Arbeitsplatzaufgabe im Ausland vor Rückzug nach Deutschland nicht sozialwidrig
Veröffentlicht: 1. Dezember 2019 Abgelegt unter: Sanktionen, Umzug | Tags: § 34 SGB II Kündigung Arbeitsverhältnis, § 34 SGB II Rückzug nach Deutschland, § 34 SGB II sozialwidrig, BSG Urteil vom 29.08.2019 B 14 AS 50/18 R Hinterlasse einen Kommentar
(c) Kurt F. Domnik / pixelio.de
Gemäß § 34 SGB II ist derjenige, der vorsätzlich oder grob fahrlässig die Voraussetzungen für einen ALG-II-Anspruch ohne wichtigen Grund herbeiführt, zum Ersatz des deswegen gezahlten ALG II verpflichtet. In dem vom BSG entschiedenen Fall war eine Familie mit deutscher Staatsbürgerschaft unter Kündigung ihrer Arbeitsverhältnisse in Polen nach Deutschland gezogen. Das Jobcenter stellte mit sogenannten Grundlagenbescheiden fest, die Eheleute hätten durch die Aufgabe ihrer Arbeitsplätze zum Zwecke der Einreise nach Deutschland „sozialwidrig“ gehandelt und sie zum Ersatz des an sie ausgezahlten ALG II verpflichtet. Denn sie hätten sich von Polen aus um neue Arbeitsstellen in Deutschland bemühen können. Mit darauffolgenden sogenannten Leistungsbescheiden setzte das Jobcenter Ersatzansprüche in Höhe von rund 32.000 Euro gegen die Familie fest.
Hatte das SG die Klage der Familie gegen die Grundlagenbescheide noch abgewiesen, gab das LSG der Familie Recht: Ihr Verhalten sei vom Grundrecht auf Freizügigkeit nach Art. 11 Abs. 1 GG gedeckt. Das BSG bestätigte diese Entscheidung. Die Familie habe bereits nicht „sozialwidrig“ gehandelt. § 34 SGB II erfordere eine nach den Wertungen des SGB II besonders zu missbilligende Verhaltensweise. Eine solche liege nicht vor, wenn deutsche Staatsangehörige eine im Ausland ausgeübte Beschäftigung aufgeben und mit ihren Kindern nach Deutschland ziehen, ohne sich zuvor um eine Existenzgrundlage im Bundesgebiet bemüht zu haben.
(BSG, Urteil vom 29.08.2019, B 14 AS 50/18 R)
Erstveröffentlichung in HEMPELS 11/2019
Rechtsanwalt Helge Hildebrandt
80.000 Kinder waren Ende 2018 von Hartz-IV-Sanktionen betroffen
Veröffentlicht: 21. November 2019 Abgelegt unter: Sanktionen Hinterlasse einen Kommentar
(c) Günter Havlena / pixelio.de
Wie aus einer Antwort des Bundesarbeitsministeriums vom 13.11.2019 auf eine Anfrage der Fraktion Die Linke im Deutschen Bundestag hervorgeht, gab es im Dezember 2018 rund 123.600 Bedarfsgemeinschaften, in denen mindestens ein erwerbsfähiger Leistungsberechtigter mit mindestens einer Sanktion belegt war. Rund 79.900 minderjährige Kinder waren in ihrem Familien von den Sanktionen mit betroffen. Bei 5.300 minderjährigen Kindern war ein Elternteil voll sanktioniert, d.h. einer der Eltern bekam gar keine Regelleistungen.
Rechtsanwalt Helge Hildebrandt
Sanktionen zur Durchsetzung von Mitwirkungspflichten bei Bezug von Arbeitslosengeld II teilweise verfassungswidrig
Veröffentlicht: 5. November 2019 Abgelegt unter: Sanktionen 29 KommentarePressemitteilung Nr. 74/2019 vom 5. November 2019
Urteil vom 05. November 2019
1 BvL 7/16
Der Gesetzgeber kann die Inanspruchnahme existenzsichernder Leistungen an den Nachranggrundsatz binden, solche Leistungen also nur dann gewähren, wenn Menschen ihre Existenz nicht selbst sichern können. Er kann erwerbsfähigen Bezieherinnen und Beziehern von Arbeitslosengeld II auch zumutbare Mitwirkungspflichten zur Überwindung der eigenen Bedürftigkeit auferlegen, und darf die Verletzung solcher Pflichten sanktionieren, indem er vorübergehend staatliche Leistungen entzieht. Aufgrund der dadurch entstehenden außerordentlichen Belastung gelten hierfür allerdings strenge Anforderungen der Verhältnismäßigkeit; der sonst weite Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers ist hier beschränkt. Je länger die Regelungen in Kraft sind und der Gesetzgeber damit deren Wirkungen fundiert einschätzen kann, desto weniger darf er sich allein auf Annahmen stützen. Auch muss es den Betroffenen möglich sein, in zumutbarer Weise die Voraussetzungen dafür zu schaffen, die Leistung nach einer Minderung wieder zu erhalten.
Mit dieser Begründung hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts mit heute verkündetem Urteil zwar die Höhe einer Leistungsminderung von 30 % des maßgebenden Regelbedarfs bei Verletzung bestimmter Mitwirkungspflichten nicht beanstandet. Allerdings hat er auf Grundlage der derzeitigen Erkenntnisse die Sanktionen für mit dem Grundgesetz unvereinbar erklärt, soweit die Minderung nach wiederholten Pflichtverletzungen innerhalb eines Jahres die Höhe von 30 % des maßgebenden Regelbedarfs übersteigt oder gar zu einem vollständigen Wegfall der Leistungen führt. Mit dem Grundgesetz unvereinbar sind die Sanktionen zudem, soweit der Regelbedarf bei einer Pflichtverletzung auch im Fall außergewöhnlicher Härten zwingend zu mindern ist und soweit für alle Leistungsminderungen eine starre Dauer von drei Monaten vorgegeben wird. Der Senat hat die Vorschriften mit entsprechenden Maßgaben bis zu einer Neuregelung für weiter anwendbar erklärt. Den Rest des Beitrags lesen »
Keine vorläufige Minderung von ALG II bei möglicher Sperrzeit
Veröffentlicht: 1. November 2017 Abgelegt unter: Jobcenter Kreis Rendsburg-Eckernförde, Sanktionen Ein Kommentar
(c) Gerd Altmann / pixelio.de
Prüft die Bundesagentur für Arbeit den Eintritt einer Sperrzeit wegen Arbeitsplatzaufgabe ohne „wichtigen Grund“ und beantragt der Arbeitslose deswegen zunächst ALG II, darf das Jobcenter Leistungen nach dem SGB II nicht nach § 31 Abs. 2 Nr. 3 SGB II über § 41 a Abs. 1 Satz 1 SGB II mit der Begründung vorläufig um 30 % mindern, es bestehe die Möglichkeit, dass der Arbeitslose bei vollem ALG I nicht hilfebedürftig sein könnte und bei einem Anspruch auf ergänzendes ALG II (zum ALG I) die Anspruchshöhe noch nicht klar sei.
