Meldetermin: AU-Bescheinigung allein kein Nachweis für „wichtigen Grund“?

Bisher galt die Nichtwahrnehmung eines Meldetermins nach § 59 SGB II beim Jobcenter Kiel als „entschuldigt“, wenn für den Tag, an dem der Meldetermin wahrgenommen werden sollte, eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (AU-Bescheinigung) vorgelegt werden konnte. Diese Praxis hat das Jobcenter Kiel – wie auch andere Jobcenter – nun augenscheinlich geändert. Verlangt wird seit kurzem die Vorlage einer „Wegeunfähigkeitsbescheinigung“ durch den behandelnden Arzt. Dies sowie einige Anrufe teils irritierter Betroffener der letzten Tage ist Anlass genug, einmal zusammenzufassen, wann die Nichtwahrnehmung eines Meldetermins „entschuldigt“ ist bzw. in den Worten des Gesetzgebers ein „wichtiger Grund“ für das Nichterscheinen vorliegt.

Meldepflicht

Wer ALG II bezieht oder beantragt hat, unterliegt nach § 59 SGB II der allgemeinen Meldepflicht gemäß § 309 Abs. 1 SGB III. Diese Regelung entspricht den für das gesamte Sozialrecht geltenden Bestimmungen der §§ 61 und 62 SGB I. Voraussetzung der Meldepflicht ist eine entsprechende Aufforderung des Grundsicherungsträgers. Die Meldeaufforderung ist ein Verwaltungsakt. Ob und wann der Grundsicherungsträger eine Meldeaufforderung erlässt, liegt in seinem pflichtgemäßen Ermessen.

Aus der Aufgabenzuständigkeit der Grundsicherungsträger nach dem SGB II folgt, dass eine Meldeaufforderung nur zum Zwecke der Berufsberatung, Vermittlung in Ausbildung oder Arbeit, der Vorbereitung aktiver Arbeitsförderungsleistungen, der Vorbereitung von Entscheidungen im Leistungsverfahren und der Prüfung des Vorliegens der Voraussetzungen für den Leistungsanspruch  erfolgen kann (vgl. § 309 Abs. 2 SGB III).

Auf Antrag können gemäß § 309 Abs. 4 SGB III notwendige Reisekosten zur Wahrnehmung eines Meldetermins – auch für eventuell erforderliche Begleitpersonen – übernommen werden, soweit diese nicht anderweitig abgedeckt sind. „Erforderlich“ ist eine Begleitperson bei Krankheit oder Behinderung. Eine „anderweitige Abdeckung“ der Reisekosten besteht etwa, wenn der Leistungsberechtigte über eine Monatsfahrkarte für den ÖPNV verfügt. Die Festsetzung einer Bagatellgrenze ist rechtswidrig (Winkler in LPK-SGB III, 1. Auf. 2008, § 309 Rn. 20 m.w.N.). Gemäß § 59 SGB II i.V.m. § 310 SGB III besteht darüber hinaus die Verpflichtung, sich nach einem Umzug bei dem nunmehr zuständigen Leistungsträger unverzüglich (d.h. ohne schuldhaftes Zögern) zu melden.

Meldeversäumnis

Minderungsrelevant ist allein die Tatsache eines Meldeversäumnisses. Gemäß § 309 Abs. 1 Satz 2 SGB III hat sich der Leistungsberechtigte bei der zur Meldung bezeichneten Dienststelle zu melden. Es ist das Dienstzimmer des zuständigen Sachbearbeiters aufzusuchen. Eine Vorsprache etwa im Eingangsbereich des Dienstgebäudes genügt nicht, weil damit der Meldezweck offenkundig nicht erreicht wird (LSG BY, Beschluss vom 4.8.2010, L 8 AS 466/10 B ER und 26.4.2010, L 7 AS 212/10 B ER).

Nach § 309 Abs. 3 SGB III hat sich der Arbeitslose zu der von dem Leistungsträger bestimmten Zeit zu melden. Ist diese nach Tag und Tageszeit bestimmt, so ist er seiner allgemeinen Meldepflicht auch dann nachgekommen, wenn er sich zu einer anderen Zeit am selben Tag meldet und der Zweck der Meldung erreicht wird.

