Keine Beratungshilfe für die Einlegung eines Widerspruches nach Ablauf der Monatsfrist?

Amtsgericht Kiel (Photo: Helge Hildebrandt)

Mit Beschluss vom 30.06.2020 hat das AG Kiel in der Beratungshilfeangelegenheit 7 II 1974/19 entschieden, dass ein Rechtsuchender mit geringem Einkommen, der gegen den Bescheid einer Behörde innerhalb der Monatsfrist keinen Rechtsbehelf einlegt, wohl aber innerhalb der Jahresfrist gemäß § 66 Abs. 2 Satz 1 SGG wegen nicht ordnungsgemäßer Rechtsmittelbelehrung (zu dieser Problematik siehe Rechtsmittelbelehrung muss auf elektronische Form hinweisen), auch für ein Widerspruchsverfahren keinen Anspruch auf Beratungshilfe hat. Zum Tatbestand und zur Begründung hat das AG Kiel ausgeführt:

I.) Die Antragstellerseite begehrt nachträglich Beratungshilfe. Als Angelegenheit ist im Antragsformular (Buchstabe A) benannt: „_________ _________________ – Widerspruch gegen Aufhebungs- und Erstattungsbescheid 02.05.18 (01-02/18)“. Die Bevollmächtigte lege gegen den Bescheid unter der Annahme, die Widerspruchsfrist sei aufgrund einer fehlerhaften Rechtsbehelfsbelehrung gewahrt, Widerspruch ein.

Das Amtsgericht hat durch den angefochtenen Beschluss die Bewilligung von Beratungshilfe ablehnt, da die Inanspruchnahme von Beratungshilfe aufgrund des mit dem Zeitablaufs verbundenen Kostenrisikos mutwillig sei.

Hiergegen richtet sich die Erinnerung. Wegen der Begründung wird Bezug genommen auf den Schriftsatz vom 19.08.2019.

II.) Die Erinnerung hat keinen Erfolg.

1.) Die Voraussetzungen für eine Bewilligung von Beratungshilfe liegen für die Antragstellerseite nicht vor.

Auf Antrag ist Beratungshilfe zu bewilligen, wenn die Voraussetzungen des § 1 und § 2 BerHG vorliegen. Zudem muss das allgemeine Rechtsschutzbedürfnis vorliegen (vgl. Büttner/Wrobel-Sachs/Gottschalk/Dürbeck, Prozess- und Verfahrenskostenhilfe, Beratungshilfe, 6. Aufl., Rn. 960).

Diese Voraussetzungen liegen bei dem Antrag der Antragstellerseite nicht vollständig vor. Der Antragstellerseite steht nämlich kein Rechtsschutzbedürfnis zur Seite. Denn ihr oblag es – als Voraussetzung für eine Bewilligung von Beratungshilfe –, zunächst Eigenmaßnahmen im Rahmen von Beratungshilfe zu ergreifen.

Für das BVerfG ist unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten kein Verstoß gegen das Gebot der Rechtswahrnehmungsgleichheit erkennbar, wenn dem unbemittelten Rechtsuchenden die Bewilligung von Beratungshilfe wegen ausreichender Selbsthilfemöglichkeiten versagt wird (vgl. z.B. BVerfG NZS 2011, 462). Denn auch ein bemittelter Rechtsuchender würde bei ausreichend bestehenden Selbsthilfemöglichkeiten die Einschaltung eines Rechtsanwalts vernünftigerweise nicht in Betracht ziehen (vgl. BVerfG NJW 2009, 2417; BVerfG NZS 2011, 462). Der unbemittelte Rechtsuchende ist nämlich nur einem solchen bemittelten Rechtsuchenden gleichzustellen, bei seiner Entscheidung für die Inanspruchnahme von Rechtsrat auch die hierdurch entstehenden Kosten berücksichtigt und vernünftig abwägt (BVerfGE NJW 2009, 209; BVerfG NJW 2009, 3417; BVerfG NZS 2011, 462). Ein kostenbewusster Rechtsuchender wird dabei insbesondere prüfen, inwieweit er fremde Hilfe zur effektiven Ausübung seiner Rechte braucht oder selbst dazu in der Lage ist (BVerfG NZS 2011, 462).

Einfachrechtlich ist die Einordnung Selbsthilfe als Voraussetzung für die Bewilligung von Beratungshilfe zwar streitig. Das Gericht teilt indes die Ansicht, dass die Selbsthilfe im Rahmen des allgemeinen Rechtsschutzbedürfnisses einzuordnen ist.

Ob ausreichende Selbsthilfemöglichkeiten bestehen, hängt insbesondere davon ab, ob der dem Beratungsanliegen zugrunde liegende Sachverhalt schwierige Tatsachen- oder Rechtsfragen aufwirft und der Rechtsuchende über besondere Rechtskenntnisse verfügt (vgl. BVerfG NJW 2009, 3417; BVerfG NZS 2011, 462). Ein pauschaler Verweis auf die Beratungspflicht der Behörde stellt indes keine zumutbare Selbsthilfemöglichkeit dar, wenn Ausgangs- und Widerspruchsbehörde identisch sind (BVerfG NJW 2009, 3417; BVerfG NZS 2011, 462). Abgestellt werden kann aber – ungeachtet der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage – darauf, dass der unbemittelte Rechtsuchende im konkreten Fall in der Lage ist, einen Widerspruch persönlich, das heißt ohne anwaltliche Hilfe einzulegen (BVerfG NZS 2011, 462). Das Bundesverfassungsgericht hat zu der Frage, im welchem Maße Eigenbemühungen im Rahmen des § 44 SGB X zumutbar sind, in seiner Entscheidung vom 19.08.2010 (BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 19. August 2010 – 1 BvR 465/10 –, Rn. 15, juris) Folgendes ausgeführt:

„Die Rechtswahrnehmungsgleichheit fordert eine weitgehende Angleichung der Situation von Bemittelten und Unbemittelten im Bereich des gerichtlichen wie außergerichtlichen Rechtsschutzes (vgl. BVerfGE 122, 39 <48 f.>; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 11. Mai 2009 – 1 BvR 1517/08 -, NJW 2009, S. 3417). Dabei ist der Unbemittelte einem solchen Bemittelten gleichzustellen, der bei seiner Entscheidung für die Inanspruchnahme von Rechtsrat auch die hierdurch entstehenden Kosten berücksichtigt und vernünftig abwägt. Ein kostenbewusster Rechtsuchender wird dabei insbesondere prüfen, inwieweit er fremde Hilfe zur effektiven Ausübung seiner Verfahrensrechte braucht oder selbst dazu in der Lage ist.

(10) Die Frage nach der Selbsthilfe mag einfachrechtlich im Rahmen des Beratungshilfegesetzes umstritten sein (generell ablehnend Schoreit, in: Schoreit/Groß, Beratungshilfe und Prozesskostenhilfe, 9. Aufl. 2008, § 1 Rn. 52; für Berücksichtigung im Rahmen eines allgemeinen Rechtsschutzinteresses: Kalthoener/Büttner/ Wrobel-Sachs, Prozesskostenhilfe und Beratungshilfe, 4. Aufl., 2005, Rn. 954, 960). Unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten ist aber jedenfalls kein Verstoß gegen das Gebot der Rechtswahrnehmungsgleichheit erkennbar, wenn ein Bemittelter deshalb die Einschaltung eines Anwalts vernünftigerweise nicht in Betracht ziehen würde.

(11) Bei der Bewertung dieser Frage, hat das Amtsgericht eine Abwägung im Einzelfall zu treffen. Verfassungsrechtlich zu beanstanden ist insbesondere, wenn ein Rechtsuchender für das Widerspruchsverfahren zur Beratung an dieselbe Behörde verwiesen wird, gegen die er sich mit dem Widerspruch richtet (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 11. Mai 2009 – 1 BvR 1517/08 -, NJW 2009, S. 3419).