Nach Auffassung des Sozialgerichts Schleswig lässt die Rechtsauffassung des beklagten Jobcenters „ein grundsätzliches falsches Verständnis“ der Regelung zur vorläufigen Leistungsbewilligung erkennen. Die Möglichkeit zur vorläufigen Leistungsbewilligung solle gerade bewirken, dass ein Leistungsberechtigter bereits Leistungen erhalten kann, obwohl Grund und Höhe seines Anspruches noch nicht mit Sicherheit feststellbar sind. Die Zeit, die der Leistungsträger für die zur Feststellung des Anspruches bzw. der Anspruchshöhe erforderlichen Ermittlungen benötigt, soll dabei nicht zu Lasten des Leistungsberechtigten gehen. Mit diesem Gesetzeszweck ist es nicht vereinbar, dass ein Leistungsträger – hier das Jobcenter – im Rahmen einer vorläufigen Bewilligungsentscheidung zu Lasten des Hartz-IV-Empfängers davon ausgeht, dass ein Sanktionstatbestand erfüllt ist, ohne das bislang feststeht, ob die Sanktionsvoraussetzungen tatsächlich vorliegen. Eine solche Handhabung laufe „dem Gesetzeszweck diametral zuwider“. Die Leistungen waren vorläufig ungemindert zu gewähren.
SG Schleswig, Beschluss vom 11.05.2017, S 2 AS 57/17 ER
Erstveröffentlichung in HEMPELS 10/2017
Rechtsanwalt Helge Hildebrandt
Bürgerbeauftragte: Hartz IV-Reform völlig unzureichend
Veröffentlicht: 21. Juli 2016 Abgelegt unter: Landtag, Sanktionen, Sonstiges 5 KommentareDie Bürgerbeauftragte für soziale Angelegenheiten, Samiah El Samadoni, zeigt sich enttäuscht von der jetzt beschlossenen SGB II-Änderung. „Die Gesetzesänderung enthält zwar einzelne positive Punkte. Unbefriedigend ist aber, dass trotz vieler konstruktiver Vorschläge so wenig umgesetzt wurde. Damit ist auch das Hauptanliegen dieser Reform, das Recht zu vereinfachen, nicht erfüllt worden“, sagte die Bürgerbeauftragte heute (Donnerstag) in Kiel.
Der Bundesrat hat am 8. Juli 2016 dem 9. Änderungsgesetz SGB II zugestimmt. Mit dem Gesetzentwurf sollten zahlreiche Regelungen des SGB II vereinfacht und neu strukturiert werden. „Leider bringt auch die jetzt beschlossene Gesetzesänderung des SGB II nicht die von Vielen geforderten Verbesserungen und Vereinfachungen, weder für die Bürger noch für die Verwaltung“, kritisierte El Samadoni. „Stattdessen wird das Gesetz zum Nachteil der Leistungsempfänger verschärft und zudem noch bürokratischer durch zusätzliche komplizierte Regelungen.“
Der Bewilligungszeitraum wird zwar auf 12 Monate verlängert und die Gesamtangemessenheitsgrenze bei den Kosten für Unterkunft und Heizung eingeführt, wie die Bürgerbeauftragte forderte. Das schafft mehr Flexibilität bei der Wahl der Wohnung und insbesondere können höhere Bruttokaltmieten zum Beispiel bei energetisch saniertem Wohnraum durch geringere Heizkosten ausgeglichen werden. Aber grundlegende Probleme und Themen wie die Sanktionen für unter 25-Jährige und die Verpflichtung, eine vorzeitige Altersrente mit Abschlägen ab dem 63. Lebensjahr in Anspruch zu nehmen, bleiben trotz verfassungsmäßiger Bedenken bestehen. El Samadoni fordert weiterhin, dass diese Regelungen abgeschafft werden.
Auch die Probleme im Zusammenhang mit der sogenannten temporären Bedarfsgemeinschaft wurden nicht gelöst. Diese entsteht, wenn getrennt lebende Eltern abwechselnd das Umgangsrecht mit ihren Kindern ausüben. Die temporäre Bedarfsgemeinschaft ist bisher nicht im Gesetz geregelt, sondern ein Konstrukt der Rechtsprechung. Sie besteht für die Zeit des Aufenthalts beim anderen Elternteil. Bezieht der überwiegend betreuende Elternteil Leistungen nach dem SGB II, sieht die Rechtsprechung des BSG vor, dass der Sozialgeldanspruch bei dieser Bedarfsgemeinschaft gekürzt wird.
Die dadurch entstehenden Probleme und Komplikationen durch Rückforderungen oder gar Verhinderungen des Umgangsrechtes aus finanziellen Gründen könnten nach Ansicht der Bürgerbeauftragten durch einen Umgangsmehrbedarf gelöst werden. Dieser könnte dann gewährt werden, wenn sich das Kind beim getrennt lebenden Elternteil aufhält, ohne dass die Leistungen des anderen Elternteils gekürzt werden.
Quelle: Pressemitteilung Nr. 153 / 21. Juli 2016
Hartz IV: Nicht mehr als drei Sanktionen nach Meldepflichtsverletzungen
Veröffentlicht: 1. August 2015 Abgelegt unter: Meldetermin, Sanktionen | Tags: BSG Urteil vom 29.04.2015 B 14 AS 19/14 R Ein KommentarNach drei aufeinander folgenden gleichlautenden Meldeaufforderungen mit demselben Ergebnis der Nichtwahrnehmung des Termins darf ein Jobcenter keine weiteren Sanktionen aussprechen. Die auf weiteren Meldeaufforderungen beruhenden Bescheide über die Feststellung eines Meldeversäumnisses und einer Minderung sind rechtswidrig, entschied das BSG in einem aktuellen Urteil.
