EU-Ausländer: Bei Beurteilung der Arbeitnehmereigenschaft ist das individuelle Leistungsvermögen zu berücksichtigen

(c) Gerd Altmann / pixelio.de

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Das SGB II schließt in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II AusländerInnen und ihre Familienangehörigen von Hartz IV-Leistungen aus, „deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt“. War in der Auseinandersetzung mit Jobcentern bisher immer ein Hauptargument, dieser Ausschluss sei europarechtswidrig, so ist dieses Argument seit der Entscheidung des EuGH vom 15.09.2015 in der Rechtssache Alimanovic (C‑67/14) nicht mehr tragfähig. Umso genauer sind zukünftig die anderen Aufenthaltsgründe zu prüfen.

Aufenthaltsrecht von ArbeitnehmerInnen

Ein Aufenthaltsrecht, welches den Zugang zu aufstockenden Leistungen nach dem SGB II eröffnet, kann sich aus der ArbeitnehmerInneneigenschaft ergeben. Mit einem Stundenumfang von 5,5 Wochenstunden bzw. einem Monatseinkommen von rund 100 Euro kann der ArbeitnehmerInnenstatus gegeben sein (EuGH, Urteil vom 04.02.2010 in der Rechtssache Genc, C-14/09). Auch mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von 7,5 Stunden und einem Einkommen von 100 Euro hat das BSG die Arbeitnehmereigenschaft bejaht (Urteil vom 19.10.2010, B 14 AS 23/10 R; heute läge ein Verstoß gegen das Mindestlohngesetz vor). Die Bundesagentur für Arbeit geht jedenfalls bei einer Beschäftigung ab 8 Stunden von einer nicht nur „völlig untergeordneten und unwesentlichen“ und damit aufenthaltsrechtlich unbeachtlichen Tätigkeit aus (mehr hier). Alles, was darunter liegt, muss einzelfallbezogen geprüft werden.

Leistungsvermögen zu berücksichtigen

Nach einer aktuellen Entscheidung des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 11.11.2015 zum Aktenzeichen L 6 AS 197/15 B ER ist bei der Beurteilung der ArbeitnehmerInneneigenschaft das individuelle Leistungsvermögen der EU-AusländerInnen zu berücksichtigen. Gehen diese einer Teilzeitbeschäftigung nach, die typischerweise in Teilzeit und nicht selten unterhalbschichtig ausgeübt wird und müssen etwa Kinder allein erzogen und Integrationskurse besucht werden, begründet auch eine Tätigkeit von 20 Stunden im Monat die EU-Arbeitnehmereigenschaft und berechtigt damit zum Bezug von aufstockenden Leistungen nach dem SGB II:

„Die danach einzig relevante und zwischen den Beteiligten umstrittene Frage, ob die tatsächliche und echte Tätigkeit ihrem Umfang nach als völlig untergeordnet und unwesentlich zu qualifizieren ist, ist angesichts der dargelegten europarechtlichen Maßstäbe auch nach Ansicht des Senats zu verneinen. Sinn und Zweck der freizügigkeitsrechtlichen Bestimmungen gebieten es, auch die Tätigkeit der Antragstellerin zu 1. als Haushaltshilfe, die ohne Weiteres einen Bezug zum Wirtschaftsleben aufweist und für die es in der Bundesrepublik Deutschland einen relevanten Arbeitsmarkt gibt, als echtes Arbeitsverhältnis im Sinne des Freizügigkeitsrechts zu qualifizieren. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass Hilfstätigkeiten im Haushalt, wie sie von der Antragstellerin zu 1. ausgeübt werden, typischerweise in Teilzelt ausgeübt werden, wobei der jeweilige Umfang nicht selten deutlich unterhalbschichtig ist. Im besonderen Fall ist entgegen der Auffassung des Antragsgegners zudem zu berücksichtigen, dass die Antragstellerin zu 1. durch die erforderliche Betreuung des Antragstellers zu 2. und die verpflichtende Teilnahme am Integrationskurs objektiv gehindert ist, einer Erwerbstätigkeit in (erheblich) größerem zeitlichem Umfang nachzugehen, als die zurzeit ausgeübten 20 Stunden im Monat. Die vom EuGH für die Beurteilung der Wesentlichkeit verlangte Gesamtbetrachtung schließt die Berücksichtigung solchermaßen konkurrierender Verpflichtungen jedenfalls nicht aus. Vielmehr dürfte es nach Ansicht des Senats bei zweckentsprechender Auslegung der unionsrechtlichen Vorschriften durchaus naheliegen, zur Beurteilung der völligen Unwesentlichkeit einer Tätigkeit die Arbeitszeit der betreffenden Person in Beziehung zu setzen zu der für sie disponiblen, frei verfügbaren Zelt. Ist eine Person durch äußere Umstände oder aufgrund vorrangiger Verpflichtungen – nicht aber aufgrund autonomer Entscheidungen zugunsten anderer als wirtschaftlicher Aktivitäten – derart gebunden, dass sie nur mit einem Teil ihres quantitativen Leistungsvermögens am Wirtschaftsleben teilnehmen kann und realisiert sie diesen Teil überwiegend, kann im Wortsinne kaum mehr von einer völlig untergeordneten und unwesentlichen Tätigkeit gesprochen werden. Anderenfalls würde gerade sozial schutzbedürftigen Personengruppen wie Schwangeren, Alleinerziehenden oder behinderten Menschen die Teilhabe an der unionsvertraglich gewährleisteten Freizügigkeit in unverhältnismäßiger Weise erschwert.“

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt



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