerin bis zum Entscheidungszeitpunkt die Kranken- und Pflegeversicherung vollständig gezahlt hat. Eine aus der Vergangenheit fortwirkende Notlage war somit nicht gegeben.“ Im Umkehrschluss könnte sich ergeben, dass – hätte die Beschwerdegegnerin ihre Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge nicht bezahlt und wären deswegen Schulden entstanden – die „frühere Notlage noch fortwirkt.“
b) M.E. begründen jedenfalls aufgrund in der Vergangenheit nicht erbrachter Leistungen fortlaufend weiter auflaufende Schulden – etwa durch Vollstreckungsmaßnahmen entstehende Vollstreckungskosten – eine „fortwirkende Notlage“. In diesem Zusammenhang hat das SH LSG die von mir im Verfahren L 11 AR 2/11 AS ER vertretene Auffassung zum Verweis des Jobcenters Kiel auf „weiteres Schuldenmachen“ geteilt und zutreffend ausgeführt (Seite 5 f.) :
„Aus dieser Leistungsverpflichtung können sie [Anm.: die Kostenträger] sich nicht mit dem Hinweis auf § 193 Abs. 6 Satz 5 VVG befreien und somit dem Versicherungsnehmer zumuten, während der Dauer des Leistungsbezuges nach dem SGB II gegenüber der Versicherung Schulden auflaufen zu lassen. Die Leistungen nach dem SGB II sind so bemessen, dass gerade noch das soziokulturelle Existenzminimum abgesichert wird. Der diesbezügliche Bedarf soll befriedigt werden können, ohne dass – bei sparsamer Lebensweise – eine Aufhäufung von Schulden droht.
Schulden können zudem eine Wiedereingliederung in Arbeit behindern. Daher besagt § 16a Nr. 2 SGB II, dass zu den kommunalen Eingliederungsleistungen auch die Schuldnerberatung gehört. Kostenträger nach dem SGB II sind daher gehalten, Schulden der Leistungsbezieher zu vermeiden und abzubauen, ein Verweis auf bewussten Schuldenaufbau lasst sich damit nicht vereinbaren.
Im Übrigen droht das Ruhen der Versicherungsleistungen nach § 193 Abs. 6 VVG, sobald eine Wiedereingliederung in Arbeit erfolgt und die Leistungen nach dem SGB II eingestellt werden. In einem solchen Fall, wenn dann während des Leistungsbezugs nach dem SGB II erhebliche Schulden bei dem Krankenversicherer aufgelaufen sind, ist es dem Betroffenen in der Regel nicht möglich, eine aufgelaufene, möglicherweise erhebliche Schuldenlast abzutragen mit der Folge, dass nunmehr das Ruhen der Versicherungsleistung festgestellt wird. Diese Gründe rechtfertigen es, auch im Falle der Antragsgegnerin die Vollstreckung aus dem Beschluss vom 22. Dezember 2010 ab diesem Datum zuzulassen.“
Kritik
Die Rechtsprechung des SH LSG ist hinsichtlich der Bestimmung des Zeitpunktes, ab dem Grundsicherungsleistungen zuzusprechen sein sollen, abzulehnen. Die Rechtsprechung des SH LSG hat gravierende negative Konsequenzen für den Rechtsschutz von Sozialleistungsbeziehern in Schleswig-Holstein:
– Aufgrund der überlangen Verfahrenszeiten auch vor dem Schleswig-Holsteinischen LSG kommt es in einer Vielzahl von Verfahren gar nicht mehr zu einer Entscheidung des LSG in der Sache, weil die „Dringlichkeit“ für das Eilverfahren durch Zeitablauf entfällt.
– Hat ein Rechtsschutzbegehren erst in der Beschwerdeinstanz Erfolg, so sind existenzsichernde Leistungen etwa nach dem SGB II oder SGB XII oder Krankenversicherungsleistungen erst ab dem Tag des Beschlusses des LSG zu erbringen. Aufgrund der überaus langen Verfahrenszeiten auch in Eilverfahren von rund 3 Monaten bis zu einer Entscheidung des LSG können so Bedarfslücken entstehen, die aus Sozialleistungen in der Regel nicht mehr zu „stopfen“ sind. Überschuldung durch weitere Kosten wie Zwangsräumungsverfahren, Kontokündigungen, Stromsperren, Mahn- und Inkassoanwaltskosten sowie damit einhergehend erhebliche Existenzängste mit zum Teil schweren gesundheitlichen Folgen sind eine hier häufig beobachtete Folge dieser Rechtsprechung. Die aufgezeigten Folgen verschärfen sich, wenn nach Ablauf des Anordnungszeitraumes gegebenenfalls erneut durch zwei Instanzen um existenzsichernde Leistungen gestritten werden muss und dadurch erneut „Bedarfslücken“ entstehen.
– Erscheint es noch vertretbar, wenn das Gericht in stattgebenden Beschlüssen Leistungen ab dem Zeitpunkt des Einganges des Eilantrages bei Gericht zuspricht, weil – jedenfalls der aufgeklärte – Antragsteller die Bestimmung dieses Zeitpunktes selbst in der Hand hat, so ist es nach hiesiger Auffassung nicht mehr vertretbar, den Zeitpunkt der Leistungsverpflichtung von dem Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts und damit davon abhängig zu machen, wie schnell oder langsam das Beschwerdegericht arbeitet, etwa weil der zuständige Senat überlastet ist, gerade Urlaubszeit ist oder ein hoher Krankenstand die Arbeit des Gerichts entschleunigt.
– Aufgrund der Rechtsprechung des Schleswig-Holsteinischen LSG liegt nach hier vertretener Auffassung nach der Ablehnung eines Eilantrages durch das zuständige Sozialgericht (SG) und erhobener Beschwerde beim LSG trotz eingelegten Rechtsmittels ein Rechtsschutzbedürfnis für einen neuerlichen Eilantrag beim SG vor, weil das SG – anders als das LSG – (noch) Leistungen ab Antragseingang zuspricht. Aus anwaltlicher Sicht muss deswegen zur Rechtswahrung der Mandanten zur Stellung eines neuerlichen Eilantrags beim SG geraten werden.
Rechtsanwalt Helge Hildebrandt