Hartz IV: Betriebskostennachforderungen sind vom Jobcenter unbefristet zu übernehmen
Veröffentlicht: 4. Februar 2019 Abgelegt unter: Betriebskostenguthaben, Betriebskostennachforderungen, Jobcenter Kiel, Nebenkostennachforderungen, Rückforderung von Sozialleistungen 2 Kommentare
(c) Kurt F. Domnik / pixelio.de
Es schmeckt schon nach selektiver Rechtsanwendung vom feinsten: Ein ALG II-Bezieher wird im Jahr 2018 vom Jobcenter Kiel aufgefordert, seine Betriebskostenabrechnungen für die Jahre 2015 und 2016 zu übersenden. Die Abrechnung für 2015 schließt mit einer Nachforderung, jene für das Jahr 2016 mit einem Guthaben. Das Guthaben fordert das Jobcenter Kiel von seinem Kunden zurück, die Übernahme der Nachforderung wird indessen mit dem Hinweis abgelehnt, der „Antrag“ auf Übernahme der Nachzahlung sei als Überprüfungsantrag gemäß § 40 Abs. 1 SGB II i.V.m. § 44 SGB X zu werten, der aufgrund des Ablaufs der Überprüfungsfrist von einem Jahr abzulehnen sei.
Derartige Ablehnungen sind klar rechtswidrig. Bei der Einreichung einer Betriebskostenabrechnung, die mit einer Nachzahlung schließt, handelt es sich bereits um keinen Überprüfungsantrag. Anspruchsgrundlage für die Übernahme ist vielmehr § 40 Abs. 1 Satz 1 SGB II i.V.m. § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB X i.V.m. § 330 Abs. 3 SGB III (vgl. etwa BSG, Urteil vom 06.04.2011, B 4 AS 12/10 R).
Zudem ist im Sinne des Meistbegünstigungsgrundsatzes davon auszugehen, dass ein bereits gestellter Antrag auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts all diejenigen Leistungen umfasst, die nach Lage des Falls ernsthaft in Betracht kommen (BSG, Urteil vom 02.07.2009, B 14 AS 75/08 R, Rn. 11: sog. „Türöffner-Funktion“ des Antrages). Der Antrag auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts umfasste deswegen auch die angemessenen Kosten für Unterkunft und Heizung. Eine sachliche und zeitliche Konkretisierung der von der Antragstellung umfassten Bedarfe kann deswegen auch zu einem späteren Zeitpunkt insbesondere dann vorgenommen werden, wenn sich weitere Bedarfe erst während des laufenden Leistungsbezugs ergeben, also etwa eine Heiz- oder Betriebskostennachforderung erst nach Antragstellung fällig wird. Mit der Vorlage einer Heiz- und Betriebskostennachforderung wird die Höhe des unterkunftsbezogenen Bedarfs insofern lediglich weiter konkretisiert, jedoch keine zusätzliche, vom Antrag nicht erfasste Leistung beantragt. Nachforderungen sind deswegen grundsätzlich unbefristet zu übernehmen (grundlegend BSG, Urteil vom 22.03.2010, B 4 AS 62/09 R).
Erstveröffentlichung in HEMPELS 01/2019
Rechtsanwalt Helge Hildebrandt
In meinen Augen gibt das Gericht diese Interpretation nicht her.
Zum einen besagt das benannte BSG-Urteil (B 4 AS 12/10 R) nicht, dass die Einreichung einer Betriebskostenabrechnung kein Verfahren nach § 44 SGB X auslöst. Lediglich die Rechtsgrundlage zur Änderung des Ursprungsbescheides geht hieraus hervor. Diese ist unzweifelhaft.
Zum anderen betitelt das Gericht (B 4 AS 62/09 R) im letztgenannten Urteil den Anspruch der Kläger ganz klar auf Grundlage des § 48 Abs. 4 i.V.m. § 44 Abs. 4 SGB X.
§ 44 Abs. 4 SGB X wird bekannterweise durch § 40 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II entsprechend modizifiziert. Hieraus wird eine Befristung bereits verdeutlicht.
Da auch jeweils eine Frist nach § 44 Abs. 1 S. 2 SGB II gewahrt war, hatten beide Urteile über eine zeitliche Zäsur nicht zu entscheiden.
Mir scheint B 4 AS 62/09 R (Rn. 14) ziemlich eindeutig zu sein:
c) Dem Anspruch der Kläger auf höhere Kosten für Unterkunft und Heizung und damit der Annahme einer wesentlichen Änderung der tatsächlichen Verhältnisse steht auch nicht entgegen, dass die Kläger vor Entstehung der Heiz- und Betriebskostennachforderung für das Kalenderjahr 2006 bzw deren Begleichung nach Zugang des Schreibens vom 21.3.2007 keinen gesonderten Antrag auf Deckung dieses Bedarfs gestellt haben. Zwar werden Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nur auf Antrag und nicht für Zeiten vor der Antragstellung erbracht (§ 37 Abs 1 und 2 Satz 1 SGB II; BT-Drucks 15/1516 S 62; BSG, Urteil vom 30.7.2008 – B 14 AS 26/07 R – SozR 4-4200 § 11 Nr 17 RdNr 23; BSG, Urteil vom 7.5.2009 – B 14 AS 13/08 R, RdNr 13, zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen). Im Sinne des Meistbegünstigungsgrundsatzes ist aber davon auszugehen, dass ein bereits gestellter Antrag auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts diejenigen Leistungen beinhaltet, die nach Lage des Falls ernsthaft in Betracht kommen (Link in Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. Aufl 2008, § 37 RdNr 21; BSG, Urteil vom 2.7.2009 – B 14 AS 75/08 R – RdNr 11 zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen; zum Klageantrag: BSG, Urteil vom 7.11.2006 – B 7b AS 8/06 R – BSGE 97, 217 = SozR 4-4200 § 22 Nr 1, jeweils RdNr 11) und dem Antrag auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts eine „Türöffner-Funktion“ für diese Leistungen zukommt (vgl zur Funktion des Antrags bei der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung auch BSG, Urteil vom 29.9.2009 – B 8 SO 13/08 R – RdNr 15, zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen; zur „Türöffner-Funktion“ der Arbeitslosmeldung im SGB III: BSG, Urteil vom 7.10.2004 – B 11 AL 23/04 R – BSGE 93, 209 = SozR 4-4300 § 122 Nr 2 jeweils RdNr 13). Der Antrag der Kläger auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts vom 19.12.2006 umfasste auch die angemessenen Kosten für Unterkunft und Heizung. Eine sachliche und zeitliche Konkretisierung der von der Antragstellung umfassten Bedarfe kann auch zu einem späteren Zeitpunkt, insbesondere dann vorgenommen werden, wenn sich weitere Bedarfe erst während des laufenden Leistungsbezugs ergeben, also die Forderung – wie hier – erst nach Antragstellung fällig wird. Mit der Vorlage der Heiz- und Betriebskostennachforderung bei der Beklagten haben die Kläger die Höhe ihres Bedarfs insofern lediglich weiter konkretisiert, jedoch keine weitere, vom Antrag nicht erfasste Leistung beantragt.
Wenn bereits kein gesonderter Antrag zu stellen ist, warum sollte dann ein Überprüfungsantrag gestellt werden müssen? Der Punkt ist doch: Der Antrag auf Übernahme der Betriebskosten in der tatsächlichen Höhe ist mit dem Leistungsantrag gestellt, aber noch nicht „richtig“ beschieden.