(12) Die Entscheidung des Amtsgerichts überschreitet dagegen die von der Rechtswahrnehmungsgleichheit gesetzten Grenzen nicht, wenn es hier vom Beschwerdeführer zunächst eigene Schritte zur Einleitung eines Überprüfungsverfahrens erwartet.

(13) Ein vernünftiger bemittelter Rechtsuchender müsste die Kosten der Rechtsverfolgung für ein Überprüfungsverfahren (§ 44 SGB X) selbst tragen, weil es ein neues Verwaltungsverfahren darstellt, das auf seinen Antrag ergeht und würde damit seine vorhandenen Mittel auf jeden Fall schmälern. Aufwendungen für die Hinzuziehung eines Rechtsanwalts können im Erfolgsfall erst für ein Widerspruchsverfahren (§ 63 Abs. 2 SGB X), nicht aber für den Überprüfungsantrag erstattet werden (vgl. BSGE 55, 92). Insoweit kommt es auf die Bedeutung der Angelegenheit für den Rechtsuchenden an, die für die Vergangenheit nicht allein mit dem Hinweis auf die existenzsichernde Bedeutung der Leistungen begründet werden kann.

(14) Grundsätzlich ist es einem kostenbewussten Rechtsuchenden auch zumutbar, die Tatsachenklärung innerhalb der Widerspruchsfrist (§ 84 Sozialgerichtsgesetz) in Angriff zu nehmen. Unterbleibt dies ohne ersichtlichen Grund, so lässt sich die Notwendigkeit fremder Hilfe jedenfalls nicht mit den Schwierigkeiten begründen, die sich bei der Aufklärung länger zurückliegender Zeiträume wegen des Aktenumfangs und der Änderungen im Laufe der Zeit nahezu zwangsläufig ergeben. Eine verzögerte Überprüfung ohne konkrete Anhaltspunkte nimmt nur derjenige vor, für den Kosten keine Rolle spielen.

(15) Erfährt der Rechtsuchende nachträglich konkrete Anhaltspunkte, die aus seiner Sicht für die vergangene Leistungsgewährung von Bedeutung sein könnten, so ist es ihm grundsätzlich zumutbar, die Behörde zunächst selbst darauf aufmerksam zu machen. Dies gilt für Umstände zu seinen Lasten nicht anders als zu seinen Gunsten. Dem Rechtsuchenden bleibt es dabei unbenommen, nach Abschluss des Überprüfungsverfahrens ein Widerspruchsverfahren durchzuführen.“

Nach diesen Grundsätzen bestand für die Antragstellerseite die Möglichkeit, selbst bei der Behörde um eine Überprüfung des Bescheides nachzusuchen. Dies gilt in Fällen wie diesen unabhängig davon, ob für den Widerspruch die Monatsfrist oder aufgrund einer fehlerhaften Belehrung eine Frist von einem Jahr gilt. Denn ein kostenbewusster Rechtsuchender hätte sich aufgrund des Kostenrisikos innerhalb der im Bescheid mitgeteilten Frist um die Überprüfung des Bescheides bemüht. Da dies ohne erkennbaren Grund unterblieben ist, hat sich die Antragstellerseite nach Ablauf der benannten Frist zunächst selbst um die Überprüfung des Bescheides zu bemühen. Hierzu war sie auch in der Lage. Rechtliche oder tatsächliche Probleme sind insoweit weder vorgetragen noch sonst erkennbar. Daher hätte auch eine Partei, die selbst für die Kosten anwaltlicher Hilfe aufkommen muss, zunächst davon abgesehen, anwaltliche Hilfe zu suchen. Sonstige konkrete Anhaltspunkte für eine Unzumutbarkeit von Eigenbemühungen sind weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.

2.)

Eine Kostengrundentscheidung ist nicht angezeigt. Die Entscheidung ergeht gerichtsgebührenfrei. Außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.

Diese Entscheidung ist gemäß § 7 BerHG („… nur Erinnerung …“) nicht anfechtbar (so auch: OLG Schleswig v. 05.01.2011 – 2 W 271/10; OLG Schleswig v. 18.01.2011 – 2 W 8/11; LG Kiel v. 16.12.2009 – 3 T 364/09 OLG Hamm NJOZ 2011, 649 OLG Celle NJOZ 2011, 410 OLG Brandenburg NJOZ 2011, 409; OLG Naumburg NJOZ 2011, 1097 zu § 6 Abs. 2 BerHG a.F.). Die Zulassung der Beschwerde ist gesetzlich nicht vorgesehen.

Nach diesseitiger Rechtsauffassung wird in dem Beschluss des AG Kiel nicht hinreichend zwischen Widerspruchsverfahren und Überprüfungsverfahren differenziert: Für ein Widerspruchsverfahren ist nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG Beratungshilfe zu gewähren, eine Ablehnung verletzt einen Rechtsuchenden in seinem Grundrecht auf Rechtswahrnehmungsgleichheit aus Art. 3 Abs. 1 i.V. mit Art. 20 Abs. 1 und 3 GG (grundlegend BVerfG, Beschluss vom 11.05.2009, 1 BvR 1517/08; dem folgend: Beschlüsse vom 29.04.2015, 1 BvR 1849/11, 30.06.2009, 1 BvR 470/09, 31.8.2010, 1 BvR 2318/09, 14.9.2009, 1 BvR 40/09; 06.08.2009, 1 BvR 1554/08, 1 BvR 321/09, 1 BvR 320/09, 1 BvR 319/09, 1 BvR 281/09, 1 BvR 1550/08, 1 BvR 1551/08, 1 BvR 1552/08, 1 BvR 322/09), für ein Überprüfungsverfahren demgegenüber stellt die Ablehnung von Beratungshilfe jedenfalls keine Grundrechtsverletzung dar, d.h. Beratungshilfe kann, sie muss aber jedenfalls aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht gewährt werden.

Die vom AG Kiel in seinem Beschluss angeführte Entscheidung des BVerfG vom 19.08.2010, 1 BvR 465/10, betrifft nun aber gerade kein Widerspruchsverfahren, sondern ein Überprüfungsverfahren, während es in dem Beschluss des AG Kiel um Beratungshilfe für ein Widerspruchsverfahren – und das ist hier die einzige Besonderheit – innerhalb der Jahresfrist nach § 62 Abs. 2 Satz 1 SGG geht.

Der zentrale Satz im Beschluss des AG Kiel, mit dem das Gericht die Argumentation des BVerfG zu Überprüfungsverfahren auf Widerspruchsverfahren nach § 62 Abs. 1 Satz 1 SGG überträgt, lautet: „Denn ein kostenbewusster Rechtsuchender hätte sich aufgrund des Kostenrisikos innerhalb der im Bescheid mitgeteilten Frist um die Überprüfung des Bescheides bemüht.“ Einmal abgesehen davon, dass ein Rechtsuchender innerhalb der Monatsfrist natürlich gerade keine „Überprüfung“ beantragt, sondern Widerspruch erhoben hätte (und die Behörde selbst einen explizit gestellten „Überprüfungsantrag“ innerhalb der Monatsfrist vom Amts Wegen als „Widerspruch“ gedeutet und behandelt hätte), ist auch kein sachlicher Grund dafür ersichtlich, warum ein „kostenbewusster“ Selbstzahler bei einer unrichtigen Rechtsmittelbelehrung „innerhalb der im Bescheid mitgeteilten Frist“ – also der Monatsfrist – hätte Widerspruch erheben sollen. Denn das vom AG Kiel vermutete „Kostenrisiko“ besteht für den Rechtsuchenden tatsächlich schließlich gerade nicht, wenn er bei unrichtiger Rechtsmittelbelehrung den Widerspruch nicht innerhalb eines Monats, sondern erst innerhalb der Jahresfrist einlegt.

Gegen den Beschluss des Amtsgericht Kiel ist ein Rechtsmittel nicht gegeben, § 7 BerHG.. 

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt



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