Wichtig: Betroffene, die zu einem Meldetermin zu spät erscheinen und deswegen die Auskunft erhalten, der Termin könne an diesem Tag nicht mehr stattfinden, sollten unbedingt darauf drängen, dass der Termin – ggf. bei einem anderen Mitarbeiter – wahrgenommen werden kann. Die Jobcenter müssen entsprechendes Personal vorhalten und die Aufgaben der Integrationsfachkräfte setzen kein Wissen voraus, welches nicht jeder andere Mitarbeiter auch hat. Der Zweck kann also stets noch erreicht werden (Ausnahme etwa: Erscheinen 5 Minuten vor Schließung der Behörde). Auf jeden Fall sollten sich Betroffene ihre Meldung mit Angabe von Tag und Uhrzeit schriftlich bestätigen lassen.

Ist der Meldepflichtige am Meldetermin arbeitsunfähig, so wirkt die Meldeaufforderung auf den ersten Tag der Arbeitsfähigkeit fort, wenn die Agentur für Arbeit dies in der Meldeaufforderung bestimmt (§ 309 Abs. 3 Satz 3 SGB III).

Sanktionen bei Meldepflichtverletzungen

Kommt ein Bezieher von Leistungen nach dem SGB II der Meldeaufforderung eines Trägers der Grundsicherung ohne wichtigen Grund trotz schriftlicher Belehrung über die Rechtsfolgen nicht nach, wird das ALG II gemäß § 32 SGB II je Meldepflichtverletzung in Höhe von 10 % der nach § 20 SGB II maßgebenden ungekürzten Regelleistungen abgesenkt.

Wichtiger Grund

Ein wichtiger Grund liegt vor, wenn es dem Leistungsberechtigen objektiv unmöglich oder nach Abwägung der widerstreitenden Interessen unzumutbar ist, am angegebenen Ort zu der angegebenen Zeit zu erscheinen. Entscheidend sind die Umstände des Einzelfalles. Folgende Umstände kommen als rechtfertigende Gründe in Betracht:

– Erledigung unaufschiebbarer persönlicher Angelegenheiten (Teilnahme an Trauerfeier, m.E. nicht nur für nahe Angehörige; unvorhergesehener Ausfall der Betreuung eines Kleinkindes usw.).

Vorstellungstermin bei potentiellem Arbeitgeber.

Terminkollision mit Arbeit (auch geringfügiger Beschäftigung, vgl. Berlit in LPK-SGB II, 4. Aufl. 2011, § 32 Rn. 13).

Ausfall von Verkehrsmittel.

– Plötzliche Krankheit oder krankheitsbedingtes Unvermögen.

– Unaufschiebbarer Arzttermin (Notfall). M.E. auch der vor Zugang der Meldeaufforderung vereinbarte Arzttermin.

Wichtig:

– Eine krankheitsbedingte Verhinderung kann auch ohne Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung etwa durch Zeugenbeweisnachgewiesen (Berlit in LPK-SGB II, 4. Aufl. 2011, § 32 Rn. 13; Sonnhoff in JurisPK-SGB II, 2. Aufl., Stand 24.8.2010, § 32 Rn. 191).

Streitig ist, ob eine tatsächlich vorliegende und durch eine AU-Bescheinigung belegte Erkrankung ausreichend ist, wenn begründete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die bescheinigte Arbeitsunfähigkeit nicht gleichzeitig die Unfähigkeit zur Wahrnehmung des Meldetermins begründet.

