Hartz IV: Antragsstellung nicht vergessen!
Veröffentlicht: 2. Oktober 2017 Abgelegt unter: Antragstellung 2 Kommentare
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Leistungen nach dem SGB II (ALG II) werden nur ab dem Monat der Antragstellung bewilligt (§ 37 SGB II). In der anwaltlichen Beratung wird immer wieder gefragt, ob vom Jobcenter nicht auch für Monate vor der Antragstellung ALG II gezahlt werden kann, wenn ein Hilfebedürftiger ohne sein Verschulden – etwa aus gesundheitlichen Gründen – daran gehindert war, einen ALG II-Antrag zu stellen.
Die Antwort lautet: Im Regelfall nicht. Zwar kann demjenigen, der ohne sein Verschulden daran gehindert war, ein gesetzliche Frist einzuhalten, auch im Sozialrecht „Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand“ gewährt werden (§ 27 SGB X). Allerdings ist die ALG II-Antragstellung an keine „Frist“ gebunden. Es ist nur geregelt, dass es vor der Antragstellung kein ALG II gibt. Weil es keine Frist gibt, ist deswegen auch keine Wiedereinsetzung möglich. Allerdings können Hilfebedürftige in Ausnahmefällen einen sog. „sozialrechtlichen Herstellungsanspruch“ darauf haben, so gestellt zu werden, als hätten sie ihren Antrag rechtzeitig gestellt, wenn die Behörde sie nicht oder falsch beraten hat und sie deswegen keinen ALG II-Antrag gestellt haben. Eine Nichtberatung liegt etwa vor, wenn das Jobcenter auf die Erforderlichkeit der Stellung eines Weiterbewilligungsantrages nicht hingewiesen hat. Eine Falschberatung liegt z.B. vor, wenn ein Behördenmitarbeiter erklärt, ALG II gäbe es grundsätzlich nur als Darlehen oder ein Anspruch bestünde ohnehin nicht – und der Hilfebedürftige deswegen von einer Antragstellung absieht.
BSG, Urteile vom 18.11.2011, B 4 AS 29/10 R und B 4 AS 99/10 R
Erstveröffentlichung in HEMPELS 9/2017
Rechtsanwalt Helge Hildebrandt
[…] Quelle: Rechtsanwalt Helge Hildebrandt bei Sozialberatung Kiel […]
Positive Beispiele
1. Sozialgericht Dortmund, Urteil v. 31.03.2014 – S 40 (28, 23) AS 70/09
Sozialrechtlicher Herstellungsanspruch (hier bejanend) – unterlassene Beratung seitens des Jobcenters – Hinweis auf Folgeantrag
Pflicht des Leistungsträgers zum rechtzeitigen Hinweis auf erforderlichen Folgeantrag.
Hinweis Gericht
In der Rechtsprechung ist anerkannt, dass der Beklagte verpflichtet ist, auf die Notwendigkeit von Folgeanträgen hinzuweisen (BSG, Urteil vom 18.01.2011, Az.: B 4 AS 29/10 R). Unterlässt er einen entsprechenden Hinweis, ist er ggf. auf Grundlage des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs verpflichtet, Leistungen auch vor der konkreten Antragstellung zu erbringen.
Dies hat erst recht für den Fall zu gelten, dass ein Mitglied einer Bedarfsgemeinschaft aufgrund einer mittlerweile aufgehobenen gesetzlichen Regelung mit der Vollendung des 18. Lebensjahres aus der Bedarfsgemeinschaft ausscheidet und nunmehr verpflichtet ist, einen eigenen Antrag zu stellen, um weiter Leistungen zu beziehen. Dafür spricht einerseits, dass die von der Regelung betroffene Personengruppe in der Regel gemäß § 38 SGB II im Verwaltungsverfahren durch die Sorgeberechtigten vertreten werden, d.h. bis zum Erreichen des 18. Lebensjahres kaum Kontakt mit dem Jobcenter, geschweige denn ausreichend eigene Kenntnisse bezüglich der eigenen Antragstellung erworben haben.
2. Rechtstipp: ebenso: LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 24.02.2015 – L 7 AS 187/14 –
Die von einem zugelassenen kommunalen Träger abweichend von der Weisungslage bei Gemeinsamen Einrichtungen geübte Praxis, nicht erst ein Monat vor Ablauf des Bewilligungszeitraumes sondern in dem einen Monate davor ergangenen Bewilligungsbescheid auf die Notwendigkeit eines Folgeantrages hinzuweisen, genügt nicht der vom BSG verlangten Belehrung im zeitlichen Zusammenhang mit der Beendigung des Leistungsbezuges.
3. Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Beschluss v. 27.04.2016 – L 7 AS 384/16 B – rechtskräftig
Gewährung von Prozesskostenhilfe (hier bejahend) – fehlender Weiterbewilligungsantrag ALG II – Verwaltungsakt – sozialrechtlicher Herstellungsanspruch
Zur Frage, ob ein Antrag auf ALG II gestellt wurde (hier bejahend).
Leitsatz (Redakteur)
Die Frage, ob ein Schreiben einen Verwaltungsakt darstellt, insbesondere eine Regelung beinhaltet, ist unter Berücksichtigung des Empfängerhorizonts durch Auslegung zu ermitteln (ausführlich Luthe, in: JurisPK SGB X, § 31 Rn. 25 f mwN).
Die Argumentation, eine Bescheidung sei „obsolet“, wenn ein Antrag fehle, ist offensichtlich rechtswidrig.
Der Antrag iSd § 37 SGB II ist eine materiell-rechtliche Voraussetzung für die Zahlung von Leistungen (zur Rechtsnatur des Antrags nach § 37 SGB II vergl. Link, in: Eicher, SGB II, 3. Aufl., § 37 Rn 22), bei deren (vermeintlichem) Fehlen die Bewilligung abgelehnt werden muss, nicht aber eine Bescheidung verweigert werden darf.
Der Umstand, dass das Jobcenter rechtsirrig anderer Meinung war und keinen Bescheid erlassen wollte, ist unbeachtlich, da die Auslegung nach objektiven Kriterien unter Berücksichtigung des Empfängerhorizonts eines verständigen Beteiligten zu erfolgen hat.