Sanktionen zur Durchsetzung von Mitwirkungspflichten bei Bezug von Arbeitslosengeld II teilweise verfassungswidrig
Veröffentlicht: 5. November 2019 Abgelegt unter: Sanktionen 29 KommentarePressemitteilung Nr. 74/2019 vom 5. November 2019
Urteil vom 05. November 2019
1 BvL 7/16
Der Gesetzgeber kann die Inanspruchnahme existenzsichernder Leistungen an den Nachranggrundsatz binden, solche Leistungen also nur dann gewähren, wenn Menschen ihre Existenz nicht selbst sichern können. Er kann erwerbsfähigen Bezieherinnen und Beziehern von Arbeitslosengeld II auch zumutbare Mitwirkungspflichten zur Überwindung der eigenen Bedürftigkeit auferlegen, und darf die Verletzung solcher Pflichten sanktionieren, indem er vorübergehend staatliche Leistungen entzieht. Aufgrund der dadurch entstehenden außerordentlichen Belastung gelten hierfür allerdings strenge Anforderungen der Verhältnismäßigkeit; der sonst weite Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers ist hier beschränkt. Je länger die Regelungen in Kraft sind und der Gesetzgeber damit deren Wirkungen fundiert einschätzen kann, desto weniger darf er sich allein auf Annahmen stützen. Auch muss es den Betroffenen möglich sein, in zumutbarer Weise die Voraussetzungen dafür zu schaffen, die Leistung nach einer Minderung wieder zu erhalten.
Mit dieser Begründung hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts mit heute verkündetem Urteil zwar die Höhe einer Leistungsminderung von 30 % des maßgebenden Regelbedarfs bei Verletzung bestimmter Mitwirkungspflichten nicht beanstandet. Allerdings hat er auf Grundlage der derzeitigen Erkenntnisse die Sanktionen für mit dem Grundgesetz unvereinbar erklärt, soweit die Minderung nach wiederholten Pflichtverletzungen innerhalb eines Jahres die Höhe von 30 % des maßgebenden Regelbedarfs übersteigt oder gar zu einem vollständigen Wegfall der Leistungen führt. Mit dem Grundgesetz unvereinbar sind die Sanktionen zudem, soweit der Regelbedarf bei einer Pflichtverletzung auch im Fall außergewöhnlicher Härten zwingend zu mindern ist und soweit für alle Leistungsminderungen eine starre Dauer von drei Monaten vorgegeben wird. Der Senat hat die Vorschriften mit entsprechenden Maßgaben bis zu einer Neuregelung für weiter anwendbar erklärt.
Sachverhalt:
- Nach § 31 Abs. 1 SGB II verletzen erwerbsfähige Empfänger von Arbeitslosengeld II, die keinen wichtigen Grund für ihr Verhalten darlegen und nachweisen, ihre Pflichten, wenn sie sich trotz Rechtsfolgenbelehrung nicht an die Eingliederungsvereinbarung halten, wenn sie sich weigern, eine zumutbare Arbeit, Ausbildung, Arbeitsgelegenheit oder ein gefördertes Arbeitsverhältnis aufzunehmen, fortzuführen oder deren Anbahnung durch ihr Verhalten verhindern oder wenn sie eine zumutbare Maßnahme zur Eingliederung in Arbeit nicht antreten, abbrechen oder Anlass für den Abbruch gegeben haben. Rechtsfolge dieser Pflichtverletzungen ist nach § 31a SGB II die Minderung des Arbeitslosengeldes II in einer ersten Stufe um 30 % des für die erwerbsfähige leistungsberechtigte Person maßgebenden Regelbedarfs. Bei der zweiten Pflichtverletzung mindert sich der Regelbedarf um 60 %. Bei jeder weiteren wiederholten Pflichtverletzung entfällt das Arbeitslosengeld II vollständig. Die Dauer der Minderung beträgt nach § 31b SGB II drei Monate.
- Das zuständige Jobcenter verhängte gegen den Kläger des Ausgangsverfahrens zunächst eine Sanktion der Minderung des maßgeblichen Regelbedarfes in Höhe von 30 %, nachdem dieser als ausgebildeter Lagerist gegenüber einem ihm durch das Jobcenter vermittelten Arbeitgeber geäußert hatte, kein Interesse an der angebotenen Tätigkeit im Lager zu haben, sondern sich für den Verkaufsbereich bewerben zu wollen. Nachdem der Kläger einen Aktivierungs- und Vermittlungsgutschein für eine praktische Erprobung im Verkaufsbereich nicht eingelöst hatte, minderte das Jobcenter den Regelbedarf um 60 %. Nach erfolglosem Widerspruch erhob er Klage vor dem Sozialgericht. Dieses setzte das Verfahren aus und legte im Wege der konkreten Normenkontrolle dem Bundesverfassungsgericht die Frage vor, ob die Regelungen in § 31a in Verbindung mit § 31 und § 31b SGB II mit dem Grundgesetz vereinbar seien.
Wesentliche Erwägungen des Senats:
- Die zentralen Anforderungen für die Ausgestaltung der Grundsicherungsleistungen ergeben sich aus der grundrechtlichen Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG. Der Gesetzgeber verfügt bei den Regeln zur Sicherung des menschenwürdigen Existenzminimums über einen Gestaltungsspielraum.
Die eigenständige Existenzsicherung des Menschen ist nicht Bedingung dafür, dass ihm Menschenwürde zukommt; die Voraussetzungen für ein eigenverantwortliches Leben zu schaffen, ist vielmehr Teil des Schutzauftrags des Staates aus Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG. Das Grundgesetz verwehrt dem Gesetzgeber jedoch nicht, die Inanspruchnahme sozialer Leistungen zur Sicherung der menschenwürdigen Existenz an den Nachranggrundsatz zu binden, solche Leistungen also nur dann zu gewähren, wenn Menschen ihre Existenz nicht selbst sichern können. Damit gestaltet der Gesetzgeber das Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG aus.
Der Nachranggrundsatz kann nicht nur eine Pflicht zum vorrangigen Einsatz aktuell verfügbarer Mittel aus Einkommen, Vermögen oder Zuwendungen Dritter enthalten. Das Grundgesetz steht auch der gesetzgeberischen Entscheidung nicht entgegen, von denjenigen, die staatliche Leistungen der sozialen Sicherung in Anspruch nehmen, zu verlangen, an der Überwindung ihrer Hilfebedürftigkeit selbst aktiv mitzuwirken oder die Bedürftigkeit gar nicht erst eintreten zu lassen. Solche Mitwirkungspflichten beschränken allerdings die Handlungsfreiheit der Betroffenen und müssen sich daher verfassungsrechtlich rechtfertigen lassen. Verfolgt der Gesetzgeber mit Mitwirkungspflichten das legitime Ziel, dass Menschen die eigene Hilfebedürftigkeit insbesondere durch Erwerbsarbeit vermeiden oder überwinden, müssen sie dafür auch geeignet, erforderlich und zumutbar sein.
Der Gesetzgeber darf verhältnismäßige Mitwirkungspflichten auch durchsetzbar ausgestalten. Er kann für den Fall, dass Menschen eine ihnen klar bekannte und zumutbare Mitwirkungspflicht ohne wichtigen Grund nicht erfüllen, belastende Sanktionen vorsehen, um so ihre Pflicht zur Mitwirkung an der Überwindung der eigenen Hilfebedürftigkeit durchzusetzen. Solche Regelungen berücksichtigen die Eigenverantwortung, da die Betroffenen die Folgen zu tragen haben, die das Gesetz an ihr Handeln knüpft.
Entscheidet sich der Gesetzgeber für die Sanktion der vorübergehenden Minderung existenzsichernder Leistungen, fehlen der bedürftigen Person allerdings Mittel, die sie benötigt, um die Bedarfe zu decken, die ihr eine menschenwürdige Existenz ermöglichen. Mit dem Grundgesetz kann das dennoch vereinbar sein, wenn diese Sanktion darauf ausgerichtet ist, dass Mitwirkungspflichten erfüllt werden, die gerade dazu dienen, die existenzielle Bedürftigkeit zu vermeiden oder zu überwinden. Es gelten jedoch strenge Anforderungen der Verhältnismäßigkeit. Der sonst bestehende weite Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers ist enger, wenn er auf existenzsichernde Leistungen zugreift. Je länger eine solche Sanktionsregelung in Kraft ist, umso tragfähigerer Erkenntnisse bedarf es, um ihre Eignung, Erforderlichkeit und Angemessenheit zu belegen.
Bei der Ausgestaltung der Sanktionen sind zudem weitere Grundrechte zu beachten, wenn ihr Schutzbereich berührt ist.
II.1. Die Regelungen staatlicher Sozialleistungen sind mit dem Grundgesetz vereinbar, soweit sie erwerbsfähige Erwachsene zu einer zumutbaren Mitwirkung verpflichten, um ihre Hilfebedürftigkeit zu überwinden oder zu verhindern.
Der Gesetzgeber verfolgt mit den in § 31 Abs. 1 SGB II geregelten Mitwirkungspflichten legitime Ziele, denn sie sollen Menschen wieder in Arbeit bringen. Diese Pflichten sind auch im verfassungsrechtlichen Sinne geeignet, die erwähnten Ziele zu erreichen. Der Gesetzgeber überschreitet auch nicht seinen Einschätzungsspielraum zur Erforderlichkeit, denn es ist nicht evident, dass weniger belastende Mitwirkungshandlungen oder positive Anreize dasselbe bewirken könnten. Die Ausgestaltung der Mitwirkungspflichten ist auch zumutbar. Der Gesetzgeber muss hier – anders als im Recht der Arbeitsförderung – keinen Berufsschutz normieren, denn das Recht der Sozialversicherung und das Grundsicherungsrecht unterscheiden sich strukturell. Es ist daher nicht zu beanstanden, dass hier andere als bislang ausgeübte und auch geringerwertige Tätigkeiten zumutbar sind. Darüber hinaus ist nicht erkennbar, dass eine der in § 31 Abs. 1 SGB II benannten Mitwirkungspflichten gegen das Verbot der Zwangsarbeit (Art. 12 Abs. 2 GG) verstoßen würde. Es ist verfassungsrechtlich auch nicht zu beanstanden, wenn die Mitwirkungspflicht eine Erwerbstätigkeit betrifft, die nicht dem eigenen Berufswunsch entspricht. In den allgemeinen Zumutbarkeitsregelungen, die auch für die Mitwirkungspflichten gelten, ist auch der grundrechtliche Schutz der Familie (Art. 6 GG) berücksichtigt.
- Die Entscheidung des Gesetzgebers, legitime Pflichten mit Sanktionen durchzusetzen, ist verfassungsrechtlich im Ausgangspunkt nicht zu beanstanden, denn damit verfolgt er ein legitimes Ziel. Die hier zu überprüfenden gesetzlichen Regelungen genügen allerdings dem in diesem Bereich geltenden strengen Maßstab der Verhältnismäßigkeit nicht.
- a) Die in § 31a Abs. 1 Satz 1 SGB II normierte Höhe einer Leistungsminderung von 30 % des maßgebenden Regelbedarfs ist nach den derzeitigen Erkenntnissen verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Zwar ist schon die Belastungswirkung dieser Sanktion außerordentlich und die Anforderungen an ihre Verhältnismäßigkeit sind entsprechend hoch. Doch kann sich der Gesetzgeber auf plausible Annahmen stützen, wonach eine solche Minderung der Grundsicherungsleistungen auch aufgrund einer abschreckenden Wirkung dazu beiträgt, die Mitwirkung zu erreichen, und er kann davon ausgehen, dass mildere Mittel nicht ebenso effektiv wären. Zumutbar ist eine Leistungsminderung in Höhe von 30 % des maßgebenden Regelbedarfs jedoch nur, wenn in einem Fall außergewöhnlicher Härte von der Sanktion abgesehen werden kann und wenn die Minderung nicht unabhängig von der Mitwirkung der Betroffenen starr drei Monate andauert.
- aa) Der in § 31a Abs. 1 Satz 1 SGB II geregelten Leistungsminderung in Höhe von 30 % des Regelbedarfs ist im Ergebnis eine generelle Eignung zur Erreichung ihres Zieles, durch Mitwirkung die Hilfebedürftigkeit zu überwinden, nicht abzusprechen. Der gesetzgeberische Einschätzungsspielraum ist zwar begrenzt, weil das grundrechtlich geschützte Existenzminimum berührt ist. Doch genügt die Annahme, die Sanktion trage zur Erreichung ihrer Ziele bei, den verfassungsrechtlichen Anforderungen, weil der Gesetzgeber jedenfalls von einer abschreckenden ex ante-Wirkung dieser Leistungsminderung ausgehen kann. Zudem hat er Vorkehrungen getroffen, die den Zusammenhang zwischen der Mitwirkungspflicht zwecks eigenständiger Existenzsicherung und der Leistungsminderung zu deren Durchsetzung stärken.
Auch die Einschätzung des Gesetzgebers, dass eine solche Sanktion zur Durchsetzung von Mitwirkungspflichten erforderlich ist, hält sich noch in seinem Einschätzungsspielraum. Die gesetzgeberische Annahme, dass mildere, aber gleich wirksame Mittel nicht zur Verfügung stehen, ist hinreichend tragfähig. Es erscheint jedenfalls plausibel, dass eine spürbar belastende Reaktion die Betroffenen dazu motivieren kann, ihren Pflichten nachzukommen, und eine geringere Sanktion oder positive Anreize keine generell gleichermaßen wirksame Alternative darstellen.
Die Regelung verletzt insgesamt auch nicht die hier strengen Anforderungen der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne.
- bb) Hingegen genügt die weitere Ausgestaltung dieser Sanktion zur Durchsetzung legitimer Mitwirkungspflichten den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht. Die Vorgabe in § 31a Abs. 1 Satz 1 SGB II, den Regelbedarf bei einer Pflichtverletzung ohne weitere Prüfung immer zwingend zu mindern, ist jedenfalls unzumutbar. Der Gesetzgeber stellt derzeit nicht sicher, dass Minderungen unterbleiben können, wenn sie außergewöhnliche Härten bewirken, insbesondere weil sie in der Gesamtbetrachtung untragbar erscheinen. Er muss solchen Ausnahmesituationen Rechnung tragen, in denen es Menschen zwar an sich möglich ist, eine Mitwirkungspflicht zu erfüllen, die Sanktion aber dennoch im konkreten Einzelfall aufgrund besonderer Umstände unzumutbar erscheint.
- cc) Nach der hier vorzunehmenden Gesamtabwägung ist es auch unzumutbar, dass die Sanktion der Minderung des Regelbedarfs nach § 31a Abs. 1 Satz 1 SGB II unabhängig von der Mitwirkung, auf die sie zielt, immer erst nach drei Monaten endet. Der starr andauernde Leistungsentzug überschreitet die Grenzen des gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums. Da der Gesetzgeber an die Eigenverantwortung der Betroffenen anknüpfen muss, wenn er existenzsichernde Leistungen suspendiert, weil zumutbare Mitwirkung verweigert wird, ist dies nur zumutbar, wenn eine solche Sanktion grundsätzlich endet, sobald die Mitwirkung erfolgt. Die Bedürftigen müssen selbst die Voraussetzungen dafür schaffen können, die Leistung tatsächlich wieder zu erhalten. Ist die Mitwirkung nicht mehr möglich, erklären sie aber ihre Bereitschaft dazu ernsthaft und nachhaltig, muss die Leistung jedenfalls in zumutbarer Zeit wieder gewährt werden. Auch hier ist der sonst weite Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers begrenzt, weil die vorübergehende Minderung existenzsichernder Leistungen im durch Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG grundrechtlich geschützten Bereich harte Belastungen schafft, ohne dass sich die existenziellen Bedarfe der Betroffenen zu diesem Zeitpunkt verändert hätten.
- b) Die im Fall der ersten wiederholten Verletzung einer Mitwirkungspflicht nach § 31a Abs. 1 Satz 2 SGB II vorgegebene Minderung der Leistungen des maßgebenden Regelbedarfs in einer Höhe von 60 % ist nach den derzeit vorliegenden Erkenntnissen nicht mit dem Grundgesetz vereinbar. In der Gesamtabwägung der damit einhergehenden gravierenden Belastung mit den Zielen der Durchsetzung von Mitwirkungspflichten zur Integration in den Arbeitsmarkt ist die Regelung in der derzeitigen Ausgestaltung auf Grundlage der derzeitigen Erkenntnisse über die Eignung und Erforderlichkeit einer Leistungsminderung in dieser Höhe verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigen. Zwar ist es nicht ausgeschlossen, erneut zu sanktionieren, wenn sich eine Pflichtverletzung wiederholt und die Mitwirkungspflicht tatsächlich nur so durchgesetzt werden kann. Doch ist die Minderung in der Höhe von 60 % des Regelbedarfs unzumutbar, denn die hier entstehende Belastung reicht weit in das grundrechtlich gewährleistete Existenzminimum hinein.
- aa) Der Gesetzgeber hat zwar Vorkehrungen getroffen, um zu verhindern, dass Menschen durch eine Sanktion die Grundlagen dafür verlieren, überhaupt wieder in Arbeit zu kommen. Sie beseitigen aber die verfassungsrechtlichen Bedenken nicht. Der Gesetzgeber kann sich bei der Minderung um 60 % des maßgebenden Regelbedarfs nicht auf tragfähige Erkenntnisse dazu stützen, dass die erwünschten Wirkungen bei einer Sanktion in dieser Höhe tatsächlich erzielt und negative Effekte vermieden werden. Die Wirksamkeit dieser Leistungsminderung ist bisher nicht hinreichend erforscht. Wenn sich die Eignung tragfähig belegen lässt, Betroffene zur Mitwirkung an der Überwindung der Hilfebedürftigkeit durch Erwerbsarbeit zu veranlassen, mag der Gesetzgeber ausnahmsweise auch eine besonders harte Sanktion vorsehen. Die allgemeine Annahme, diese Leistungsminderung erreiche ihre Zwecke, genügt aber angesichts der gravierenden Belastung der Betroffenen dafür nicht. Es ist im Übrigen auch zweifelhaft, dass einer wiederholten Pflichtverletzung nicht durch mildere Mittel hinreichend effektiv entgegengewirkt werden könnte, wie durch eine zweite Sanktion in geringerer Höhe oder längerer Dauer.
Die Zweifel an der Eignung dieser Leistungsminderung in Höhe von 60 % des maßgebenden Regelbedarfs beseitigt die Regelung zu möglichen ergänzenden Leistungen in § 31a Abs. 3 Satz 1 SGB II nicht, da ihre Ausgestaltung den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht hinreichend Rechnung trägt.
- bb) Im Übrigen ergeben sich auch bei der Minderung in Höhe von 60 % des Regelbedarfs nach § 31a Abs. 1 Satz 2 SGB II die genannten Zweifel daran, dass die Sanktion auch in erkennbar ungeeigneten Fällen zwingend vorgegeben ist und unabhängig von jeder Mitwirkung starr drei Monate andauern muss.
- c) Der vollständige Wegfall des Arbeitslosengeldes II nach § 31a Abs. 1 Satz 3 SGB II ist auf Grundlage der derzeitigen Erkenntnisse mit den verfassungsrechtlichen Maßgaben nicht vereinbar. Hier entfallen neben den Geldzahlungen für den maßgebenden Regelbedarf hinaus auch die Leistungen für Mehrbedarfe und für Unterkunft und Heizung sowie die Beiträge zur gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung. Daher bestehen bereits Zweifel, ob damit die Grundlagen der Mitwirkungsbereitschaft erhalten bleiben. Es liegen keine tragfähigen Erkenntnisse vor, aus denen sich ergibt, dass ein völliger Wegfall von existenzsichernden Leistungen geeignet wäre, das Ziel der Mitwirkung an der Überwindung der eigenen Hilfebedürftigkeit und letztlich der Aufnahme von Erwerbsarbeit zu fördern.
- aa) Auch gegen die Erforderlichkeit dieser Sanktion bestehen erhebliche Bedenken. Der grundsätzliche Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers ist hier eng, weil die Sanktion eine gravierende Belastung im grundrechtlich geschützten Bereich der menschenwürdigen Existenz bewirkt. Er ist überschritten, weil in keiner Weise belegt ist, dass ein Wegfall existenzsichernder Leistungen notwendig wäre, um die angestrebten Ziele zu erreichen. Es ist offen, ob eine Minderung der Regelbedarfsleistungen in geringerer Höhe, eine Verlängerung des Minderungszeitraumes oder auch eine teilweise Umstellung von Geldleistungen auf Sachleistungen und geldwerte Leistungen nicht genauso wirksam oder sogar wirksamer wäre, weil die negativen Effekte der Totalsanktion unterblieben.
- bb) Schon angesichts der Eignungsmängel und der Zweifel an der Erforderlichkeit einer derart belastenden Sanktion zur Durchsetzung der Mitwirkungspflichten ergibt sich in der Gesamtabwägung, dass der völlige Wegfall aller Leistungen auch mit den begrenzten Möglichkeiten ergänzender Leistungen bereits wegen dieser Höhe nicht mit den hier strengen Anforderungen der Verhältnismäßigkeit vereinbar ist.
Unabhängig davon hat der Gesetzgeber auch im Fall eines vollständigen Wegfalls des Arbeitslosengeldes II dafür Sorge zu tragen, dass die Chance realisierbar bleibt, existenzsichernde Leistungen zu erhalten, wenn zumutbare Mitwirkungspflichten erfüllt werden oder, falls das nicht möglich ist, die ernsthafte und nachhaltige Bereitschaft zur Mitwirkung tatsächlich vorliegt. Anders liegt dies, wenn und solange Leistungsberechtigte es selbst in der Hand haben, durch Aufnahme einer ihnen angebotenen zumutbaren Arbeit ihre menschenwürdige Existenz tatsächlich und unmittelbar durch die Erzielung von Einkommen selbst zu sichern. Wird eine solche tatsächlich existenzsichernde und zumutbare Erwerbstätigkeit ohne wichtigen Grund verweigert, obwohl im Verfahren die Möglichkeit bestand, dazu auch etwaige Besonderheiten der persönlichen Situation vorzubringen, kann ein vollständiger Leistungsentzug zu rechtfertigen sein.
III. Bis zum Inkrafttreten einer Neuregelung bleibt die – für sich genommen verfassungsrechtlich nicht zu beanstandende – Leistungsminderung in Höhe von 30 % nach § 31a Abs. 1 Satz 1 SGB II mit der Maßgabe anwendbar, dass eine Sanktionierung nicht erfolgen muss, wenn dies im konkreten Einzelfall zu einer außergewöhnlichen Härte führen würde. Die gesetzlichen Regelungen zur Leistungsminderung um 60 % sowie zum vollständigen Leistungsentzug (§ 31a Abs. 1 Sätze 2 und 3 SGB II) sind bis zu einer Neuregelung mit der Maßgabe anwendbar, dass wegen wiederholter Pflichtverletzung eine Leistungsminderung nicht über 30 % des maßgebenden Regelbedarfs hinausgehen darf und von einer Sanktionierung auch hier abgesehen werden kann, wenn dies zu einer außergewöhnlichen Härte führen würde. § 31b Abs. 1 Satz 3 SGB II zur zwingenden dreimonatigen Dauer des Leistungsentzugs ist bis zu einer Neuregelung mit der Einschränkung anzuwenden, dass die Behörde die Leistung wieder erbringen kann, sobald die Mitwirkungspflicht erfüllt wird oder Leistungsberechtigte sich ernsthaft und nachhaltig bereit erklären, ihren Pflichten nachzukommen.
Fragt sich den nur, in wieweit selbst eine Kürzung des Existenzminimums – was ALG II ja in sich darstellt – um 30% rechtfertigt! Da der ALG II-Satz ja an einen Warenkorb gekoppelt ist,
sollte da den wohl auch geregelt sein, an welcher Stelle da die 30% greifen sollen! Im Grunde ist es mal wieder gar nichts und dürfte wieder zu Klagen führen!
Tja, in allen EHREN … natürlich sollte jeder sich darum bemühen, seine Existenz selbst zu bestreiten. ABER: Wenn das SGB II oder SGB XII greifen, wieso kann der Staat dann noch eine Kürzung als RECHTMÄßIG akzeptieren? ALG ist ein Existenzminimum … irgendwie verstehe ich dieses „Rechtssystem“ nicht mehr … Im Landkreis Göttingen zickt ja auch die Stadt/Landkreis rum, wenn es um bezahlbaren Wohnraum geht. WO soll das noch alles hinführen ?
WernerK – genau so sehe ich das auch!
Wo ein Existenzminimum gegeben ist, entziehe ich dem Betroffenen auch noch mehr!
Was im Umkehrprinzip heißt, man akzeptiert hier eindeutig, dass hier im Grunde auch keine Mitwirkungspflicht mehr gegeben ist!
Wo nehme ich die 30%, 10%, solcher Sanktion her?
Zahl ich kein Strom, sag ich OK den Betrag entnehme ich dem teil für ÖPNV usw.
Hallo Hartmut Heitmann,
ich habe mit der ganzen RECHTsprechung so meine lieben Probleme. Nicht das ich abstreite, das es auch Pflichten für den Empfänger gibt, aber ich sehe die Sache irgendwie anders. Wer einmal in Lohn & Brot war, der weiß wie toll es ist, (Beispiel !) 1500 Euro/Monat zu haben. Klar, Miete etc. gehen davon ab, aber alleine DIESE Aussicht ist für mich alleine schon Motivation, einen Job zu suchen. Wenn ich daran denke, wie ein sanktionierter den Monat leben soll ? 30% weniger ? 30% von was ? Von der Nahrung abzwacken ? Den Anteil vom Strom einbehalten ? Die Miete kürzen ? Alle diese Wege sind ein Weg in die unumkehrbarkeit finde ich…da wird ein Count-Down gestartet, Menschen in eine VERZWEIFLUNG zu drücken. Es gibt da auch krasse Unterschiede, wie z.B. mit einer „Minirente“ umgegangen wird. Wenn ich das richtig verstehe wird eine Rente (von der Rentenanstalt) von 200 € VOLL im ALG II oder ALG XII angerechnet. Eine ZUSATZRENTE in Höhe (Riester oder Rürup) von 212 € aber wird als FREIBETRAG angerechnet….Auch hier sehe ich in der Politik ein VERSAGEN….warum wird ein Mensch – der durch einen Unfall oder Krankheit – aus dem Erwerbsleben fliegt, so bestraft ? Manchmal hat man das Gefühl das sind keine Sachbearbeiter, sondern Maschinen, die mit vehemenz Argumente suchen, um den Empfänger klein zu halten. Deswegen – glaube ich zumindest – das bei den letzten Landtagswahlen die >>alleingelassenen<>> da oben <<>> die da unten <<< ! ! !
„Manchmal hat man das Gefühl das sind keine Sachbearbeiter, sondern Maschinen, die mit vehemenz Argumente suchen, um den Empfänger klein zu halten.“
Sachbearbeiter sind so unterschiedlich, wie Menschen eben unterschiedlich sind. Leider sind unter Ihnen viele dumm genug sich mit dem System zu identifizieren, statt mit ihren Kunden zu solidarisieren, aber das ist in der Bevölkerung, die über faule Hartzer schimpft, nicht anders.
„Wenn das SGB II oder SGB XII greifen, wieso kann der Staat dann noch eine Kürzung als RECHTMÄßIG akzeptieren?“
Weil seit Vorgestern nicht mehr Menschenwürde die Leitschnur ist der sich alles andere unterzuordnen hat, sondern mir ihr verfahren werden kann, wie man will, solange es nicht unverhältnismäßig ist. Nun ist es eben verhältnismäßig, die Menschenwürde auf 70% zu reduzieren, wenn man sich davon erhofft, ein paar Leute in Ausbeuterjobs pressen zu können. Aber hey, nicht traurig sein, Wirtschaft gegen Menschenwürde 3:7 ist doch immer noch was! Außer natürlich, das Wachstum wird schwächer. Kann schon sein dass man dann auf 4:6 hochgehen muss. Oder 5:5 oder so. Aber im im richtigen Verhältnis!
Ich zitiere aus dem Urteil des Bundesverfassungsgericht:
„Mit dieser Begründung hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts mit heute verkündetem Urteil zwar die Höhe einer Leistungsminderung von 30 % des maßgebenden Regelbedarfs bei Verletzung bestimmter Mitwirkungspflichten nicht beanstandet. Allerdings hat er auf Grundlage der derzeitigen Erkenntnisse die Sanktionen für mit dem Grundgesetz unvereinbar erklärt, soweit die Minderung nach wiederholten Pflichtverletzungen innerhalb eines Jahres die Höhe von 30 % des maßgebenden Regelbedarfs übersteigt oder gar zu einem vollständigen Wegfall der Leistungen führt.“
Zitatende!
Frage hierzu:
Was passiert, wenn ein(e) Hartz IV – Empfänger(in) zum Beispiel um 30 % sanktioniert wird, weil diese(r) eine Arbeitsstelle oder „Maßnahme“ ablehnt und einer späteren Meldeaufforderung im selben Jahr nicht nachkommt (10 % Sanktionen), bleibt es dann bei 30 % und nicht gesamt bei 40 %, weil ja nur maximal 30 % im selben Jahr sanktioniert werden darf?!
(Zur Vermeidung von Mißverständen, ich wurde als Hartz IV – Empfänger nie sanktioniert, habe auch nicht vor sanktioniert zu werden).
„… bleibt es dann bei 30 % und nicht gesamt bei 40 %, weil ja nur maximal 30 % im selben Jahr sanktioniert werden darf?!“
Würde ich auch so sehen, wegen Würde und so, die zu 70% erhalten bleiben muss.
Wer hat eigentlich das Recht dazu zu bestimmen, WO bei mir (als Beispiel) meine WÜRDE anfängt oder endet? Wenn ich SO argumentiere, bin ich nicht besser wie die Leute, die 35 die Macht übernahmen.
Nein, wer so argumentiert, steht sehr fest auf dem Boden Grundgesetzes. In der Weimarer Reichsverfassung von 1919 waren die Grundrechte ein „zahnloser Tiger“ (Staatszielbestimmungen) und es gab kein Gericht, welches über die Einhaltung der Grundrechte wachte. Aus dieser Erfahrung haben die Väter (tatsächlich war keine einzige Mutter dabei) des Grundgesetzes gelernt: Die Grundrechte sind jetzt unmittelbar geltendes Recht (Art. 1 Abs. 3 GG) und es gibt ein Gericht, welches über deren Einhaltung wacht, nämlich das Bundesverfassungsgericht (Art. 92, 93 Abs. 1 Nr. 4a GG). Der Vergleich mit 1933 liegt also wirklich einigermaßen neben der Sache. Klar dürfte im Übrigen auch sein, dass jedenfalls nicht jeder einzelne darüber bestimmt, wie viel Geld er von der Allgemeinheit bekommt, damit er sein individuelles Würdekonzept leben kann.
Gut so, dass das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) heute am 05. November 2019 so geurteilt hat.
Es ist aber eine Schande für unsere Demokratie, dass es ca. 12 Jahre gedauert hat, bis endlich ein Sozialgericht (SG), nämlich das SG Gotha aus Thüringen, Zweifel an der Rechtmäßigkeit von Sanktionen hatte und die Frage dem BVerfG zur Prüfung vorgelegt hat.
Eine Vielzahl von Sozialrichterinnen in der Bundesrepublik Deutschland hätte dies auch schon viel früher tun können, aber das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland haben diese wohl verlegt gehabt.
Dann hätten diese auch schon eher folgende Artikel dort lesen und anwenden können:
https://www.gesetze-im-internet.de/gg/BJNR000010949.html
Art 1
(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
…
Art 20
(1) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.
…
Art 100
(1) Hält ein Gericht ein Gesetz, auf dessen Gültigkeit es bei der Entscheidung ankommt, für verfassungswidrig, so ist das Verfahren auszusetzen und, wenn es sich um die Verletzung der Verfassung eines Landes handelt, die Entscheidung des für Verfassungsstreitigkeiten zuständigen Gerichtes des Landes, wenn es sich um die Verletzung dieses Grundgesetzes handelt, die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes einzuholen. Dies gilt auch, wenn es sich um die Verletzung dieses Grundgesetzes durch Landesrecht oder um die Unvereinbarkeit eines Landesgesetzes mit einem Bundesgesetze handelt.
…
Aber es handelt sich ja bei den Hartz IV – EmpfängerInnen um die Schwächsten der Gesellschaft, die sich nicht so gut wehren können, da ist ja die Anwendung des Grundgesetzes durch die SozialrichterInnen nicht so wichtig! Die Schwächsten haben ja auch keine „Lobby“ …
„Gut so, dass das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) heute am 05. November 2019 so geurteilt hat.“
Das sehe ich anders.
„Es ist aber eine Schande für unsere Demokratie, dass es ca. 12 Jahre gedauert hat, bis endlich ein Sozialgericht (SG), nämlich das SG Gotha aus Thüringen, Zweifel an der Rechtmäßigkeit von Sanktionen hatte und die Frage dem BVerfG zur Prüfung vorgelegt hat.“
Mit Demokratie hat das weniger zu tun, mehr mit der Konkretisierung von Rechtsstaat, d.h. mit unserer Justiz. Es wird nie bekannt, wieviele es schon versucht haben, aber gescheitert sind. Etwa weil sie schon keine PKH bekommen haben, weil das Gericht sich ganz sicher war, dass alles verfassungsmäßig ist.
„Die fundamentale Ursache für die Probleme ist in der modernen Welt, dass die Dummen so absolut sicher und die Klugen so voller Zweifel sind.“
„The fundamental cause of the trouble is that in the modern world the stupid are cocksure while the intelligent are full of doubt.“
Bertrand Russell: „The Triumph of Stupidity“ aus „Mortals and Others. American Essays 1931-1935“ (Routledge Chapman & Hall, 1998)
Es lässt einen schon nachdenklich werden. 14 Jahre lang haben mehr oder weniger alle 67 Sozialgerichte und 14 Landessozialgerichte in Deutschland sowie alle SGB II-Grundsicherungsträger verfassungswidrige Sanktionsregelungen angewendet und damit vermutlich rund eine Millionen Leistungsberechtigte in ihren Grundrechten verletzt. Dieser Grundrechtsverletzungen – die nicht wieder gutzumachen sind und für die kein Leistungsberechtigter Entschädigung erhält – werden von Verwaltung und Justiz im Grunde mit einem Schulternzucken zur Kenntnis genommen. „Wir haben nur das Recht angewandt“, wir kennen dieses Argument. Aber stimmt das unter der Geltenung des Grundgesetzes noch? Natürlich nicht: „Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.“, Art. 1 Abs. 3 GG). Dass nur das SG Gotha sich zu einer Richtervorlage nach § 100 Abs. 1 BVerfGG durchringen konnte, ist im Grunde ein Armutszeugnis für die deutsche Sozialgerichtsbarkeit. Aber auch die Anwaltschaft – auch ich – muss sich fragen lassen: Hätten wir gegen alle Sanktionen (etwa bei mehr als 30 %-Sanktionen und und Sanktionen bei U 25) Widerspruch und Klage erheben und eine Grundrechtsverletzung rügen müssen? Wohl wissend, dass wir damit vor „unseren“ SG und „unserem“ SH LSG (für SH kann ich das sagen) „keinen Blumentopf“ gewinnen konnten (wie es in anderem Kontext eine vorsitzende Richterin am SH LSG mal recht salopp formulierte). Die Antwort für die Anwaltschaft lautet: Jein. Man hätte vielleicht „Musterverfahren“ anstreben können. Aber Anwälte müssen ihre Mandanten eben auch über die Prozess- und vor allem Kostenrisiken aufklären. Und in Schleswig-Holstein – soviel lässt sich sagen – hätte es für derartige Klagen nicht einmal PKH gegeben. Traurig, verfassungswidrig, akademisch betrüblich – aber die Realität. Ein berühmter Rechtspositivist hat es mal so formuliert: „The prophecies of what the courts will do in fact, and nothing more pretentious, are what I mean by the law.“ Der Satz ist falsch, das ist nicht Recht. Aber für eine wirtschaftlich vernünftige Mandantenberatung sollte er beachtet werden.
Das Schlimme daran ist, dass hier auch mit der Existenz von Betroffenen gespielt wurde!
In meinem Bekanntenkreis gibt es allein 2 Fälle, in denen es 100% Sanktionen gab,
was zum Verlust des Wohnraumes führte, weil die Betroffenen einfach aufgegeben haben.
Die eine Partei ist inzwischen im Winter 2017 erfroren und zu der anderen Person liegt mir nichts vor, was nun mit ihm ist! In meinen Augen ist hier systematisch mit der Gesundheit und Leben von Menschen gespielt worden!
Einige Aussagen der Sachbearbeiter waren im Unterton so von Ironie und Desinteresse gefärbt, dass es einem die pure Wut in den Körper getrieben hat!
Zumindest der 2017 Erfrorene hat den besagten richterlichen „Blumentof“ nun bekommen!
Ich hoffe, da stand dann „Hartz IV“ auf dem Totenschein, denn sonst heißt es weiterhin „Da ist doch alles übertrieben. Ist noch keiner an Hartz IV gestorben“.
Ich bitte um Verzeihung. Ich weiß, es ist ein ernstes Thema, aber manchmal kann ich es einfach nicht mehr ertragen und dann schaltet meine Psyche zum Selbstschutz auf schwarzen Humor um.
Die Selbstkritik ehrt. Man hätte gegen die PKH-Verweigerung vorgehen können. Das kann der Mandant ganz allein, denn ein Vortrag wie von einem Rechtskundigen darf von ihm nicht verlangt werden. Denkbar ist, dass das L/SG mit einer Mißbrauchsgebührandrohung reagiert hätte. In dem Fall wäre das Verfahren für erledigt zu erklären und gegen diese Drohung vorzugehen, nach dem Grundsatz, dass der Bürger nicht gezwungen werden darf, ein verfassungswidriges Gesetz zu übertreten, nur um dieses im Rechtsweg angreifen zu können.
„Aber für eine wirtschaftlich vernünftige Mandantenberatung sollte er beachtet werden.“
Ich glaube nicht, dass der obige Weg erfolgreich gewesen wäre, weil das BVerfG unter Vosskuhle noch weniger gern Bürger dort sieht als frühere Besetzungen, wenn man sich seine Gejammere und seine Vorstellungen über Mißbrauchsgebühren ansieht. Da kommt die Allzweckwaffe „begründungslose Nichtannahme“ zum Einsatz und das war’s dann.
Ich glaube nicht an die Marktwirtschaft (als Ideologie, nicht etwa als Mechanismus) und halte daher Wirtschaftlichkeitsüberlegungen von vornherein für verwehrt, wie sie die Gerichte gerne mal anwenden um PKH zu verweigern. Wer gegen andere Verfassungsverstöße vorgeht, muss sich auch nicht fragen lassen, ob das für ihn „wirtschaftlich attraktiv“ ist. Ich sehe keinen Grund, dass das da, wo zufällig die Verletzung sich als Geldbetrag berechnen lässt, es anders sein sollte. Meiner Ansicht nach, lässt das tief in die Psyche der Gericht blicken, die sich den Hartzer offenbar gar nicht mehr anders vorstellen können, als einen Raffke, dem es nur darum geht, dem armen Staat möglichst viel Geld abzupressen.
Wann ist das eigentlich geschehen, als ideelle Gründe, wie eine verfassungsgemäße Rechtsordnung zu wünschen, als Rechthaberei abqualifiziert werden? Seit wann ist eine Klage aus Prinzip, seit wann sind Prinzipien etwas schlechtes? Und das im Recht, das aus formalisierten Prinzipien besteht. Wann werden endlich Unternehmer freigesprochen, die gegen Gesetze verstoßen, aber damit dem Wirtschaftsstandort Deutschland dienen?
Ja, der Mandant allein kann das natürlich machen. Dann ist aber eben der Anwalt raus. Aber klar, beraten kann man über diese Möglichkeit.
Im Übrigen bleibe ich unentschlossen: Auf der einen Seite dürfte es seit Inkrafttreten des SGB II keine allzu verwegene These gewesen sein anzunehmen, dass insbesondere die Sanktionsregelungen für U 25 einer verfassungsrechtlichen Prüfung (auch vor dem Hintergrund des Art. 3 GG) kaum standhalte dürften (worüber das BVerfG bislang ja noch gar nicht entschieden hat). Tatsächlich gab es aber wohl praktisch keine Richtervorlagen (aus Überzeugung der Richterschaft oder aus Gründen der Arbeitsvermeidung, denn auch Richetvorlagen machen einen Haufen Arbeit, wenn man nicht – wie das SG Gotha – einen Fremd-Textbaustein benutzt; was ja aber in Ordnung geht, wie wir nun wissen). Anwälte, die nicht gerade im Lotto gewonnen haben, konnten diese Verfahren zum BVerfG faktisch kaum führen (weil keine Mandanten da waren, die die Arbeit hätten bezahlen können) und die Erfolgsaussichten waren und sind (politisch gewollt oder nicht, ich weiß es nicht) absurd hoch (was das BVerfG nicht annehmen will, nimmt es nicht an, Punktum). Deswegen erscheint es mir nach wie vor zweifelhaft, aus grundsätzlich/prinzipiellen Erwägungen die Instanzgerichte mit solchen Verfahren zu belasten. Denn denen fehlen dann schlicht die Ressourcen für die faktisch erfolgversprechenden Verfahren – zum Nachteil der Kläger in diesen Verfahren. Die Vorstellung, das Rechtssystem müsse diese Infrastruktur dann eben einfach schaffen (liest man von Interessenvertretungen von Arbeitslosen ja immer wieder), halte ich – wie an anderer Stelle auch – für einigermaßen Weltfremd. Es gibt – auch bei uns – Grenzen der Finanzierbarkeit und Leistbarkeit. Nicht nur bei Gerichten, auch in Krankenhäusern, Altenheimen, bei Ärzten, Pflegediensten, Behörden usw.
„Dieser Grundrechtsverletzungen – die nicht wieder gutzumachen sind und für die kein Leistungsberechtigter Entschädigung erhält – werden von Verwaltung und Justiz im Grunde mit einem Schulternzucken zur Kenntnis genommen.“
Es gäbe da noch die Nichtigkeit.
Die leider im Grundsicherungsrecht vom BVerfG praktisch nie festgestellt wird, weil die fiskalpolitischen Auswirkung als zu groß angesehen werden (Stichwort Haushaltshoheit des Parlaments). Deswegen hilft die Entscheidung Betroffenen, deren Klageverfahren für zurückliegende Zeiträume noch laufen, eben auch nicht. Klar, das ist dem Bürger kaum zu vermitteln: Sanktion verfassungswidrig, aber leider musst Du die noch hinnehmen, weil die Entscheidung des BVerfG eben für Dich zu spät kam. Natürlich kennen wir das auch an anderen Stellen im Recht, man denke etwa an die rund 50.000 nach § 175 StGB a.F. verurteilten Homosexuellen und die gruselige Entscheidung des BVerfG hierzu (BVerfG, Urteil vom 10.05.1957 – 1 BvR 550/52). Man schämt sich für sein Land und seine Juristen (immer noch), wenn man bedenkt, wie lange es gedauert hat, bis dieses Nazi-Unrecht endlich aus dem StGB verbannt wurde (nachzulesen hier: https://de.wikipedia.org/wiki/Homosexualit%C3%A4t_in_Deutschland#cite_note-18). Aber gut, das führt jetzt vom Thema weg.
Hallo Herr Hildebrandt,
natürlich führt es vom Thema weg, ist aber noch immer Thema (leider). Entweder wird auf den schwächsten „herumgekloppt“ oder auf die „seltsamsten“. Mittlerweile kann ich mir jetzt vorstellen, wieso einige Populisten reichlich >zulauf< bekommen, weil selbst die Randgruppen (Hartz IV, Schwule, Lesben usw.) der normalen Politik nicht mehr trauen. Somit haben eben die seltsamsten Vögel reichlich Zulauf, weil die anderen aufgegeben haben. Nur unter einer so schrägen Politik (Sanktionen sind legal, wir sparen damit viel Geld) können Populisten gedeihen … man kann nur noch erwägen, in ein menschenfreundlicheres Land umzusiedeln …
… wobei ich jetzt schule nicht so „seltsam“ finde …
Hallo Herr Nickels,
ich stimme Ihnen zu, auch die von Ihnen genannten Beispiele finde ich gut, aber es wird kaum angewandt:
Art 1
(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
…
Art 20
(1) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.
…
Ein Bekannter versucht gerade vor einem Sozialgericht klären zu lassen, warum seine „kleine Rente“ (ca. 200€ von der Deutschen Rentenanstalt) bei der GruSi (SGB XII) VOLL angerechnet wird, aber eine >zusätzliche Altersvorsorge< einen FREIBETRAG von 212 € auslöst …
Wo ist dort "wir sind vor dem Gesetz alle gleich"? Oder: Warum werden zusätzliche Altersvorsorgen von Besserverdienenden mit einem Freibetrag "blohnt", nur der, der z.B. durch einen Unfall (oder Krankheit) aus dem Berufsleben fliegt, wird wieder einmal bestraft. Warum das der SGB XII – Bezieher, seine kleine Rente nicht behalten? Wie sollte dieser Betroffene reagieren, außer zu resignieren?
Zum Verständnis für alle: § 82 Abs. 4 SGB XII in der Fassung ab 01.01.2018 regelt:
(4) Bei der Hilfe zum Lebensunterhalt und Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung ist ferner ein Betrag von 100 Euro monatlich aus einer zusätzlichen Altersvorsorge der Leistungsberechtigten zuzüglich 30 vom Hundert des diesen Betrag übersteigenden Einkommens aus einer zusätzlichen Altersvorsorge der Leistungsberechtigten abzusetzen, höchstens jedoch 50 vom Hundert der Regelbedarfsstufe 1 nach der Anlage zu § 28.
Der Gesetzgeber begründet diese sonderbare Regelung so (BT-Drucks. 18/11286, Seite 49 ff.):
Absatz 4 regelt neu die Einführung eines Einkommensfreibetrags für zusätzliche Altersvorsorge. Ziel ist es, einen Anreiz zu setzen, zusätzliche Altersvorsorge zu betreiben. Insbesondere soll mit dem Betriebsrentenstärkungsgesetz eine höhere Verbreitung der betrieblichen Altersversorgung bei Geringverdienern erreicht werden. Flankierend hierzu wird daher ein Freibetrag für zusätzlich Altersvorsorge bei Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung geschaffen, um ein gesamtgesellschaftliches Signal zu setzen, dass sich freiwillige Altersvorsorge in jedem Fall lohnt. Dieses Signal soll es insbesondere den Sozialpartnern erleichtern, Tarifverträge über betriebliche Altersversorgung mit Breitenwirkung auch für Geringverdiener zu vereinbaren.