Das beklagte Jobcenter hatte die Klägerin in sieben Meldeaufforderungen innerhalb von acht Wochen zu Besprechungen ihres Bewerberangebots bzw. ihrer beruflichen Situation in seine Dienststelle eingeladen, denen die Klägerin nicht gefolgt war. Das Jobcenter stellte daraufhin sieben Meldepflichtsverstöße fest und senkte die Regelleistungen für jeden Meldepflichtsverstoß um 10 % der maßgeblichen Regelleistungen ab.
Rechtswidrig, entschied nun das BSG. Auch wenn eine solche „Einladungsdichte“ nicht grundsätzlich rechtswidrig sei, so sei doch zu beachten, dass eine Meldeaufforderung und ihre Ausgestaltung im Ermessen des Jobcenters stünden. Mit den Meldeaufforderungen müsse das Jobcenter das Ziel verfolgen, die eingeladene Person bei ihrer Eingliederung in das Erwerbsleben zu unterstützen. Diesem Ziel würden sieben gleichlautende Meldeaufforderungen indes nicht gerecht. Zumindest nach der dritten gleichlautenden Meldeaufforderung mit demselben Ergebnis der Nichtwahrnehmung des Termins hätte das Jobcenter nicht in der bisherigen Weise fortfahren dürfen. Die auf diesen weiteren Meldeaufforderungen beruhenden Sanktionsentscheidungen seien deswegen rechtswidrig.
BSG, Urteil vom 29.04.2015, B 14 AS 19/14 R (Terminbericht)
Erstveröffentlichung in HEMPELS 07/2015
Rechtsanwalt Helge Hildebrandt
Streit um SGB-II-Sanktionen
Veröffentlicht: 30. Juni 2015 Abgelegt unter: Sanktionen 5 KommentareBerlin: (hib/HAU) Bei einer öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Soziales am Montagnachmittag sprach sich eine Mehrheit der geladenen Experten für die Beibehaltung von Sanktionsmöglichkeiten im Bereich der Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II) aus. Vertreter aus dem Bereich der Wirtschaft nannten das System der Sanktionen ausgewogen. Auch Landkreistag und Städtetag sprachen sich – ebenso wie der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) – gegen eine generelle Abschaffung oder ein Moratorium der Sanktionen aus, wie es die Fraktionen Die Linke (18/3549, 18/1115) und Bündnis 90/Die Grünen (18/1963) in Anträgen gefordert hatten. Eine klare Ablehnung der Sanktionsregelungen kam von der Diakonie Deutschland. Den Rest des Beitrags lesen »
Auch im Kreis Rendsburg-Eckernförde gilt: Bei Sanktion eines Familienmitglieds volle Unterkunftskosten für die übrigen Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft
Veröffentlicht: 9. Juni 2015 Abgelegt unter: Jobcenter Kreis Rendsburg-Eckernförde, Kosten der Unterkunft, Sanktionen | Tags: Jobcenter im Kreis Rendsburg-Eckernförde, Rechtsprechung Sozialgericht Schleswig Hartz IV Sanktionen, Sanktion nach § 31 SGB II, Sanktionen Kreis Rendsburg-Eckernförde 6 KommentareFällt der Mietkostenanteil für ein Mitglied einer Hartz-IV-Bedarfsgemeinschaft aufgrund einer Sanktionierung weg, so ist dessen Mietanteil als notwendige Kosten der Unterkunft bei den anderen Mitgliedern der Bedarfsgemeinschaft vom Jobcenter anzuerkennen. Dies ist inzwischen Rechtsprechung beider mit dem SGB II befasster Senate des BSG (vgl. BSG, Urteil vom 23.05.2013, B 4 AS 67/12 R; BSG, Urteil vom 02.12.2014, B 14 AS 50/13).
Sonderrechtszone Kreis Rendsburg-Eckernförde?
Allein, das Jobcenter im Kreis Rendsburg-Eckernförde mochte dem BSG nicht folgen und hielt sich in einem aktuellen Fall lieber an eine Entscheidung der 25. Kammer des Sozialgerichts Schleswig. Die 25. Kammer am Sozialgericht Schleswig war der Rechtsprechung des BSG tatsächlich mit einer Entscheidung vom 10.04.2014 zum Aktenzeichen S 25 AS 33/14 ER unter Berufung auf eine Entscheidung des LSG Sachsen-Anhalt vom 30.01.2013 zum Aktenzeichen L 5 AS 370/10 ausdrücklich entgegengetreten und hatte entschieden, dass das „System des SGB II“ es gerade nicht zulasse, „dass faktisch Unterkunftskosten für Dritte geltend gemacht werden.“ Es ist das gute Recht eines Richters an einem Sozialgericht, gegen die Rechtsprechung des BSG zu entscheiden. Ob es indessen ein Ausweis guter juristischer Handwerkskunst ist, wenn ein Gericht sich auf ein Urteil beruft, welches zeitlich vor der anderslautenden Entscheidung eines obersten Bundesgerichts liegt (und zudem, allerdings erst später, von eben diesem aufgehoben wurde), mag der Leser selbst beurteilen. Rechtlich schlicht nicht mehr vertretbar (instruktiv Groth, Einstweiliger Rechtsschutz in Streitigkeiten der Grundsicherung für Arbeitssuchende, NJW 2007, 2294 ff.) und im Grunde eine Ungehörigkeit ist es, für das Antragsverfahren noch nicht einmal Prozesskostenhilfe zu bewilligen.
Dass eine deutsche Behörde sich allerdings nicht an Recht und Gesetz in der Auslegung der höchsten deutschen Gerichte orientiert, ist nicht angängig. Denn das Jobcenter Rendsburg-Eckernförde weiß, dass – beschreiten denn dessen „Kunden“ den Rechtsweg durch die Instanzen – seine Entscheidungen in diesem Fall zuletzt als rechtswidrig aufgehoben werden. Damit handelt das Jobcenter Rendsburg-Eckernförde offenbar bewusst rechtswidrig und man darf vermuten: Nicht zuletzt in der Hoffnung, dass sich die Betroffenen nicht auf dem Rechtswege zur Wehr setzen.
Beschluss SG Schleswig vom 6. Mai 2015, S 9 AS 69/15 ER
Mit Beschluss vom 06.05.2015 hat die 9. Kammer am SG Schleswig im Verfahren S 9 AS 69/15 ER in einem aktuellen Eilverfahren nun entschieden, dass den nicht sanktionieren Mitgliedern einer Bedarfsgemeinschaft Unterkunftskosten auch in Höhe des sanktionsbedingt wegfallenden Kostenanteils zustehen. Es bleibt zu hoffen, dass das Jobcenter Rendsburg-Eckernförde zukünftig nicht mehr davon spricht, das Sozialgericht Schleswig folge in dieser Rechtsfrage „kammerübergreifend“ nicht dem BSG.
