„Kieler Kostenkästchen“ ade?
Veröffentlicht: 30. August 2017 Abgelegt unter: RA-Kosten | Tags: Kieler Kostenkästchen, Sozialgericht Kiel 2 Kommentare
Sozialgericht Kiel
Jeder Kieler Rechtsanwalt kann ein Lied davon singen und sich dabei der mitfühlenden Anteilnahme seiner auswertigen Kollegen sicher sein: Die Rede ist vom sog. „Kieler Kostenkästchen“ (böse Zungen sprechen auch vom „Kieler Käsekästchen“), dem Versuche eines Kieler Sozialrichters, die Anwaltsgebühren im Sozialrecht auf den Cent genau zu bestimmen und festzusetzen. Dabei sollte der Gebrauch des Diminutivs nicht den Blick darauf verstellen, dass dieser „kleine Kasten“ mit schönster Regelmäßigkeit auf 10 bis 20 bedruckten Seiten Raum zu greifen pflegt – was für sich genommen schon ein Ärgernis ist (hier ein eher harmloses Beispiel mit „nur“ neun Seiten). In rechtlicher Hinsicht gravierender wiegt, dass diese Kammer-Rechtsprechung in vielfacher Hinsicht mit der Rechtsprechung des BSG zur Ausfüllung des Gebührenrahmens in sozialrechtlichen Angelegenheiten (grundlegend BSG, Urteil vom 01.07.2009, B 4 AS 21/09 R) unvereinbar ist. Insbesondere die Auffassung, die aufgrund der „Kostenkästchen“-Rechtsprechung mutmaßlich mögliche exakten Gebührenbestimmung lasse keinen Platz mehr für den (in allen Rechtsgebieten und von allen Gerichten im Grundsatz anerkannten) Ermessensspielraum (von ungefähr 20 %) des Anwalts, ist – vorsichtig formuliert – selbstbewusst.
Die 45. Kammer am SG Kiel hat es nun etwas strenger formuliert und der „Kieler Kostenkästchen“-Rechtsprechung regelungssystematische und logische Fehler nachgewiesen und sah sich offenbar – erkennbar adressiert an die Urkundsbeamten der Geschäftsstelle (UdG) des SG Kiel – zu der Feststellung genötigt, dass es sich bei dem „Kieler Kostenkästchen“ „nicht um normatives Recht“ handelt. Zur lesenswerten Begründung, dass mir tatsächlich 17,85 € und damit damit eine um 4,6 % (!) höhere Gebühr zusteht (siehe dazu: Jobcenter Kiel: Zumindest bei den Rechtsanwaltsgebühren sehr „genau“), hat das Gericht ausgeführt:
„Die Bestimmung der im Einzelfall angemessenen Gebühr ist allerdings – wie bereits ausgeführt – gemäß § 14 Abs. 1 Satz 1 RVG vorrangig dem billigen Ermessen des Rechtsanwalts überlassen. Dem liegt die Erwägung zu Grunde, dass über die Bestimmung dessen, was noch als billig oder schon als unbillig zu gelten hat, leicht Streit entstehen kann. Solchen Streit wollte der Gesetzgeber möglichst vermeiden, indem er dem Rechtsanwalt ein Beurteilungs- und Entscheidungsvorrecht eingeräumt hat, das mit der Pflicht zur Berücksichtigung jedenfalls der in § 14 RVG genannten Kriterien verbunden ist (vgl. BSG 01.07.2009 – B 4 AS 21/09 R Rz 19 = BSGE 104, 30).
Die Literatur (vgl. nur: Mayer in Gerold/Schmidt, RVG, 22. Auflage 2015, § 14 Rz 12 m. w. N.; Becker in Hauck/Noftz, SGB X, § 63 Rz 93 Stand V/2017) und ihr folgend die Rechtsprechung (vgl. nur BSG 01.07.2009 – B 4 AS 21/09 R Rz 19 m. w. N. = BSGE 104, 30) gestehen dem Rechtsanwalt darüber hinaus einen von dem Kostenschuldner wie auch von den Gerichten zu beachtenden Spielraum von 20 % (Toleranzgrenze) derjenigen Gebühr zu, die nach Auffassung des Gerichts unter Berücksichtigung der Kriterien des § 14 RVG angemessen erscheint.
Die aus der Rechtsprechung des Sozialgerichts Kiel (vgl. Beschluss vom 31.05.2011 – S 12 SF 129/10) übernommene Auffassung des Erinnerungsgegners und der UdG, das sog. Kieler Kostenkästchen lasse keinen Raum mehr für einen dem Rechtsanwalt einzuräumenden Spielraum, wird von der beschließenden Kammer nicht geteilt. Dabei kann hier dahinstehen, ob das Kieler Kostenkästchen die Feststellung der Billigkeit der Gebühren mit so hoher Genauigkeit zulasst, dass für ein Abweichen der ermittelten Gebühren kein Erfordernis mehr besteht. Denn die genannte Auffassung lässt sich bereits mit dem oben dargestellten regelungssystematischen Zusammenhang nicht in Einklang bringen. Danach wird der 20 %ige Spielraum dem Rechtsanwalt im Rahmen seines Beurteilungs- und Entscheidungsvorrechts hinsichtlich der Anwendung der normativen Grundlagen der rechtsanwaltlichen Vergütung, insbesondere des Rechtsrahmens des § 14 Abs. 1 Satz 1 RVG und der Betragsrahmen der VV-RVG, eingeräumt und stellt mithin einen integralen Bestandteil der grundsätzlich dem Rechtsanwalt überlassenen Gesamtabwägung dar. Daraus folgt, dass er der dem UdG im Kostenfestsetzungsverfahren gemäß § 197 Abs. 1 Satz 1 SGG bzw. dem Richter im Erinnerungsverfahren gemäß § 197 Abs. 2 SGG obliegenden Feststellung, ob die getroffene Bestimmung i. S. d. § 14 Abs. 1 Satz 4 RVG billig oder aber i. S. d. § 14 Abs. 1 Satz 4 RVG unbillig und deshalb nicht verbindlich ist, logisch vorgeht und deshalb auch im Kostenfestsetzungs- bzw. Erinnerungsverfahren nicht außer Acht gelassen werden darf. Im Gegensatz dazu handelt es sich bei dem sog. Kieler Kostenkästchen nicht um normatives Recht, zu dessen Beachtung der Rechtsanwalt bei der Ausübung seines Beurteilungs- und Entscheidungsvorrechts verpflichtet wäre, sondern um eine richterrechtlich entwickelte Berechnungsmethode, welche der Rechtsanwalt seiner Gebührenbestimmung zugrundelegen kann, jedoch nicht muss. Tut er es nicht, nimmt er aber gleichwohl – ggf. unter Berücksichtigung des 20 %igen Spielraums – eine gemäß § 14 Abs. 1 Satz 1 RVG billige Bestimmung vor, so kann dem sog. Kieler Kostenkästchen deshalb allenfalls die Funktion eines Prüfinstruments im Rahmen der im Kostenfestsetzungs- bzw. Erinnerungsverfahren anzustellenden Gegenprobe zukommen, nicht aber diejenige eines die rechtsanwaltliche Gesamtabwägung reglementierenden Korrektivs. Insbesondere kann es in diesem Prüfungsstadium nicht an die Stelle des 20 %igen Spielraums des Rechtsanwalts treten und diesen nicht obsolet machen. Ein eigenständiger Anwendungsbereich ist vielmehr nur für den Fall denkbar, dass die Gebührenbestimmung des Rechtsanwalts mangels Unbilligkeit nicht verbindlich und durch eine Entscheidung des UdG oder des Richters zu ersetzen ist.
Streitig im vorliegenden Fall ist allein, ob die Terminsgebühr i. S. d. Nr. 3106 W-RVG in Höhe der Mittelgebühr (150,00 €) – wie der Erinnerungsführer meint – oder in Höhe von 2/3 der Mittelgebühr (135,00 €) – wie der Erinnerungsgegner und die UdG meinen – angemessen ist. Dies bedarf indes nach den vorangegangenen Ausführungen keiner inhaltlichen Entscheidung. Denn auch wenn die Auffassung des Erinnerungsgegners und der UdG zutreffen sollten, so bleibt der Mehransatz des Prozessbevollmächtigten des Erinnerungsführers jedenfalls innerhalb des ihm zuzugestehenden 20 %igen Spielraums und ist deshalb nicht unbillig.“
Nach sage und schreibe acht Jahren kann ich dieses Klageverfahren nun also auch kostenrechtlich abschließen.