– Zu dieser Frage hat das BSG (Urt. v. 9.11.2010, B 4 AS 27/10 R, Rz. 32), ausgeführt: „Macht der Arbeitslose gesundheitliche Gründe für sein Nichterscheinen geltend, kommt als Nachweis für die Unfähigkeit, aus gesundheitlichen Gründen beim Leistungsträger zu erscheinen, zwar regelmäßig die Vorlage einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung in Betracht. Arbeitsunfähigkeit ist jedoch nicht in jedem Einzelfall gleichbedeutend mit einer krankheitsbedingten Unfähigkeit, zu einem Meldetermin zu erscheinen (Sonnhoff in JurisPK-SGB II, 2. Aufl, Stand 24.8.2010, § 31 RdNr 193; A. Loose in GK-SGB II, § 31 RdNr 78, Stand Mai 2008). Da es sich bei dem Begriff der Arbeitsunfähigkeit zudem um einen Rechtsbegriff handelt, dessen Voraussetzungen anhand ärztlich erhobener Befunde – ggf auch durch eine ex-post-Beurteilung – festzustellen sind (BSG Urteil vom 26.2.1992 – 1/3 RK 13/90 – SozR 3-2200 § 182 Nr 12; Schmidt in Peters, Handbuch der Krankenversicherung, § 44 SGB V RdNr 132, Stand 1.9.2008; Behrend in Eicher/Schlegel, SGB III, § 309 RdNr 64, Stand November 2004), besteht im Streitfall schon keine Bindung an den Inhalt der von dem Vertragsarzt nach § 73 Abs 2 Satz 1 Nr 9 SGB V ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung. Entsprechend ist auch die mit einer Arbeitsunfähigkeit regelmäßig verbundene Vermutung, dass ein Meldetermin aus gesundheitlichen Gründen nicht wahrgenommen werden kann, im Streitfall von den Sozialgerichten zu überprüfen.“

– Die Bundesagentur für Arbeit hat dieses Urteil in ihren Fachlichen Hinweisen (FH) zu § 32 SGB II, dort Rn. 32.9, aufgegriffen und führt dort aus:

„Die Vorlage einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ist grundsätzlich als wichtiger Grund anzuerkennen. Arbeitsunfähigkeit ist jedoch nicht in jedem Einzelfall gleichbedeutend mit einer krankheitsbedingten Unfähigkeit, zu einem Meldetermin zu erscheinen. Jedenfalls nach vorheriger Aufforderung kann vom Leistungsberechtigten auch ein ärztliches Attest für die Unmöglichkeit des Erscheinens zu einem Meldetermin verlangt werden (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 9.11.2010 – Az. B 4 AS 27/10 R – juris Rn. 32).

Die Kosten für die Ausstellung des Attestes können in angemessenem Umfang übernommen werden. Dies sind die nach Ziffer 70 der Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ) vorgesehenen Gebühren für eine kurze Bescheinigung, und zwar in Höhe des bei Privatrechnungen üblichen 2,3fachen Satzes, mithin derzeit 5,36 EUR. Höhere Kosten werden nicht übernommen.“

– Auch das Bayerische LSG hat in seiner Entscheidung vom 13.03.2009 (L 16 AS 268/08 NZB) die Vorlage einer „Reiseunfähigkeitsbescheinigung“ für erforderlich erachtet und zur Begründung ausgeführt: „Dieses Verlangen der Beklagten ist Ausfluss der allgemeinen Meldepflicht des Klägers aus § 59 SGB II i.V.m. § 309, Sozialgesetzbuch Drittes Buch (SGB III). Da es bei der Wahrnehmung eines Termins bei der Beklagten nicht um die Frage der Arbeitsfähigkeit geht, ist eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung letztlich nicht aussagekräftig, dafür, ob der Bf nicht dazu in der Lage war, diesen Termin wahrzunehmen. Hier ist es angemessen eine Reiseunfähigkeitsbescheinigung zu verlangen. Damit soll der Kläger das Unvermögen seiner Anreise entschuldigen und klarstellen, dass er seiner Pflicht nach §§ 59 SGB II i.V.m. 309 SGB III nicht nachkommen kann. Dies bedeutet, dass das Verlangen der Vorlage der Reiseunfähigkeitsbescheinigung Ausfluss der dem Kläger vom Gesetzgeber nach § 59 SGB II auferlegten Meldepflicht ist, der er nicht nachgekommen ist.“

– Nach Auffassung des Bayerischen LSG, Urt. v. 29.03.2012, L 7 AS 961/11, kann das Jobcenter auch die Vorlage eines qualifizierten ärztlichen Attests verlangen.

– Nach anderer Ansicht ist nur bei Vorliegen greifbarer Anhaltspunkte für eine missbräuchlich ausgestellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung eine „Wegeunfähigkeitsbescheinigung“ vorzulegen (Berlit in LPK-SGB II, 4. Aufl. 2011 § 32 Rn. 15).

Tipps:

– Ein Attest über die krankheitsbedingte Unfähigkeit, zu einem Meldetermin erscheinen zu können (Wegeunfähigkeitsbescheinigung), bedarf es regelmäßig nicht, wenn sich aus dem Krankheitsbild bereits die Unfähigkeit zur bzw. Unzumutbarkeit der Terminwahrnehmung ergibt (etwa gebrochenes Bein, Bandscheibenvorfall, ansteckende Krankheit, hohes Fieber).

– Die o.g. Rechtsprechung des BSG ändert nichts daran, dass die „Wegeunfähigkeit“ auch durch Zeugenbeweis oder etwa eine eidesstattliche Versicherung nachgewiesen werden kann. Besteht der Grundsicherungsträger auf die Vorlage einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung bzw. „Wegeunfähigkeitsbescheinigung“ und lehnt er pauschal die Prüfung anderer angebotener Beweismittel ab (etwa Zeugenbeweis, eidesstattliche Versicherung), verstößt er gegen seine Amtsermittlungspflichten aus § 20 SGB X. Sollte der Grundsicherungsträger trotz nachgewiesenem Vorliegen eines wichtigen Grundes eine Sanktion verhängen, sollte gegen den Sanktionsbescheid Widerspruch erhoben und notfalls der Klageweg beschritten werden.

– M.E. folgt aus der Reglung in § 309 Abs. 3 Satz 3 SGB III die gesetzgeberische Wertung, dass derjenige, der arbeitsunfähig ist (also eine gültige AU-Bescheinigung vorlegen kann), auch keinen Meldetermin wahrnehmen muss (a.A. BSG a.a.O. Rn. 31). Andernfalls würde die Ermächtigung des Grundsicherungsträgers zum Erlass einer Meldeaufforderung zur persönlichen Vorsprache am „ersten Tag der Arbeitsfähigkeit“ (§ 309 Abs. 3 Satz 2 SGB III) keinen Sinn machen. Als Subtext schwingt hier mit: Wer arbeitsunfähig ist, ist auch meldeunfähig.

– Wie die Ärzteschaft auf die Anfragen nach „Wegeunfähigkeitsbescheinigungen“ reagieren wird, bleibt abzuwarten. Der Nachweisdurst der Sozialbehörden hat schon zu einiger Missstimmung geführt. Die ersten Mandanten berichteten hier, ihre Ärzte hätten für die Ausstellung einer „Wegeunfähigkeitsbescheinigung“ 25 € verlangt. Letztlich ist kein Arzt verpflichtet, pro bono zu arbeiten, auch wenn 25 € überhöht sein dürften. Es ist schon jetzt zu erwarten, dass das notorische Misstrauen der Sozialleistungsträgern zu neuen streitigen Auseinandersetzungen führen wird.

– In jedem Fall sollte die Frage der Attestkosten mit dem behandelnden Arzt sowie dem Jobcenter vor einer etwaigen Ausstellung einer Wegeunfähigkeitsbescheinigung geklärt werden. Die Übernahme von Attestkosten sollten sich Betroffene von ihrem Jobcenter unbedingt vorher schriftlich zusichern lassen (§ 34 SGB X).

– Beim Vorliegen eines wichtigen Grundes besteht keine Pflicht zur Mitteilung vor dem Termin (Berlit in LPK-SGB II, 4. Aufl. 2011 § 32 Rn. 14 m.w.N.). Allerdings gebietet es die Höflichkeit, den Termin rechtzeitig abzusagen.

Folgende Umstände kommen als wichtige Gründe nicht in Betracht:

Eigenmächtiges Verschieben eines Termins ohne wichtigen Grund, auch wenn Vorsprache noch vor Sanktionierung nachgeholt wird (SG Potsdam, Urt. v. 18.8.2009, L 46 AS 218/09).

– Die mit der Meldung verbundenen Reisekosten.

Abholung eines 12jährigen Kindes von der Schule (LSG HE, Urt. v. 5.11.2007, L 6 AS 279/07).

Irrtum über das Datum des Meldetermin aufgrund eigener Sorgfaltswidrigkeit (LSG NW, Urt. v. 13.7.2007, L 20 B 114/07 AS).

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt