Beratungshilfe: Erledigungsgebühr für einen erfolgreichen Überprüfungsantrag?
Veröffentlicht: 15. November 2019 Abgelegt unter: Beratungshilfe 5 Kommentare
Amtsgericht Kiel (Photo: Helge Hildebrandt)
Zu einer umstrittenen Frage im anwaltlichen Gebührenrecht gehört, ob die Erledigungsgebühr nach Nr. 1002 VV RVG (hier bei Beratungshilfe nach Nr. 2508 (1) VV RVG) zur Entstehung gelangt, wenn die Behörde aufgrund anwaltlicher Tätigkeit einen zuvor abgelehnten Bescheid erlässt. Vielfach wird dies – mit nie überzeugenden Begründungen, siehe dazu meinen Kommentar in den Kommentaren mit der Begründung meiner Erinnerung im konkreten Fall – abgelehnt.
Das AG Kiel hat mit Beschluss vom 12.11.2019, 7 UR II 2126/17 nun entschieden, dass in diesen Fällen die Erledigungsgebühr festzusetzen ist. Zur Begründung führt das Gericht eher knapp aus:
Dem Bevollmächtigten steht die geltend gemachte Erledigungsgebühr zu. Nr. 1002 VV-RVG ist jedenfalls entsprechend anwendbar, da die Voraussetzungen für eine analoge Anwendung dieser Vorschrift, nämlich eine planwidrigen Regelungslücke und eine vergleichbare Interessenlage, vorliegen. Hierzu findet sich in der Kommentarliteratur (BeckOk RVG/Hofmann, 45. Ed. 1.12.2018, RVG W 1002 Rn. 10-8) Folgendes:
„Dennoch ist entgegen des Gesetzeswortlautes VV 1002 ergänzend auch auf die Fälle anwendbar, in denen es außerhalb des sonst üblichen Widerspruchsverfahrens gelingt, vor Einreichung der Klage die Behörde zur Aufhebung oder Änderung ihres Verwaltungsaktes zu bewegen.
VV 1002 soll iErg den Anwendungsbereich der Erfolgsgebühr des VV 1000 ergänzen, sodass auch dort, wo kein Vertrag geschlossen werden kann, für die Vermeidung eines Gerichtsverfahrens oder die Erledigung eines Gerichtsverfahrens de Belohnungsgebühr gezahlt werden kann. Daher muss hier eine Auslegung erfolgen: dem Gesetzgeber kam es auf das Ergebnis der Erledigung ohne die Durchführung eines Gerichtsverfahrens an. Wenn dieses Ergebnis erreicht wird, soll umfassend eine Belohnungsgebühr anfallen.
Der Gesetzgeber hat, wie die beratenden Gremien zuvor, das Problem schlicht übersehen.“
Dem schließt sich das Gericht an. Der erkennbare Zweck der Honorierung in Form der Einigungs- und Erledigungsgebühren liegt in der vorgerichtlichen Klärung der Rechtsverhältnisse.
Um der Landeskasse die Möglichkeit zu geben, die Reichweite des Gebührentatbestandes der Nr. 1002 VV RVG zu klären, hat das Amtsgericht die Beschwerde zum Landgericht zugelassen. Mit Schriftsatz vom 21.11.2019 ist Landeskasse gegen den Beschluss des AG Kiel in die Beschwerde gegangen.
Nachtrag 29.01.2020: Das LG Kiel hat mit Beschluss vom 24.01.2020 zum Aktenzeichen 5 T 53/19 die Entscheidung des AK Kiel bestätigt, wonach für ein erfolgreiches Überprüfungsverfahren nach § 44 SGB X die Erledigungsgebühr nach Nr. 1002 VV RVG i.V.m. Nr. 2508 (1) VV RVG zur Entstehung gelangt.
Rechtsanwalt Helge Hildebrandt
Hier die Begründung meiner Erinnerung vom 20.01.2018:
Streitig ist die Frage, ob die Erledigungsgebühr nach Nr. 2508 VV RVG festzusetzen ist, wenn die Behörde aufgrund anwaltlicher Tätigkeit einen zunächst abgelehnten Bescheid (hier die vier Änderungsbescheide vom 02.10.2017) erlässt.
Im inkriminierten Rechtspflegerbeschluss vom 29.12.2017 wird dies abgelehnt. Es fehle an einem „mit einem Rechtsbehelf angefochtenen Verwaltungsakt“. Hierin sei kein „Rechtsmittel“ zu sehen. Auch läge keine ablehnende Entscheidung vor.
1. Nr. 1002 Alt. 1 VV RV regelt: „Die Gebühr entsteht, wenn sich eine Rechtssache ganz oder teil-weise nach Aufhebung oder Änderung des mit einem Rechtsbehelf angefochtenen Verwaltungsakts durch die anwaltliche Mitwirkung erledigt.“
Hier wurde die Bewilligungsentscheidungen vom 19.12.2016 usw. für den Zeitraum ab 01.03.2017 aufgrund des anwaltlichen Überprüfungsantrages vom 24.07.2017 durch Änderungsbescheide abgeändert.
Natürlich handelt es sich bei einem Überprüfungsantrag um kein „Rechtsmittel“, da es nicht um ein gerichtliches, sondern ein außergerichtliches behördliches Verfahren geht.
Ob es sich bei einem Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X nicht doch um einen „Rechtsbehelf“ handelt, scheint mir keinesfalls so eindeutig zu sein. Unstreitig ist, dass es sich bei dem „Antrag“ (!) auf Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 51 VwVfG um einen Rechtsbehelf handelt. Auf die Bezeichnung im Gesetz als „Antrag“ kann es mithin nicht ankommen. Der Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X ist zudem das sozialrechtliche Gegenstück zu dem verwaltungsrechtlichen Rechtsbehelf nach § 51 VwVfG. Auch der Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X dürfte mithin ein Rechtsbehelf sein.
Der Nachzahlungsanspruch gemäß § 44 SGB X ist im Übrigen durchaus auch an eine Frist gebunden (vgl. § 40 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II i.V.m. § 44 Abs. 4 SGB X). Es gibt aber auch zahlreiche Rechtsbehelfe, die an keine Frist gebunden sind (u.a. auch die Erinnerung gegen Rechtspflegerbeschlüsse im Rahmen der Beratungshilfe, vgl. etwa OLG Jena, Beschluss vom 20.03. 2006, 1 Ws 407/05). Nur weil bestimmte Rechtsbehelfe an eine Frist gebunden sind, kann daraus also nicht der Schluss gezogen werden, alle anderen Rechtsbehelfe (wie etwa die Erinnerung nach § 56 Abs. 1 RVG), die an keine Frist gebunden sind, seien keine Rechtsbehelfe (so aber Rechtspflegerbeschlüsse am AG Kiel).
Auf sämtliche nichtförmlichen „Rechtsbehelfe“ wird zudem auch in keinen Belehrungen hingewiesen. Sie sind aber dennoch unstreitig Rechtbehelfe (hierauf abstellend ebenfalls Rechtspfleger am AG Kiel).
2. Nr. 1002 Alt. 2 VV RV regelt: „Das Gleiche gilt, wenn sich eine Rechtssache ganz oder teilweise durch Erlass eines bisher abgelehnten Verwaltungsakts erledigt.“
Unabhängig davon, ob ein Überprüfungsantrag nach § 40 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II i.V.m. § 44 Abs. 4 SGB X ein Rechtsbehelf ist oder nicht, dürfte vorliegend jedenfalls die Erledigungsgebühr nach Nr. 1002 Alt. 2 VV RVG entstanden sein.
Nr. 1002 Alt. 2 VV RVG unterscheidet sich von Alt. 1 gerade dadurch, dass hier kein (erlassener) Verwaltungsakt nach Anfechtung aufgehoben oder geändert worden sein muss, sondern es muss ein bisher abgelehnter Verwaltungsakt (erstmals) erlassen worden sein. Da dies im Sozialrecht und Verwaltungsrecht nie durch ein Widerspruch erreicht werden kann (durch einen Widerspruch kann immer nur ein Verwaltungsakt angefochten und in der Folge aufgehoben werden, die Bewilligungsentscheidung erfolgt dann wieder im Verwaltungsverfahren), ist für Nr. 1002 Alt. 2 VV RVG gerade nicht Voraussetzung, dass sich die Rechtssache aufgrund der Einlegung eines „Rechtsbehelfs“ gegen einen Verwaltungsakt erledigt (Anfechtungssituation). Die Rechtssache muss sich vielmehr aufgrund anwaltlicher Mitwirkung allein „durch Erlass eines bisher abgelehnten Verwaltungsaktes“ erledigen. Die „Ablehnung“ lag hier in der Ablehnung der Anerkennung höherer Unterkunftskosten nach § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II im Zeitraum ab 01.03.2017 durch die Bewilligungsentscheidungen vom 19.12.2016 usw. für den Zeitraum ab 01.03.2017 und die – nach Alt. 2 die Erledigungsgebühr auslösende – vier erlassenen Änderungsbescheide vom 02.10.2018.
Das LG Kiel folgt der hiesigen Begründung (095/17) in seinen rechtlichen Hinweisen vom 19.12.2019:
„Landgericht Kiel
Kiel, 19.12.2019
5 T 53/19
Verfügung
In Sachen
Bezirksrevisor
wg. Beratungshilfesache hier: Kostenfestsetzung
In der vorbezeichneten Beschwerdesache ist die Beschwerde zulässig.
Die Beschwerde dürfte aber unbegründet sein, da die Erledigungsgebühr gemäß Nr. 1002 VV RVG i.V.m. Nr. 2508 VV entstanden sein dürfte.
Die Erledigungsgebühr ist vom Rechtsanwalt verdient, wenn sich eine Rechtssache ganz oder teilweise nach Aufhebung oder Änderung des mit einem Rechtsbehelf angefochtenen Verwaltungsakts durch die anwaltliche Mitwirkung erledigt. Das Gleiche gilt, wenn sich eine Rechtssache ganz oder teilweise durch Erlass eines bisher abgelehnten Verwaltungsakts erledigt.
Diese Voraussetzungen liegen nach Auffassung des Einzelrichters vor. Denn zunächst einmal ist das behördliche Überprüfungsverfahren nach § 44 SGB X ein Rechtsbehelf, denn ein Rechtsbehelf ist jedes Verfahren, das die Überprüfung einer gerichtlichen oder behördlichen Entscheidung zum Gegenstand hat. Das ist hier erkennbar der Fall, da es um die nachträgliche Überprüfung einer behördlichen Entscheidung geht. Es ist unerheblich, ob der „Rechtsbehelf“ von einer Frist abhängig gemacht wird oder nicht. Das deutsche Verfahrensrecht kennt durchaus Rechtsmittel/Rechtsbehelfe, die ohne eine Frist möglich sind.
Darüber hinaus dürfte auch die vom Rechtsanwalt begehrte Überprüfung im Ergebnis als Verwaltungsakt zu bewerten sein. Ein solcher liegt grundsätzlich vor, wenn ein hinreichend bestimmter Einzelfall durch hoheitliches Handeln entschieden wird und ein Subordinationsverhältnis gegeben ist. Für diesen Fall ist darüber hinaus verwaltungsrechtlich zu beachten, dass § 44 SGB X die Rücknahme regelt. Bekanntlich teilt die Rücknahme eines Verwaltungsaktes die Rechtsnatur des Ausgangsverwaltungsaktes und wird dogmatisch als actus-contrarius eingeordnet. Der Rechtsanwalt hat hier im Ergebnis mit dem Überprüfungsantrag eine Teilrücknahme des Verwaltungsaktes begehrt. Diese wird man aber aus den vorgenannten Gründen auch als Verwaltungsakt zu bewerten haben. In der Leistungsverwaltung betrifft eine nachträgliche Änderung der Höhe des Zahlungsanspruchs den wesentlichen Inhalt des Ausgangsverwaltungsaktes. Soweit hier eine Änderung seitens der Behörde in der Höhe vorgenommen wird, entscheidet sie wieder hoheitlich zur Regelung eines Einzelfalls auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts. Deutlich wird dies, wenn ein Überprüfungsantrag zu einer reformatio in peius führt, d.h. zum Nachteil des An-
tragsstellers abgewichen wird. Hier liegt ein Fall der Eingriffsverwaltung vor, wo ohne Weiteres von einem Verwaltungsakt dogmatisch auszugehen sein dürfte.“
Wie ist es denn, wenn ein RA für einen Alg II-Empfänger, der ja wegen Mittellosigkeit auf PKH angewiesen ist, Widerspruch gegen Bescheide einlegt, gegen den Widerspruchsbescheid Klage erhebt (da in jedem Schreiben des JC die Rechtsmittelbelehrung stand), der RA vom Gericht den Hinweis erhält, dass die Klage nicht statthaft sei, da in selber Sache bereits ein Klageverfahren läuft und er die Klage zurücknimmt, bevor vom Gericht eine Entscheidung die PKH betreffend getroffen wurde – käme auch hier eine Erledigungsgebühr in Betracht oder fordert der RA dann die Kosten vom AlgII-Bezieher ein?
Nachdem die Klage zurückgenommen ist, kann über den PKH-Antrag nicht mehr entschieden werden. Das ist indessen in dem von Ihnen geschilderten Fall nicht weiter schlimm, weil PKH vom Gericht absehbar ohnehin nicht bewilligt worden wäre. Natürlich hat das Jobcenter für die unzulässige Klage (kein Rechtsschutzbedürfnis) keine Kosten zu erstatten. Bleibt die Frage, ob der RA von seinem Mandanten eine Vergütung verlangen kann. Das dürfte m.E. davon abhängen, ob der RA wusste, dass in derselben Sache bereits eine Klage anhängig ist. Wusste er das, hätte er seinen Mandanten über die Unzulässigkeit der Klage aufklären müssen und sicherlich keine Klage erhoben. Wusste er nicht, dass in der Sache bereits eine Klage anhängig ist (weil er in dem bereits anhängigen Klageverfahren nicht vertritt und ihn der Mandant über das bereits laufende Klageverfahren auch nicht unterrichtet hat), wird der Mandant die Kosten des von ihm beauftragen und nicht hinreichend unterrichteten RA tragen müssen.
Zuerst 1 Zitat von dir (Helge Hildebrandt) aus deinem Artikel:
„Nachtrag 29.01.2020: Das LG Kiel hat mit Beschluss vom 24.01.2020 zum Aktenzeichen 5 T 53/19 die Entscheidung des AK Kiel bestätigt, wonach für ein erfolgreiches Überprüfungsverfahren nach § 44 SGB X die Erledigungsgebühr nach Nr. 1002 VV RVG i.V.m. Nr. 2508 (1) VV RVG zur Entstehung gelangt.“
Zitatende!
Bei Nennung des Gerichtes „Landgericht“ (LG) Kiel, also nicht Sozialgerichtsbarkeit (Sozialgericht Kiel oder Landessozialgericht Schleswig-Holstein) werde ich immer hellhörig.
Beim LG Kiel (die Fälle damals und der jetzige Fall sind natürlich nicht vergleichbar) hast du ja im Jahre 2010 ein „Anerkenntnisurteil“ erwirkt, weil das Jobcenter Kiel den Antrag auf Weiterbewilligung ALG II nicht rechtzeitig bearbeitet hat, das Girokonto deswegen über kein Guthaben verfügte und es zu Gebühren für Rücklastschriften kam (Miete und anderes konnte nicht abgebucht werden. Diese Gebühren musste das Amt dem ALG II erstatten:
https://sozialberatung-kiel.de/2016/04/25/schadensersatz-bei-zu-spaeter-zahlung-von-alg-ii/
(Am 15.11.2019 hatte ich meinen Antrag auf Weiterbewilligung ALG II beim Jobcenter Kiel-Mitte für die Zeit 01.01.2020 bis 31.12.2020 abgegeben. Am 01.01.2020, also nach 6 Wochen, hatte ich immer noch keinen Bewilligungsbescheid. Mein Girokonto war im Minus, hatte aber Gott sei Dank noch ein „Dispo“, sodass es nicht zu Rücklastschriften kam) …