Unerlaubt ortsabwesende Eltern: Volle Leistungen für die Unterkunft für die Kinder

Kinder unter 15 Jahren haben auch dann einen Anspruch auf Bürgergeld, wenn ihre Eltern unerlaubt ortsabwesend sind und deswegen nach § 7b SGB II kein Bürgergeld erhalten. Darüber hinaus haben sie einen Anspruch auf Leistungen für die Unterkunft auch in Höhe des auf ihre Eltern entfallenden Unterkunftskostenanteils.

In dem bereits in der August-Ausgabe des Hempels besprochenen Fall war eine alleinerziehende Mutter mit ihrem Kind über den Zeitraum der erteilten Zustimmung zur Ortsabwesenheit hinaus in ihrem Herkunftsland geblieben. Das Jobcenter Kiel hob deswegen die Leistungsbewilligung für die Mutter für die Tage ihrer unerlaubten Ortsabwesenheit auf. Der Sohn begehrte in der Folge vom Jobcenter Kiel die Übernahme auch des Teils der Unterkunftskosten, der auf seine Mutter entfiel und für den die Mutter aufgrund ihrer unerlaubten Ortsabwesenheit keine Leistungen erhalten hat – was das Jobcenter Kiel ablehnte. Das Sozialgericht gab dem Sohn Recht.

Zwar werden Bedarfe für die Unterkunft grundsätzlich nach dem sog. Kopfteilprinzip anerkannt, das heißt die Kosten der Unterkunft werden entsprechend der Anzahl der in der Wohnung lebenden Personen aufgeteilt. Ausnahmen von diesem Grundsatz werden indessen anerkannt, wenn der Unterkunftskostenanteil eines Mitglieds einer Bedarfsgemeinschaft etwa wegen einer bestandskräftigen Sanktion weggefallen ist. Eine Abweichung vom Kopfteilprinzip ist also aus bedarfsbezogenen Gründen möglich, wenn nur so ein menschenwürdiges Existenzminimum der weiteren Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft gewährleistet werden kann. So lag es auch in hier: Durch den bestandskräftigen Leistungsausschluss der Mutter war der Bedarf des Sohnes an Kosten der Unterkunft und Heizung unterdeckt, denn den auf seine Mutter entfallenden Kopfanteil musste der Sohn für diesen Zeitraum letztlich aus seinem Sozialgeld bestreiten.

(SG Kiel, Urteil vom 28.06.2024, S 33 AS 213/22, Berufung anhängig beim SH LSG, L 6 AS 76/24)

Erstveröffentlichung in HEMPELS 9/2024

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Bürgergeld für Kinder bei unerlaubter Ortsabwesenheit ihrer Eltern

Kinder unter 15 Jahren haben auch dann einen Anspruch auf Bürgergeld, wenn ihre Eltern unerlaubt ortsabwesend sind und deswegen kein Bürgergeld erhalten.

Nach § 7a Abs. 4 a SGB II bzw. der ab dem 01.07.2023 geltenden Nachfolgeregelung des § 7b SGB II erhalten „erwerbsfähige Leistungsberechtigte“ kein ALG II bzw. jetzt Bürgergeld, wenn sie sich ohne Zustimmung des Jobcenters außerhalb des zeit- und ortsnahen Bereichs aufhalten und deswegen nicht für die Eingliederung in Arbeit zur Verfügung stehen. Fahren Eltern also etwa mit ihren Kindern ohne Zustimmung des Jobcenters in den Urlaub oder bleiben länger im Urlaub als die Zustimmung zeitlich reicht, entfällt der Leistungsanspruch für die Tage ihrer unerlaubten Ortsabwesenheit. Die Kinder unter 15 Jahren behalten demgegenüber ihrer Leistungsanspruch, weil sie keine Leistungsberechtigten im erwerbsfähigen Alter sind und Schüler ab ihrem 15. Geburtstag behalten ebenfalls ihren Anspruch auf Bürgergeld, weil sie dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stehen müssen (vgl. § 7b Abs. 3 Satz 3 SGB II, wobei ein fehlender Antrag nicht zum Leistungsausschluss führt).

Im vom Sozialgericht Kiel entschiedenen Fall war eine alleinerziehende Mutter mit ihrem einzigen Kind über den Zeitraum der erteilten Zustimmung zur Ortsabwesenheit hinaus in ihrem Herkunftsland geblieben. Das Jobcenter Kiel hob deswegen die Leistungsbewilligung für die Tage der unerlaubten Ortsabwesenheit sowohl für die Mutter als auch für deren damals vierjährigen Sohn auf. Zur Begründung verwies das Jobcenter Kiel darauf, der Sohn selbst habe keinen eigenen Leistungsanspruch nach dem SGB II, weil er noch nicht 15 Jahre alt sei (vgl. § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB II). Er könne deswegen nur als Mitglied einer sog. Bedarfsgemeinschaft mit seiner Mutter Leistungen erhalten (vgl. § 19 Abs. 1 Satz 2 SGB II, § 7 Abs. 3 Nr. 4 SGB II). Da aber die Mutter von Leistungen ausgeschlossen sei, entfalle auch für deren Sohn der Leistungsanspruch, der sich allein aus der Bedarfsgemeinschaft mit seiner Mutter ergebe.

Rechtswidrig, entschied das Sozialgericht Kiel: Durch die unerlaubte Ortsabwesenheit der Mutter entfiel nicht deren Leistungsberechtigung nach dem SGB II dem Grunde nach, sondern nur deren Anspruch auf Auszahlungen der Leistungen für die Tage ihrer unerlaubten Ortsabwesenheit, so dass die Bedarfsgemeinschaft mit dem Sohn nicht aufgehoben wurde und dieser seinen Leistungsanspruch behielt. 

(SG Kiel, Urteil vom 28.06.2024, S 33 AS 157/22, Rechtsfrage anhängig beim SH LSG, L 6 AS 76/24)

Erstveröffentlichung in HEMPELS 8/2024

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Vorsicht mit den „Urlaubstipps“ in den „Nachrichten aus dem Jobcenter“!

Seit März 2007 schaltete das Jobcenter Kiel monatlich eine großformatige Anzeige im „Kieler Express“ unter der Überschrift „Nachrichten aus dem Jobcenter“. Die Anzeigen sind teils informativ, teils aber auch nur bloße Werbung – also gekaufte positive Selbstdarstellung – einer Behörde. Das alles mag man gut finden oder nicht. Eindeutig nicht gut ist allerdings, wenn Bezieher von ALG II falsch – und das heißt auch: unvollständig – informiert werden. So geschehen in der aktuellen Ausgabe der „Nachrichten aus dem Jobcenter“.

In der Rubrik „Tipp des Monats: Endlich Ferien – nur mit Genehmigung in den Urlaub fahren!“ ist nachzulesen, was zu beachten ist, „wenn Sie ALG II erhalten“ und in den Urlaub fahren wollen:

„Die Regelungen sind eindeutig: Melden Sie den geplanten Urlaub nicht an oder überschreiten ihn zeitlich, können Ihre Leistungen gekürzt oder sogar ganz eingestellt werden. Bei unerlaubter Abwesenheit wird das gezahlte ALG II sogar komplett zurückgefordert. Wichtig ist, dass Sie sich nach der Rückkehr sofort beim Jobcenter persönlich zurückmelden.“

Tatsächlich gilt die Regelung des § 7 Abs. 4a SGB II neuer Fassung indessen keinesfalls für alle Bezieher von ALG II, wie vom Jobcenter Kiel behauptet wird („wenn Sie ALG II erhalten“), sondern nur für „Erwerbsfähige Leistungsberechtigte“. Der Gesetzgeber hat zum Adressatenkreis der Regelung ausgeführt (BT-Drucks. 17/3404, Seite 92):

„Mit der Änderung wird klargestellt, dass nur erwerbsfähige Leistungsberechtigte bei unerlaubter Ortsabwesenheit ihren Leistungsanspruch verlieren. Weitere Voraussetzung ist, dass sie für Eingliederungsleistungen nicht zur Verfügung stehen. Damit benötigen Leistungsberechtigte, die vorübergehend und mit Einverständnis des Trägers ausnahmsweise keine Eingliederungsbemühungen nachzuweisen haben (zum Beispiel in Vollzeit Beschäftigte, nicht erwerbsfähige Personen) keine besondere Zustimmung der persönlichen Ansprechpartnerin oder des persönlichen Ansprechpartners zur Ortsabwesenheit.“

Aber auch nach der alten Rechtslage (bis einschließlich März 2011) war der Personenkreis der Menschen im ALG II Bezug, die eine Genehmigung zur Ortsabwesenheit einholen mussten, schon beschränkt. In den „Fachlichen Hinweisen“ des Bundesagentur für Arbeit zu § 7 (in der Fassung vom 20.01.2010) wird zu dem Adressatenkreis der Vorschrift in Rz 7.57 zutreffend ausgeführt:

(1) Nach dem Wortlaut des § 7 Abs. 4a gilt die Regelung für alle Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft. Somit ist die EAO grundsätzlich auf alle Leistungsberechtigte nach dem SGB II, also auch auf Sozialgeldbezieher und erwerbsfähige Personen, denen die Aufnahme einer Beschäftigung nicht zuzumuten ist (z. B. Schüler), anzuwenden. Eine wörtliche Auslegung würde jedoch dem Sinn und Zweck der Regelung widersprechen, weil die Arbeitslosigkeit keine Voraussetzung für den Leistungsanspruch nach dem SGB II darstellt. Einem erwerbsfähigen Schüler beispielsweise eine längere Ortsabwesenheit während der Sommerferien zu verweigern, entspräche nicht dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und wäre rechtswidrig. Deshalb ist die Erteilung einer Zustimmung zu Ortsabwesenheiten von Personen, die das 15. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, entbehrlich. Für die Zustimmung zu Ortsabwesenheiten solcher Personen, die vorübergehend nicht eingliederbar sind oder bei denen eine Eingliederung unwahrscheinlich ist (Beispiel: Alleinerziehende, der eine Arbeitsaufnahme vorübergehend nicht zumutbar ist, Sozialgeldbezieher allgemein), ist im Einzelfall zu entscheiden, ob die entsprechende Anwendung der EAO sinnvoll ist. Dies kann im Interesse der Vermeidung von Leistungsmissbrauch zu bejahen sein.

(2) Die Regelungen der EAO gelten nicht für erwerbsfähige Hilfebedürftige, die nicht arbeitslos sind (z.B. bei bestehender sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung; während Maßnahmen zur Eingliederung in Arbeit). Jedoch ist es zweckmäßig, auch während der Teilnahme an Maßnahmen zur Eingliederung die voraussichtliche Dauer einer Abwesenheit zu erheben, da auch während einer solchen Maßnahme die Eingliederung in den allgemeinen Arbeitsmarkt grundsätzlich möglich ist.

(3) Besonderheiten bezüglich der Dauer der möglichen Bewilligung einer Ortsabwesenheit können bei älteren Arbeitnehmern, Nicht-sesshaften und Aufstockern gelten (Vgl. Rz. 7.77 ff).“

Zusammenfassend gilt also, dass folgende Personen im Leistungsbezug nach dem SGB II weder eine Genehmigung für ihre Ortsabwesenheit beim Jobcenter einholen müssen noch zeitlichen Beschränkungen (3 Wochen im Jahr) unterliegen:

• Schüler (sie können die gesamten Schulferien in den Urlaub fahren).

•  Vollzeit Erwerbstätige.

• Temporär nicht erwerbsfähige Leistungsbezieher.

• Alleinerziehende, denen eine Arbeitsaufnahme nicht zumutbar/möglich ist (Säugling, kein Krippenplatz usw.).

• Allgemein Bezieher von Sozialgeld nach § 28 SGB II.

Bei diesen Personengruppen entfällt folglich der Leistungsanspruch für die Tage der (ungenehmigten und/oder über 3 Wochen andauernden) Ortsabwesenheit nicht und die Sozialleistungen können daher für diesen Zeitraum auch nicht zurückgefordert werden.

Diese Ausnahmen hätten in den „Tipps des Monats“ erwähnt werden müssen, und zwar gerade auch deswegen, weil von den Mitarbeitern des Jobcenters Kiel hier immer wieder Fehler gemacht werden. So wurde in einem hier bekannten Fall von einer ganzen Familie (Vater, Mutter und zwei schulpflichtige Kinder) das Arbeitslosengeld II für die Urlaubszeit komplett zurückgefordert, obwohl die Mutter vollschichtig berufstätig war und die Kinder als Schüler dem Arbeitsmarkt gar nicht zur Verfügung standen. Das ganze wäre nicht so traurig, wenn es sich schlicht um ein Versehen des Jobcenters Kiel gehandelt hätte. Sorgen bereiten muss indessen der Umstand, dass diese evident rechtswidrige Entscheidung nicht nur von einer Teamleitung bestätigt und von einem ehemaligen Geschäftsführer des Jobcenters Kiel für richtig befunden, sondern auch von den Mitarbeitern der Widerspruchsstelle (Rechtsabteilung!) bestätigt wurde, so dass letztlich ein Gericht bemüht werden musste, um diesen – vollkommen eindeutigen – Fall zu entscheiden.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt