Zum Mehrbedarf wegen kostenaufwendiger Ernährung

Sowohl in der Grundsicherung nach dem SGB XII (vgl. § 30 Abs. 5 SGB XII) als auch in der Grundsicherung für Arbeitssuchende (vgl. § 21 Abs. 5 SGB II) können bei bestimmten Erkrankungen Mehrbedarfe für kostenaufwendige Ernährung anerkannt werden. Zur Beurteilung der Frage, bei welchen Erkrankungen Leistungsberechtigte „aus medizinischen Gründen einer kostenaufwendigen Ernährung bedürfen“, greifen Behörden wie Gerichte auf die jeweils aktuellen Empfehlungen des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge e.V. zurück.

Rechtliche Qualifizierung der Empfehlungen des Deutschen Vereins

Unterschiedlich wird von den Gerichten dabei beurteilt, ob es sich bei den Empfehlungen um sog. „antizipierte Sachverständigengutachten“ handelt, an denen sich das Gericht im Regelfall orientieren kann, oder ob die Empfehlungen lediglich als eine „Orientierungshilfe“ heranzuziehen sind, welche das Gericht bei seiner Entscheidung zwar mit heranzuziehen hat, die aber im Wege der Amtsermittlung (§ 103 SGG) um weitere Erkenntnisquellen des Einzelfalles zu ergänzen sind. An den Kammern des SG Schleswig wird (wohl) überwiegend letztere Auffassung vertreten, die 11. Kammer sieht die Empfehlungen als „antizipiertes Sachverständigengutachten“.

BSG, Urteil vom 22.11.2011, B 4 AS 138/10 R

Das BSG hat zu dieser Frage in seiner Urteilsbegründung vom 22. November 2011 zum Aktenzeichen B 4 AS 138/10 R ausgeführt (vgl. Terminbericht Nr. 58/11 zur Terminvorschau Nr. 58/11):

„Anhand der vom LSG getroffenen Feststellungen kann auch nicht beurteilt werden, ob der Kläger einen Anspruch auf Mehrbedarf wegen Krankenkost hat. Das LSG hat insoweit gegen den Amtsermittlungsgrundsatz verstoßen, weil es Ermittlungsmöglichkeiten nicht genutzt hat, die sich vernünftigerweise aufdrängten. Das LSG hat insbesondere keine sachverständigen Auskünfte der den Kläger behandelnden Ärzte eingeholt, so dass keine belastbaren Feststellungen dazu getroffen worden sind, welche Krankheiten beim Kläger vorliegen und welche Anforderungen an sein Ernährungsverhalten hieraus folgen. Zur Klärung dieser medizinischen Fragen genügt die vom LSG im Wege des Urkundenbeweises eingeführte amtsärztliche Stellungnahme nicht, weil sie weder relevante Tatsachen noch nachvollziehbare Schlussfolgerungen enthält. Unabhängig von diesen Anforderungen weist der Senat darauf hin, dass allein mit den Empfehlungen des Deutschen Vereins vom 1.10.2008 zur Gewährung von Krankenkostzulagen in der Sozialhilfe Verfahren der vorliegenden Art nicht erledigt werden können. Es handelt sich insoweit insbesondere nicht um ein antizipiertes Sachverständigengutachten, das auf der Grundlage der Angaben der Antragsteller normähnlich angewandt werden könnte.“

Entscheidung der 11. Kammer des SG Schleswig

In dem Verfahren S 11 SO 98/08 wurde von Klägerseite auf die Empfehlungen des Deutschen Vereins von 1997 abgestellt. Danach hätte ein Anspruch auf Mehrbedarf bestanden. Nachdem die Klage am 20.04.2008 erhoben wurde, veröffentlichte der Deutsche Verein am 01.10.2008 seine grundlegend überarbeiteten Empfehlungen, nach denen bei den in diesem Verfahren nachgewiesenen Krankheiten kein Mehrbedarfsanspruch mehr bestand. Nachweise über einen dennoch bestehenden Ernährungsmehrbedarf im konkreten Einzelfall lagen für den streitigen Zeitraum nicht vor und konnten daher auch nicht beigebracht werden. Die – ursprünglich erfolgversprechende – Klage hatte daher vor der 11. Kammer des SG Schleswig im Februar 2012 (als rund 4 Jahre später!) keinen Erfolg mehr. Gegen das Urteil des SG Schleswig wurde keine Berufung eingelegt, da die Angelegenheit für die Klägerin, die heute nicht mehr von Grundsicherungsleistungen lebt, keine Bedeutung mehr hat. Für das Verfahren wurde Prozesskostenhilfe bewilligt.

Das Urteil des SG Schleswig vom 14.02.2012, S 11 SO 98/08 findet sich als Download hier:

SG Schleswig, Urt. v. 14.02.2012, S 11 SO 98/08

Weiterführende Links:

http://sozialrechtsexperte.blogspot.com/2012/02/zum-mehrbedarf-wegen-kostenaufwendiger.html

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


4 Kommentare on “Zum Mehrbedarf wegen kostenaufwendiger Ernährung”

  1. Wilhelm Voigt sagt:

    BSG, Urt. v. 22.11.2011 – B 4 AS 138/10 R:
    (…) Unabhängig von diesen Anforderungen weist der Senat darauf hin, dass allein mit den Empfehlungen des Deutschen Vereins vom 1.10.2008 zur Gewährung von Krankenkostzulagen in der Sozialhilfe Verfahren der vorliegenden Art nicht erledigt werden können. Es handelt sich insoweit insbesondere nicht um ein antizipiertes Sachverständigengutachten, das auf der Grundlage der Angaben der Antragsteller normähnlich angewandt werden könnte.

    http://sozialrechtsexperte.blogspot.com/2011/11/bei-den-empfehlungen-des-deutschen.html

  2. Wilhelm Voigt sagt:

    Das Urteil ist noch nicht veröffentlicht.
    Diese Aussage stammt aus dem Terminbericht Nr. 58/11 (zur Terminvorschau Nr. 58/11) des BSG (http://juris.bundessozialgericht.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bsg&Art=tm&Datum=2011&nr=12230).

    Der RA Ludwig Zimmermann hat heute dazu in seinem Blog ausgeführt:
    http://sozialrechtsexperte.blogspot.com/2012/02/zum-mehrbedarf-wegen-kostenaufwendiger.html

    • hil sagt:

      Oh ja, sorry, mein link ist falsch. Habe ich im Eifer des Gefechts gar nicht bemerkt. 😳

      Sehr guter Hinweis, danke. Beitrag werde ich ergänzen.


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