Hinweise für Betroffene
Beziehern von ALG II im Kreis Rendsburg-Eckernförde ist dringend zu raten, Bescheide des Jobcenters im Kreis Rendsburg-Eckernförde stets gründlich zu prüfen. Vor allem sollten sich Betroffene nicht davon beeindrucken lassen, wenn ihnen von Seiten des Jobcenters gesagt wird, die Gerichte bestätigten die Rechtsansicht der Behörde. Zuletzt sollten auch Entscheidungen bestimmter Kammern am SG Schleswig stets gründlich geprüft werden und – soweit diese offensichtlich mit dem Recht nicht übereinstimmen – gegen diese Entscheidungen ins Rechtsmittel gegangen werden, soweit dieses gegeben ist.
Hinweise aus aktuellem Anlass
Die 15. Kammer am Sozialgericht Gotha hat zudem nach einer Medieninformation mit Beschluss vom 26.05.2015 nach Art. 100 Abs. 1 GG i.V.m. § 80 BVerfGG beschlossen, das Klageverfahren SG Gotha zum Aktenzeichen 15 AS 5157/14 auszusetzen und die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts darüber einzuholen, ob die Sanktionsparagraphen des SGB II mit dem Grundrecht auf die Sicherung des Existenzminimums vereinbar sind. „Die Klage wird nun an das Bundesverfassungsgericht geleitet, so ein Prozessbeobachter. „Damit wird dem Bundesverfassungsgericht erstmals diese Frage von einem Sozialgericht vorgelegt“, sagte nach Angaben von gegen-hartz.de ein Sprecher des Gerichts.
Bejaht das BVerfG einen Verfassungsverstoß, so erklärt es das Gesetz für gewöhnlich gemäß §§ 82 Abs. 1, 78 BVerfGG für nichtig. Die Nichtigerklärung wirkt ex tunc, d.h. das Gesetz ist von Anfang an nichtig mit der Folge, dass Gerichte in laufenden Klageverfahren Sanktionen ab dem Tag der Entscheidung des BVerfG für rechtswidrig erklären müssen.
Das BVerfG kann aber auch lediglich die Unvereinbarkeit der Norm mit dem GG feststellen mit der Folge, dass diese nicht mehr angewendet werden darf und eine Neuregelung durch den Gesetzgeber abzuwarten ist (dies gilt insbesondere, wenn der Gesetzgeber mehrere Möglichkeiten hat, den Verfassungsverstoß zu beseitigen, insbesondere bei Verstößen gegen Art. 3 GG). In diesem Fall hätte auch eine im Sinne der Leistungsberechtigten positive Entscheidung des BVerfG keine Auswirkungen auf bereits verhängte Sanktionen und laufende Widerspruchs- und Klageverfahren.
Vor dem Hintergrund des Vorlagebeschlusses des SG Gotha ist sanktionsbetroffenen Leistungsberechtigen zu raten, in Widerspruchsverfahren gegen Sanktions- bzw. Minderungsbescheide das Ruhen des Widerspruchsverfahrens und in anhängigen Klageverfahren das Ruhen des Klageverfahrens nach § 202 SGG i.V.m. § 251 ZPO zu beantragen, da eine Nichtigerklärung durch das BVerfG jedenfalls nicht ausgeschlossen werden kann.
Rechtsanwalt Helge Hildebrandt
Prämienzahlungen für hohe Sanktionierungsquoten
Veröffentlicht: 25. September 2013 Abgelegt unter: Sanktionen 8 KommentareDie Berliner Zeitung berichtete schon am 10.09.2013, dass die Geschäftsführer von Jobcentern Prämienzahlungen von bis zu 4.000 € im Jahr für besonders hohe Sanktionierungsquoten erhalten. Der Bericht findet sich hier, ein weiterer hier.
Volle Unterkunftskosten bei Sanktion eines Familienmitglieds
Veröffentlicht: 25. Juli 2013 Abgelegt unter: Kosten der Unterkunft, Sanktionen | Tags: BSG Urteil vom 23.05.2013 B 4 AS 67/12 R 3 KommentareFällt der Mietkostenanteil für ein Mitglied einer Hartz-IV-Bedarfsgemeinschaft (BG) aufgrund einer Sanktionierung weg, so ist dessen Mietanteil als notwendige Kosten der Unterkunft (KdU) bei den anderen Mitgliedern der BG vom Jobcenter anzuerkennen.
In dem vom BSG entschiedenen Fall lebte eine Mutter mit ihren zwei Söhnen in einer BG zusammen. Die Mietkosten wurden in der tatsächlichen Höhe anteilig zu je 1/3 bei jedem Familienmitglied anerkannt. Nach vorangegangener Entziehung der Regelleistungen wurden mit weiterer Sanktion einem der Söhne auch die unterkunftssichernden Leistungen vollständig entzogen, so dass der Bedarfsgemeinschaft 1/3 der Leistungen für die Unterkunft fehlten.
Die Klage der Mutter und ihres nichtsanktionierten Sohnes auf Leistungen für die Unterkunft in voller Höhe – also auch des Mietanteils des sanktionierten Sohnes – hatte in allen Instanzen Erfolg. Denn infolge des tatsächlichen Wegfalls des KdU-Anteils des Sohnes haben sich die von den Familienangehörigen zu tragenden tatsächlichen Aufwendungen für die Wohnung erhöht. Dieser Bedarf ist nach § 22 Abs. 1 SGB II vollständig zu übernehmen. Die Vorschrift enthält insbesondere keine Begrenzung dergestalt, dass bei Nutzung einer Wohnung durch mehrere Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft nur anteilige KdU übernommen werden. Eine faktische „Mithaftung“ für ein nach dem SGB II sanktioniertes Fehlverhalten eines Familienmitgliedes sieht das SGB II nicht vor.
(BSG, Urteil vom 23.05.2013, B 4 AS 67/12 R)
Erstveröffentlichung in HEMPELS 07/2013
Rechtsanwalt Helge Hildebrandt
Können rechtswidrig begünstigende Sanktionen Rechte verletzen?
Veröffentlicht: 2. Juli 2013 Abgelegt unter: Sanktionen | Tags: SG Kiel Urteil vom 13.06.2013 S 35 AS 205/11 3 KommentareEine interessante und – soweit ersichtlich – in der Rechtsprechung und Kommentarliteratur bisher noch nicht behandelte Rechtsfrage hatte das Sozialgericht Kiel am 13.06.2013 zu entscheiden:
Bei einem wiederholten Meldeversäumnis regelte die bis zum 31.12.2010 geltende Vorschrift des § 31 Abs. 2, Abs. 3 Satz 3 SGB II a.F. eine stufenweise Erhöhung des Minderungsbetrages (erste Sanktion 10 % , zweite 20 % usw.; Berlit in LPK-SGB II, 3. Aufl. 2009, § 31 Rz. 100: „Wiederholungstäterzuschlag“). Versehentlich hatte das Jobcenter Kiel diese Regelung zugunsten des späteren Klägers dergestalt angewandt, dass es auch die zweite Meldepflichtverletzung „nur“ mit 10 % des Regelsatzes sanktionierte. Der Kläger wandte sich gegen die Sanktionierung, konnte einen wichtigen Grund, der seinen Meldeverstoß hätte rechtfertigen können, indes nicht nachweisen.
Das Gericht hob den zweiten Sanktionsbescheid dennoch auf, weil die Rechtsfolge – Sanktion in Höhe von 20 % und nicht lediglich in Höhe von 10 % – nicht im Ermessen des Jobcenters gestanden hat. Die Frage, ob der Kläger, der durch die zwar rechtswidrige, ihn aber jedenfalls finanziell begünstigende Sanktionsentscheidung überhaupt beschwert war und damit ein Rechtsschutzinteresse an der Klage hatte (vgl. § 54 Abs. 1 SGG), bejahte das Gericht mit der folgenden Erwägungen:
„Durch diese rechtswidrige Verwaltungsentscheidung ist der Kläger auch in seinen Rechten verletzt, denn das vom Gesetzgeber seinerzeit angestrebte Ziel, durch das wirtschaftliche Druckmittel der Staffelung der Sanktionsfolgen eine Verhaltensänderung herbeizuführen (Berlit aaO. Rn. 2 mwN.), konnte durch die ausgesprochene Sanktion so nicht erreicht werden.“
Das Gericht statuiert damit ein „Recht auf Sanktionen“ von Leistungsbeziehern, damit ihnen nicht die Chance zu einer Verhaltensänderung genommen wird. Eine originelle, allerdings auch etwas zweischneidige Argumentation – freilich mit erfreulichen Folgen für den Kläger in diesem Verfahren.
Bewertung
Die 35. Kammer am SG Kiel hat die Anforderungen an eine rechtmäßige Sanktionsentscheidung mit diesem Urteil erheblich erhöht. Auch fehlerhaft begünstigende Entscheidungen verletzen Betroffene danach in ihren Rechten und sind deswegen aufzuheben. Konsequenterweise muss dies dann nicht nur für die Staffelungsregelung in § 31 Abs. 2, Abs. 3 Satz 3 SGB II a.F. gelten, sondern für jede rechtswidrige begünstigende Sanktion. Besteht gleichsam ein „Recht auf Sanktion in der richtigen Höhe“, so könnten etwa Sanktionen, die eine Minderung auf der Grundlage geltender Regelsätze verhängen und an zum Jahreswechsel angehobene Regelsätze nicht angepasst werden (was der Regelfall ist), zukünftig rechtswidrig werden und aufzuheben sein.
SG Kiel, Urteil vom 16.06.2013, S 35 AS 205/11
Nachtrag 08.07.2013: Das Jobcenter Kiel hat heute gegen die Nichtzulassung der Berufung Nichtzulassungsbeschwerde beim Schleswig-Holsteinischen Landessozialgericht eingelegt.
Rechtsanwalt Helge Hildebrandt
Erhöhte Anforderungen an die Eilbedürftigkeit bei bestandskräftig gewordenen Sanktionsbescheiden
Veröffentlicht: 27. März 2013 Abgelegt unter: Eilverfahren, Sanktionen | Tags: SG Kiel Beschluss vom 27.03.2013 S 30 AS 80/13 ER Ein KommentarWird ein belastender Bescheid wie etwa ein Sanktionsbescheid nach §§ 31 ff. SGB II bestandskräftig, weil innerhalb der Widerspruchsfrist kein Widerspruch erhoben wurde, und gelangt der Bezieher von ALG II erst danach – etwa aufgrund einer fachkundigen Beratung – zu dem Ergebnis, dass der Bescheid rechtswidrig ist, so kann der Bescheid nach § 44 SGB X einer Überprüfung unterzogen werden. Gleichzeitig kann im Wege einer Regelungsanordnung nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG bei dem örtlich zuständigen Sozialgericht um einstweiligen Rechtsschutz nachgesucht werden. Das Gericht wird sodann prüfen, ob eine Anordnungsgrund (Eilbedürftigkeit) und ein Anordnungsanspruch (rechtlicher Anspruch auf die begehrte Maßnahme) vorliegen.
Genügt für die Eilbedürftigkeit im Regelfall eine Bedarfsunterdeckung von mindestens 10 % der maßgeblichen Regelleistungen – bei einer alleinstehenden Person mit einem Regelbedarf von 382,00 € also eine Bedarfsunterdeckung in Höhe von 38,20 € -, so sind nach Auffassung vieler Gerichte bei einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach Stellung eines Antrages auf Überprüfung eines bestandskräftigen Bescheides nach § 77 SGG besonders strenge Anforderungen an die Glaubhaftmachung des Anordnungsgrundes zu stellen.
In einem aktuellen Eilverfahren hat das SG Kiel (Beschluss vom 27.03.2013, S 30 AS 80/13 ER) zu dieser Frage ausgeführt:
„Erforderlich wäre insofern, dass massive Eingriffe in die soziale und wirtschaftliche Existenz mit erheblichen Auswirkungen auf die Lebensverhältnisse dargelegt werden. Für deren Vorliegen bestehen hier keine Anhaltspunkte. Streitgegenstand ist der Zeitraum vom 15.03.2013 bis zum 31.03.2013. Die Minderung betrug für den gesamten Monat März € 122,20 und beträgt damit für den streitgegenständlichen Zeitraum ungefähr die Hälfte dieses Betrages. Die Antragstellerin hat zwar eine sanktionsfreie Gewährung ab Antragsteilung bis zu einem vom Gericht zu bestimmenden Zeitraum beantragt. Allerdings endet die Minderung laut Bescheid ohnehin mit Wirkung ab dem 01.04.2013, so dass allein diese Tage im März im Streit stehen. Die Minderungshöhe ist nicht derart hoch, dass die wirtschaftliche Existenz der Antragstellerin gefährdet scheint. Auch ansonsten sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass die finanziellen Einbußen mit fortwirkenden Auswirkungen für die Antragstellerin sind. Hierfür ist der Gesamtbetrag, der über das Verfahren auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes zugesprochen werden könnte, deutlich zu gering. Es wäre der Antragstellerin unbenommen gewesen, bereits im Dezember 2012 Widerspruch gegen den Bescheid einzulegen und ein gerichtliches Eilverfahren zu einem früheren Zeitpunkt anhängig zu machen. Da sie dies nicht getan hat, hat sich der Maßstab für die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes modifiziert und die wirtschaftliche Bedeutung reduziert.“
Beurteilung und Hinweise für Betroffene
Die unterschiedlichen Maßstäbe bei der Beurteilung des Vorliegens eines Anordnungsgrundes je nachdem, ob der inkriminierte Bescheid in Bestandskraft erwachsen ist oder nicht, ergeben sich jedenfalls nicht unmittelbar aus dem Gesetz. Häufig wird die Hinnahme eines (rechtswidrigen) belastenden Bescheides ihren Grund in dem Vertrauen des Leistungsberechtigten auf die Rechtmäßigkeit behördlichen Verwaltungshandelns sowie der zunächst nicht stattgehabten rechtlichen Beratung haben. Zum Vorwurf wird man dies dem Leistungsberechtigten sicherlich nicht machen können, so dass der Hinweis auf die Möglichkeit der rechtzeitigen Widerspruchseinlegung zwar nicht unzutreffend, aber eben auch kein ganz überzeugendes Argument für das Anlegen unterschiedlicher Maßstäbe bei der Beurteilung eines Anordnungsgrundes ist.
Da diese Rechtsprechung akzeptiert werden muss, ist Adressaten belastender Bescheide wie etwa Sanktionsbescheiden dringlichst zu raten, diese sofort und erforderlichenfalls auch unter Zuhilfenahme fachkundigen Rates prüfen zu lassen. Bei Zweifeln an der Rechtmäßigkeit eines Minderungsbescheides sollte gegen diesen innerhalb der Monatsfrist Widerspruch erhoben und – da der Widerspruch gegen einen Sanktionsbescheid nach § 39 Nr. 1 SGB II keine aufschiebende Wirkung hat – gegebenenfalls nach Ablauf einer angemessenen Abhilfefrist ein Eilantrag nach § 86b Abs. 2 SGG bei dem örtlich zuständigen Sozialgericht gestellt werden.
Rechtsanwalt Helge Hildebrandt
Meldetermin: AU-Bescheinigung allein kein Nachweis für „wichtigen Grund“?
Veröffentlicht: 29. September 2011 Abgelegt unter: Jobcenter Kiel, Meldetermin, Sanktionen | Tags: Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, AU-Bescheinigung, § 59 SGB II, Bettlägrigkeitsbescheinigung, Jobcenter Kiel, Meldepflicht, Meldetermin, Wegeunfähigkeitsbescheinigung 50 KommentareBisher galt die Nichtwahrnehmung eines Meldetermins nach § 59 SGB II beim Jobcenter Kiel als „entschuldigt“, wenn für den Tag, an dem der Meldetermin wahrgenommen werden sollte, eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (AU-Bescheinigung) vorgelegt werden konnte. Diese Praxis hat das Jobcenter Kiel – wie auch andere Jobcenter – nun augenscheinlich geändert. Verlangt wird seit kurzem die Vorlage einer „Wegeunfähigkeitsbescheinigung“ durch den behandelnden Arzt. Dies sowie einige Anrufe teils irritierter Betroffener der letzten Tage ist Anlass genug, einmal zusammenzufassen, wann die Nichtwahrnehmung eines Meldetermins „entschuldigt“ ist bzw. in den Worten des Gesetzgebers ein „wichtiger Grund“ für das Nichterscheinen vorliegt.
Meldepflicht
Wer ALG II bezieht oder beantragt hat, unterliegt nach § 59 SGB II der allgemeinen Meldepflicht gemäß § 309 Abs. 1 SGB III. Diese Regelung entspricht den für das gesamte Sozialrecht geltenden Bestimmungen der §§ 61 und 62 SGB I. Voraussetzung der Meldepflicht ist eine entsprechende Aufforderung des Grundsicherungsträgers. Die Meldeaufforderung ist ein Verwaltungsakt. Ob und wann der Grundsicherungsträger eine Meldeaufforderung erlässt, liegt in seinem pflichtgemäßen Ermessen.
Aus der Aufgabenzuständigkeit der Grundsicherungsträger nach dem SGB II folgt, dass eine Meldeaufforderung nur zum Zwecke der Berufsberatung, Vermittlung in Ausbildung oder Arbeit, der Vorbereitung aktiver Arbeitsförderungsleistungen, der Vorbereitung von Entscheidungen im Leistungsverfahren und der Prüfung des Vorliegens der Voraussetzungen für den Leistungsanspruch erfolgen kann (vgl. § 309 Abs. 2 SGB III).
Auf Antrag können gemäß § 309 Abs. 4 SGB III notwendige Reisekosten zur Wahrnehmung eines Meldetermins – auch für eventuell erforderliche Begleitpersonen – übernommen werden, soweit diese nicht anderweitig abgedeckt sind. „Erforderlich“ ist eine Begleitperson bei Krankheit oder Behinderung. Eine „anderweitige Abdeckung“ der Reisekosten besteht etwa, wenn der Leistungsberechtigte über eine Monatsfahrkarte für den ÖPNV verfügt. Die Festsetzung einer Bagatellgrenze ist rechtswidrig (Winkler in LPK-SGB III, 1. Auf. 2008, § 309 Rn. 20 m.w.N.). Gemäß § 59 SGB II i.V.m. § 310 SGB III besteht darüber hinaus die Verpflichtung, sich nach einem Umzug bei dem nunmehr zuständigen Leistungsträger unverzüglich (d.h. ohne schuldhaftes Zögern) zu melden.
Meldeversäumnis
Minderungsrelevant ist allein die Tatsache eines Meldeversäumnisses. Gemäß § 309 Abs. 1 Satz 2 SGB III hat sich der Leistungsberechtigte bei der zur Meldung bezeichneten Dienststelle zu melden. Es ist das Dienstzimmer des zuständigen Sachbearbeiters aufzusuchen. Eine Vorsprache etwa im Eingangsbereich des Dienstgebäudes genügt nicht, weil damit der Meldezweck offenkundig nicht erreicht wird (LSG BY, Beschluss vom 4.8.2010, L 8 AS 466/10 B ER und 26.4.2010, L 7 AS 212/10 B ER).
Nach § 309 Abs. 3 SGB III hat sich der Arbeitslose zu der von dem Leistungsträger bestimmten Zeit zu melden. Ist diese nach Tag und Tageszeit bestimmt, so ist er seiner allgemeinen Meldepflicht auch dann nachgekommen, wenn er sich zu einer anderen Zeit am selben Tag meldet und der Zweck der Meldung erreicht wird.
Wichtig: Betroffene, die zu einem Meldetermin zu spät erscheinen und deswegen die Auskunft erhalten, der Termin könne an diesem Tag nicht mehr stattfinden, sollten unbedingt darauf drängen, dass der Termin – ggf. bei einem anderen Mitarbeiter – wahrgenommen werden kann. Die Jobcenter müssen entsprechendes Personal vorhalten und die Aufgaben der Integrationsfachkräfte setzen kein Wissen voraus, welches nicht jeder andere Mitarbeiter auch hat. Der Zweck kann also stets noch erreicht werden (Ausnahme etwa: Erscheinen 5 Minuten vor Schließung der Behörde). Auf jeden Fall sollten sich Betroffene ihre Meldung mit Angabe von Tag und Uhrzeit schriftlich bestätigen lassen. |
Ist der Meldepflichtige am Meldetermin arbeitsunfähig, so wirkt die Meldeaufforderung auf den ersten Tag der Arbeitsfähigkeit fort, wenn die Agentur für Arbeit dies in der Meldeaufforderung bestimmt (§ 309 Abs. 3 Satz 3 SGB III).
Sanktionen bei Meldepflichtverletzungen
Kommt ein Bezieher von Leistungen nach dem SGB II der Meldeaufforderung eines Trägers der Grundsicherung ohne wichtigen Grund trotz schriftlicher Belehrung über die Rechtsfolgen nicht nach, wird das ALG II gemäß § 32 SGB II je Meldepflichtverletzung in Höhe von 10 % der nach § 20 SGB II maßgebenden ungekürzten Regelleistungen abgesenkt.
Wichtiger Grund
Ein wichtiger Grund liegt vor, wenn es dem Leistungsberechtigen objektiv unmöglich oder nach Abwägung der widerstreitenden Interessen unzumutbar ist, am angegebenen Ort zu der angegebenen Zeit zu erscheinen. Entscheidend sind die Umstände des Einzelfalles. Folgende Umstände kommen als rechtfertigende Gründe in Betracht:
– Erledigung unaufschiebbarer persönlicher Angelegenheiten (Teilnahme an Trauerfeier, m.E. nicht nur für nahe Angehörige; unvorhergesehener Ausfall der Betreuung eines Kleinkindes usw.).
– Vorstellungstermin bei potentiellem Arbeitgeber.
– Terminkollision mit Arbeit (auch geringfügiger Beschäftigung, vgl. Berlit in LPK-SGB II, 4. Aufl. 2011, § 32 Rn. 13).
– Ausfall von Verkehrsmittel.
– Plötzliche Krankheit oder krankheitsbedingtes Unvermögen.
– Unaufschiebbarer Arzttermin (Notfall). M.E. auch der vor Zugang der Meldeaufforderung vereinbarte Arzttermin.
Wichtig:
– Eine krankheitsbedingte Verhinderung kann auch ohne Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung etwa durch Zeugenbeweisnachgewiesen (Berlit in LPK-SGB II, 4. Aufl. 2011, § 32 Rn. 13; Sonnhoff in JurisPK-SGB II, 2. Aufl., Stand 24.8.2010, § 32 Rn. 191). – Streitig ist, ob eine tatsächlich vorliegende und durch eine AU-Bescheinigung belegte Erkrankung ausreichend ist, wenn begründete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die bescheinigte Arbeitsunfähigkeit nicht gleichzeitig die Unfähigkeit zur Wahrnehmung des Meldetermins begründet. – Zu dieser Frage hat das BSG (Urt. v. 9.11.2010, B 4 AS 27/10 R, Rz. 32), ausgeführt: „Macht der Arbeitslose gesundheitliche Gründe für sein Nichterscheinen geltend, kommt als Nachweis für die Unfähigkeit, aus gesundheitlichen Gründen beim Leistungsträger zu erscheinen, zwar regelmäßig die Vorlage einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung in Betracht. Arbeitsunfähigkeit ist jedoch nicht in jedem Einzelfall gleichbedeutend mit einer krankheitsbedingten Unfähigkeit, zu einem Meldetermin zu erscheinen (Sonnhoff in JurisPK-SGB II, 2. Aufl, Stand 24.8.2010, § 31 RdNr 193; A. Loose in GK-SGB II, § 31 RdNr 78, Stand Mai 2008). Da es sich bei dem Begriff der Arbeitsunfähigkeit zudem um einen Rechtsbegriff handelt, dessen Voraussetzungen anhand ärztlich erhobener Befunde – ggf auch durch eine ex-post-Beurteilung – festzustellen sind (BSG Urteil vom 26.2.1992 – 1/3 RK 13/90 – SozR 3-2200 § 182 Nr 12; Schmidt in Peters, Handbuch der Krankenversicherung, § 44 SGB V RdNr 132, Stand 1.9.2008; Behrend in Eicher/Schlegel, SGB III, § 309 RdNr 64, Stand November 2004), besteht im Streitfall schon keine Bindung an den Inhalt der von dem Vertragsarzt nach § 73 Abs 2 Satz 1 Nr 9 SGB V ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung. Entsprechend ist auch die mit einer Arbeitsunfähigkeit regelmäßig verbundene Vermutung, dass ein Meldetermin aus gesundheitlichen Gründen nicht wahrgenommen werden kann, im Streitfall von den Sozialgerichten zu überprüfen.“ – Die Bundesagentur für Arbeit hat dieses Urteil in ihren Fachlichen Hinweisen (FH) zu § 32 SGB II, dort Rn. 32.9, aufgegriffen und führt dort aus: „Die Vorlage einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ist grundsätzlich als wichtiger Grund anzuerkennen. Arbeitsunfähigkeit ist jedoch nicht in jedem Einzelfall gleichbedeutend mit einer krankheitsbedingten Unfähigkeit, zu einem Meldetermin zu erscheinen. Jedenfalls nach vorheriger Aufforderung kann vom Leistungsberechtigten auch ein ärztliches Attest für die Unmöglichkeit des Erscheinens zu einem Meldetermin verlangt werden (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 9.11.2010 – Az. B 4 AS 27/10 R – juris Rn. 32). Die Kosten für die Ausstellung des Attestes können in angemessenem Umfang übernommen werden. Dies sind die nach Ziffer 70 der Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ) vorgesehenen Gebühren für eine kurze Bescheinigung, und zwar in Höhe des bei Privatrechnungen üblichen 2,3fachen Satzes, mithin derzeit 5,36 EUR. Höhere Kosten werden nicht übernommen.“ – Auch das Bayerische LSG hat in seiner Entscheidung vom 13.03.2009 (L 16 AS 268/08 NZB) die Vorlage einer „Reiseunfähigkeitsbescheinigung“ für erforderlich erachtet und zur Begründung ausgeführt: „Dieses Verlangen der Beklagten ist Ausfluss der allgemeinen Meldepflicht des Klägers aus § 59 SGB II i.V.m. § 309, Sozialgesetzbuch Drittes Buch (SGB III). Da es bei der Wahrnehmung eines Termins bei der Beklagten nicht um die Frage der Arbeitsfähigkeit geht, ist eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung letztlich nicht aussagekräftig, dafür, ob der Bf nicht dazu in der Lage war, diesen Termin wahrzunehmen. Hier ist es angemessen eine Reiseunfähigkeitsbescheinigung zu verlangen. Damit soll der Kläger das Unvermögen seiner Anreise entschuldigen und klarstellen, dass er seiner Pflicht nach §§ 59 SGB II i.V.m. 309 SGB III nicht nachkommen kann. Dies bedeutet, dass das Verlangen der Vorlage der Reiseunfähigkeitsbescheinigung Ausfluss der dem Kläger vom Gesetzgeber nach § 59 SGB II auferlegten Meldepflicht ist, der er nicht nachgekommen ist.“ – Nach Auffassung des Bayerischen LSG, Urt. v. 29.03.2012, L 7 AS 961/11, kann das Jobcenter auch die Vorlage eines qualifizierten ärztlichen Attests verlangen. – Nach anderer Ansicht ist nur bei Vorliegen greifbarer Anhaltspunkte für eine missbräuchlich ausgestellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung eine „Wegeunfähigkeitsbescheinigung“ vorzulegen (Berlit in LPK-SGB II, 4. Aufl. 2011 § 32 Rn. 15). Tipps: – Ein Attest über die krankheitsbedingte Unfähigkeit, zu einem Meldetermin erscheinen zu können (Wegeunfähigkeitsbescheinigung), bedarf es regelmäßig nicht, wenn sich aus dem Krankheitsbild bereits die Unfähigkeit zur bzw. Unzumutbarkeit der Terminwahrnehmung ergibt (etwa gebrochenes Bein, Bandscheibenvorfall, ansteckende Krankheit, hohes Fieber). – Die o.g. Rechtsprechung des BSG ändert nichts daran, dass die „Wegeunfähigkeit“ auch durch Zeugenbeweis oder etwa eine eidesstattliche Versicherung nachgewiesen werden kann. Besteht der Grundsicherungsträger auf die Vorlage einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung bzw. „Wegeunfähigkeitsbescheinigung“ und lehnt er pauschal die Prüfung anderer angebotener Beweismittel ab (etwa Zeugenbeweis, eidesstattliche Versicherung), verstößt er gegen seine Amtsermittlungspflichten aus § 20 SGB X. Sollte der Grundsicherungsträger trotz nachgewiesenem Vorliegen eines wichtigen Grundes eine Sanktion verhängen, sollte gegen den Sanktionsbescheid Widerspruch erhoben und notfalls der Klageweg beschritten werden. – M.E. folgt aus der Reglung in § 309 Abs. 3 Satz 3 SGB III die gesetzgeberische Wertung, dass derjenige, der arbeitsunfähig ist (also eine gültige AU-Bescheinigung vorlegen kann), auch keinen Meldetermin wahrnehmen muss (a.A. BSG a.a.O. Rn. 31). Andernfalls würde die Ermächtigung des Grundsicherungsträgers zum Erlass einer Meldeaufforderung zur persönlichen Vorsprache am „ersten Tag der Arbeitsfähigkeit“ (§ 309 Abs. 3 Satz 2 SGB III) keinen Sinn machen. Als Subtext schwingt hier mit: Wer arbeitsunfähig ist, ist auch meldeunfähig. – Wie die Ärzteschaft auf die Anfragen nach „Wegeunfähigkeitsbescheinigungen“ reagieren wird, bleibt abzuwarten. Der Nachweisdurst der Sozialbehörden hat schon zu einiger Missstimmung geführt. Die ersten Mandanten berichteten hier, ihre Ärzte hätten für die Ausstellung einer „Wegeunfähigkeitsbescheinigung“ 25 € verlangt. Letztlich ist kein Arzt verpflichtet, pro bono zu arbeiten, auch wenn 25 € überhöht sein dürften. Es ist schon jetzt zu erwarten, dass das notorische Misstrauen der Sozialleistungsträgern zu neuen streitigen Auseinandersetzungen führen wird. – In jedem Fall sollte die Frage der Attestkosten mit dem behandelnden Arzt sowie dem Jobcenter vor einer etwaigen Ausstellung einer Wegeunfähigkeitsbescheinigung geklärt werden. Die Übernahme von Attestkosten sollten sich Betroffene von ihrem Jobcenter unbedingt vorher schriftlich zusichern lassen (§ 34 SGB X). |
– Beim Vorliegen eines wichtigen Grundes besteht keine Pflicht zur Mitteilung vor dem Termin (Berlit in LPK-SGB II, 4. Aufl. 2011 § 32 Rn. 14 m.w.N.). Allerdings gebietet es die Höflichkeit, den Termin rechtzeitig abzusagen.
Folgende Umstände kommen als wichtige Gründe nicht in Betracht:
– Eigenmächtiges Verschieben eines Termins ohne wichtigen Grund, auch wenn Vorsprache noch vor Sanktionierung nachgeholt wird (SG Potsdam, Urt. v. 18.8.2009, L 46 AS 218/09).
– Die mit der Meldung verbundenen Reisekosten.
– Abholung eines 12jährigen Kindes von der Schule (LSG HE, Urt. v. 5.11.2007, L 6 AS 279/07).
– Irrtum über das Datum des Meldetermin aufgrund eigener Sorgfaltswidrigkeit (LSG NW, Urt. v. 13.7.2007, L 20 B 114/07 AS).
Rechtsanwalt Helge Hildebrandt