Bei der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung bleibt ein Sockelbetrag von 100 Euro aus einer zusätzlichen Altersvorsorge der Leistungsberechtigten zuzüglich 30 Prozent des übersteigenden Einkommens aus einer zusätzlichen Altersvorsorge der Leistungsberechtigten, höchstens jedoch 50 Prozent der Regelbedarfsstufe 1 nach der Anlage zu § 28, außer Betracht. Ein Leistungsberechtigter kann daher nach gegenwärtigem Stand (2016) bis zu 202 Euro als Freibetrag geltend machen. Welche Formen der zusätzlichen Altersvorsorge von dem Freibetrag nach Absatz 4 umfasst sind, regelt Absatz 5. Dieser definiert, dass jedes monatlich bis zum Lebensende ausgezahlte Einkommen, auf das der Leistungsberechtigte vor Erreichen der Regelaltersgrenze auf freiwilliger Grundlage Ansprüche erworben hat, und das dazu bestimmt und geeignet ist, die Einkommenssituation des Leistungsberechtigten zu verbessern, vom Freibetrag nach Absatz 4 umfasst ist. Damit werden Leistungen auf freiwilliger Grundlage zur Reduzierung der Bedürftigkeit nach Erreichen der Regelaltersgrenze privilegiert, unabhängig von ihrer Zugehörigkeit zu einem bestimmten Alterssicherungssystem und unabhängig von einer etwaigen staatlichen Förderung. Hierzu zählen beispielsweise auch Rentenzahlungen, die auf Zeiten einer freiwilligen Versicherung nach § 7 oder Zeiten einer Versicherungspflicht auf Antrag nach § 4 des Sechsten Buches beruhen. Ausgenommen sind hingegen alle Einnahmen, die der Leistungsberechtigte aus Zeiten einer Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung und vergleichbaren Versicherungspflichtsystemen sowie aus der Beamtenversorgung erzielt. Es sollen gerade vor Erreichen der Regelaltersgrenze auf freiwilliger Grundlage erworbene Ansprüche des Leistungsberechtigten honoriert werden, unabhängig davon ob für den Leistungsberechtigten vor Erreichen der Altersgrenze eine Versicherungspflicht bestand oder nicht. Vom Freibetrag umfasst sind allerdings grundsätzlich nur solche Einkommen, die als monatliche Leistungen bis zum Lebensende ausgezahlt werden. Denn nur bei solchen Auszahlungsformen ist gewährleistet, dass sie die Bedürftigkeit nach Überschreiten der Regelaltersgrenze dauerhaft reduzieren.
Dabei darf der Leistungsberechtigte nach Absatz 5 Satz 1 während des Leistungsbezugs grundsätzlich keine Kapitalabfindung des verbleibenden Rentenanspruchs verlangen können. Bei Bestehen eines solchen Kapitalwahlrechts ist das gesamte vorhandene Kapital zunächst als vorhandenes und verwertbares Vermögen einzusetzen, sofern es nicht als geschütztes Vermögen im Sinne von § 90 Absatz 2 und Absatz 3 SGB XII anzusehen ist. Das Merkmal, dass es sich um monatlich bis zum Lebensende ausgezahltes Einkommen handeln muss, dient daher dazu, nur solche Formen privater Altersvorsorge zu fördern, die die Hilfebedürftigkeit dauerhaft bis zum Lebensende reduzieren. Dies kann bei privaten, steuerlich nicht geförderten Verträgen zur Absicherung des Altersrisikos etwa dadurch erreicht werden, dass vor Bezug von Leistungen nach dem SGB XII auf das Recht zur Kapitalisierung zugunsten einer lebenslangen Auszahlung verzichtet wird. Eine Ausnahme von dem Grundsatz der monatlichen
Auszahlung regelt Absatz 5 Satz 3. Hiernach ist in Fällen, in denen bis zu zwölf Monatsleistungen aus einer zusätzlichen Altersvorsorge zusammengefasst werden, das Einkommen gleichmäßig auf den entsprechenden Zeitraum aufzuteilen. Damit wird das Ziel verfolgt, dass sich solche Zusammenfassungen, auf die der Leistungsbezieher zum Teil keine Einwirkungsmöglichkeit hat, nicht für ihn nachteilig in der Anwendung des Einkommensfreibetrags auswirken. Der Einkommensfreibetrag findet daher so Anwendung, als wäre die Auszahlung monatlich erfolgt. Solche Zusammenfassungen sind etwa für Basisrenten- und Altersvorsorgeverträge in § 10 Absatz 1 Nummer 2, Satz 3, 1 Halbsatz Einkommenssteuergesetz und in § 1 Absatz 1 Nummer 4, 2. Halbsatz Altersvorsorge-Zertifizierungsgesetz vorgesehen.
Nach Absatz 5 Satz 2 umfasst der Freibetrag für zusätzliche Altersvorsorge Bezüge aus betrieblicher Altersversorgung im Sinne des Betriebsrentengesetzes, Bezüge aus einem nach § 5 des Altersvorsorgeverträge-Zertifizierungsgesetzes zertifizierten Altersvorsorgevertrag (Riester-Renten) und Bezüge aus einem nach § 5a des Altersvorsorgeverträge-Zertifizierungsgesetzes zertifizierten Basisrentenvertrag (sogenannte Basis-Renten), soweit sie grundsätzlich die Anforderung einer lebenslangen Zahlung erfüllen. Damit wird zusätzliche Altersvorsorge insbesondere für Geringverdiener weiter gestärkt, denn in der Ansparphase werden staatlich geförderte Formen der Altersvorsorge im Rahmen des Freibetrags berücksichtigt. Zusammen mit dem neuen Freibetrag für die Auszahlungsphase wird daher ein deutliches Signal gesetzt, dass sich insbesondere die staatlich geförderten Formen der zusätzlichen Altersvorsorge in jedem Fall im Alter auszahlen. Auszahlungen aus dem nach § 90 Absatz 2 Nummer 2 geschützten Altersvorsorgevermögen, das sich der Leistungsempfänger gemäß den Zertifizierungsbedingungen nach dem Altersvorsorge-Zertifizierungsgesetz monatlich oder – bei Zusammenfassung der Monatszahlung nach Absatz 5 Satz 3 – regelmäßig bis zum Lebensende auszahlen lässt, sind damit vom Freibetrag nach Absatz 4 umfasst. Dies gilt auch, soweit bei Kleinbetragsrentenabfindungen im Sinne des § 93 Absatz 3 Satz 2 des Einkommenssteuergesetzes durch den ausgezahlten Betrag – ggf. unter Anrechnung bereits vorhandenen Vermögens
– die Vermögenfreigrenzen nach § 90 Absatz 2 Nummer 2 und Absatz 3 überschritten werden. Der die Vermögensfreigrenzen übersteigende Betrag ist – sofern er im Bedarfszeitraum zufließt – gemäß Absatz 7 Satz 2 als einmalige Einnahme anzusehen und auf einen Zeitraum von sechs Monaten zu verteilen, so dass die Auszahlungen in diesem Zeitraum vom Freibetrag nach Absatz 4 und 5 profitieren können.
Der neue Freibetrag für zusätzliche Altersvorsorge tritt zu den bisherigen Freibeträgen für Erwerbseinkommen hinzu. So kann ein Leistungsbezieher der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung gleichzeitig den Freibetrag nach Absatz 3 für sein Erwerbseinkommen und den Freibetrag nach Absatz 4 für seine zusätzliche Altersvorsorge geltend machen.
Absatz 6 übernimmt den mit dem Bundesteilhabegesetz in Absatz 3a eingeführten Freibetrag für Personen, die Hilfe zur Pflege und/oder Eingliederungshilfe erhalten, unverändert in die Neufassung des § 82. Satz 2 tritt wie geplant zum 1. Januar 2020 außer Kraft. Auch diese Personen können, sofern sie Leistungen der Grundsicherung erhalten, neben dem Freibetrag für Erwerbseinkommen auch einen Freibetrag für zusätzliche Altersvorsorge geltend machen.
Absatz 7 übernimmt den bisherigen Absatz 4, Sätze 1 und 2, unverändert in die Neufassung des § 82. Satz 3 regelt, dass auch Kleinbetragsrentenabfindungen im Sinne des § 93 Absatz 3 Satz 2 des Einkommenssteuergesetzes und § 3 Absatz 2 des Betriebsrentengesetzes, soweit sie nicht von den allgemeinen Vermögensfreibeträgen geschützt sind, ebenfalls gemäß Satz 1 auf 6 Monate aufzuteilen sind und so ebenfalls der Freibetragsregelung der Absätze 4 und 5 unterfallen. Auszahlungen zur Abfindung einer Kleinbetragsrente stellen keine schädliche Verwendung dar und können vom Riester-Vertragspartner des Leistungsempfängers auch ohne dessen Zutun veranlasst werden. Die freiwilligen Ansparungen sollen daher sozialhilferechtlich ebenfalls privilegiert werden, soweit dies verwaltungspraktisch
möglich ist.
Hallo Herr Hildebrandt,
ich hätte nie im Leben gedacht, das mein „EINWURF“ eine so lange Erklärung auslöst. Nur ist es im Leben, wie es ist. Ich kann Ihrer Ausführung leider nur bis zu einer gewissen Ecke folgen, ab da ist es für uns Laien – trotz Ihrer fantastischen Erklärungen – unverständlich. Für manche mag ich mich jetzt als Depp dargestellt haben, aber ich sage ehrlich und offen, ab wann ich es nicht verstehe, sicher gibt es hier oder da noch den einen oder anderen wie mich.
WENN ich es richtig verstanden habe, sind nur privilegierte Auszahlungen (Riester, Rürrup) für den Freibetrag einzusetzen? Dann gibt es genug Personen, die unter dieser Kurzsichtigkeit der Politiker leiden. Riester und Rürup wurden 2001 bzw. 2005 eingeführt. Dann gibt es Personen die zu diesem Zeitpunkt mit Ihrer Behinderung (und der vollen Erwerbsminderungsrente) zu kämpfen hatten. Somit ist dieser Personenkreis „außen“ vor. Warum gibt es hierfür keine Übergangsfristen, oder Ausnahmen? Wenn ich sehe, das wieder NUR Privilegierte einen Freibetrag bekommen, fühle ich mich ungerecht behandelt. Für mich sind 200€ ein Vermögen…200€ von der Rentenanstalt werden NICHT anerkannt, aber 200€ WEITERE Renten aus Rürrup und Riester werden als Freibetrag behandelt….UNGERECHTE WELT! Wieder ein Punkt, das dieses SGB nicht einen Pfifferling wert ist …
Das ist nicht meine Erklärung, sondern die amtliche Begründung des Gesetzgebers (die sich hier finden lässt:https://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/Thema-Rente/betriebsrentenstaerkungsgesetz.pdf?__blob=publicationFile&v=2). Und ja, ich sehe da auch eine Ungleichbehandlung und finde Zweifel daran, ob der Ziel des Gesetzgebers, Geringverdiener in die Arme privater Versicherungsunternehmen zu treiben (die ja die Rürup und Riester-Produkte anbieten), berechtigt. Letztlich ist auch das eine verfassungsrechtliche Frage: Gibt es für diese Differenzierung einen sachlichen Grund, der, gemessen an Art 3 GG, trägt?
Ich denke, ja. Sie haben Recht, warum drängt der Gesetzgeber – wie Sie berechtigterweise schreiben – Geringverdiener in die private Vorsorge? Ich möchte jetzt einmal pauschal behaupten, weil die Politik mittlerweile das „Tafelsilber“ verkauft hat, marode Banken rettet, und somit nicht mehr die finanziellen Mittel hat (oder haben will), um das Sozialsystem aufrecht zu halten. Ich verstehe auch das System nicht mehr, warum soviel Wert auf befristete Arbeitsverträge gelegt wurde … und Zeitarbeit … wäre es nicht besser, die Beschäftigten in einem Vollzeitjob zu haben? Soweit MIR bekannt ist, zahlen Geringverdiener kaum (oder nicht) in die Sozialsysteme ein … was zum Teufel soll also diese Politik?
Ich vertrete auch den Standpunkt das – angenommen – von den derzeitigen Arbeitslosen (SGB II bzw. XII Bezieher) maximal 1% keine Lust hat zu arbeiten, die könnte man locker mit durchziehen, ohne das unser System zusammenbrechen würde. Ich tippe bei 80 MIO Bürger auf ca. 10.000, und die, die fallen m.E. nicht ins Gewicht. Aber es ist ja heutzutage wichtiger Verträge abzuschließen, die (eigentlich) noch vor dem EU-Gericht lagen … so knallen mal mehrere hundert Millionen Euro zum Fenster raus … und die, die hätte man besser ins Sozialsystem oder Gesundheitssystem stecken können … aber man muss sich ja als Politiker profilieren 😦
P.S.: Herr Maschmeyer musste ja finanziert werden….
Plan nach BVerfG-Urteil: Höhere Hartz-IV-Kürzungen durch die Hintertür
https://www.sueddeutsche.de/politik/hartz-iv-bundesverfassungsgericht-kuerzungen-sanktionen-1.4698013
Wer hätte das gedacht, dass die „gewohnten Einsparungen“ in einer „Neuregelung“ nicht doch wieder eingearbeitet werden.
Ein Parlament, welches bis zum bitteren Ende, nachzulesen auf dem Server des Deutschen Bundestages, immer mehrheitlich im Tenor PRO Sanktionen diskutierte, wird am Ende allem zum Erhalt von Leistungskürzungen bei einem klein gerechneten Regelsatz johlend Beifall klatschend breite Zustimmung zollen!
Das Grundgesetz ist in der Bundesrepublik Deutschland doch zu einem zahnlosen Tiger generiert. Dabei spielen in dem gesamten Diskurs Leistungseinschränkungen durch Nichtbewilligung oder bis heute fehlerhaften Bewilligungen zum Nachteil Leistungsberechtigter keine Rolle.
Für mich persönlich stellt sich die Sachlage so dar, dass Grundrechtsfeinde in diesem, auch unserem Land, längst zum Erhalt des größten Niedriglohnsektor in Europa, die Oberhand gewonnen haben.
Das BVerfG hat leider viele Fragen offen gelassen. Bienert weist u.a. auf Rn. 209 im Urteil des BVerfG hin:
„Anders liegt dies folglich, wenn und solange Leistungsberechtigte es selbst in der Hand haben, durch Aufnahme einer ihnen angebotenen zumutbaren Arbeit (§ 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II) ihre menschenwürdige Existenz tatsächlich und unmittelbar durch die Erzielung von Einkommen selbst zu sichern. Ihre Situation ist dann im Ausgangspunkt derjenigen vergleichbar, in der keine Bedürftigkeit vorliegt, weil Einkommen oder Vermögen aktuell verfügbar und zumutbar einsetzbar sind. Wird eine solche tatsächlich existenzsichernde und im Sinne des § 10 SGB II zumutbare Erwerbstätigkeit ohne wichtigen Grund im Sinne des § 31 Abs. 1 Satz 2 SGB II willentlich verweigert, obwohl im Verfahren die Möglichkeit bestand, dazu auch etwaige Besonderheiten der persönlichen Situation vorzubringen, die einer Arbeitsaufnahme bei objektiver Betrachtung entgegenstehen könnten, ist daher ein vollständiger Leistungsentzug zu rechtfertigen.“
Er gelangt hinsichtlich etwaiger zusätzlicher Meldeversäumnisse zu Einschätzung: „Eine „Kombination“ einer 30-Prozent-Sanktion mit einer 10-Prozent-Sanktion bei Meldeversäumnis (§ 32 SGB II) dürfte aber nicht zwingend verfassungswidrig sein.“
https://rsw.beck.de/aktuell/meldung/UrteilsanmerkungFDSozVR201923
Da werden die Instanzgerichte wohl noch einiges zu klären haben.