SG Kiel, Beschluss vom 21.07.2017, S 45 SF 97/15 E
Rechtsanwalt Helge Hildebrandt
Sehr geehrter Herr Kollege,
dazu meinen herzlichen Glückwunsch.
Als Teilnehmer von Fortbildungen im Rahmen des Gebührenrechts im Sozialrecht wird man ja regelmäßig von Kollegen aus anderen Bundesländer mitleidig belächelt.
Es ist aber schön zu wissen, dass der Kostenbeamte zur Bestimmung der Terminsgebühr fleißig die Teilnahmeminuten berechnet werden (gottseidank zählt ja jetzt auch die Wartezeit dazu) und die Verfahrensgebühr nach den Spuren, die ein Anwalt in der Akte hinterlässt, beziffert.
Wer nur zwei Schriftsätze verfasst, hat schon schlechte Karten. Dann ist die Angelegenheit ja auch einfach.
Es wäre ja mal von Interesse zu erfahren, wie Ärzte reagieren würden, wenn ihre Leistung eingehend überprüft und erst nach Jahren beschieden wird.
Man muss sich schon die Frage stellen, wozu man Kammerbeiträge zahlt.
Mit freundlichen Grüßen
Bernd Petersen
Rechtsanwalt
Neumünster
Offenbar leidet zunehmend auch die Justiz unter dem weithin beklagten Fachkräftemangel. So wurde mir gerade erklärt, bei einer Verfahrensdauer von 21 Tagen und drei Schriftsätzen in einem Eilverfahren (!) sei der Arbeitsaufwand des Anwalts unterdurchschnittlich. Da fragt ich mich schon, ob dem Verfassern solcher Aussagen Sinn und Zweck eines Eilverfahrens bekannt sind. Die sehr gut besetzte Kostenkammer am SG Schleswig hat zu dieser Frage mal zutreffend ausgeführt (Beschluss vom 27.08.2010, S 4 SK 134/08 zu S 7 AS 257/08 ER, mein Az. 220/07):
„Der angefochtene Kostenfestsetzungsbeschluss lässt außer acht, dass die Durchführung eines Eilverfahrens vom Rechtsanwalt ein im Vergleich zu einem Hauptsacheverfahren rascheres und arbeitsintensiveres Tätigwerden erfordert, das sich bei interessengerechter Bearbeitung gerade nicht in einer größeren Anzahl von Schriftsätzen, sondern – bei vergleichbarem Arbeitsaufwand — in einem komprimierten und glaubhaft gemachten Sach- Und Rechtsvortrag niederschlägt. Jedenfalls dann, wenn deutlich wird, dass im Eilverfahren (wenn auch in kurzer Zeit) eine anwaltliche Aufbereitung des Streitstoffs erfolgt, die eine Entscheidung ermöglicht, kann es für die Bemessung der Verfahrensgebühr nicht auf die Anzahl der abgesetzten Schriftsätze ankommen, die unter den genannten Umständen eben nichts Verlässliches über den Umfang der anwaltlichen Tätigkeit aussagt (vgl. Sächs. LSG, Beschluss vom 07.02.2008 – L 6 B 33/08 AS-KO -). Nach diesen Kriterien ist vorliegend von einem zwar knappen, aber den Streitstoff umfassend aufbereitenden Sach- und Rechtsvortrag des Verfahrensbevollmächtigten auszugehen.“
Das schreibt ein erfahrener Richter, der den Zeitdruck in ER-Verfahren kennt. In Kiel begnügt sich demgegenüber jedenfalls eine Teil der UdG und ein Richter mit pauschalen Textbausteinen, die wenig mit einer objektiven Beurteilung anwaltlicher Arbeit, dafür aber viel mit Kostendrückerei zu tun haben. Das mag bei einem Bezirksrevisor angängig sein, bei einem Gericht, das der Rechtspflege verpflichtet sein sollte, mutet das demgegenüber befremdlich an.
PS: In dem Verfahren S 45 SF 97/15 E hatte ich am 05.07.2017 übrigens dem SG Kiel geschrieben:
„In dem Klageverfahren P. C. ./. Jobcenter Kiel, S 45 SF 97/15 E, hatte ich bereits am 25.04.2015 (also vor über drei Jahren!) Erinnerung gegen den Kostenfestsetzungsbeschluss des Gerichts vom 26.03.2015 eingelegt. Heute wurde ich vom Gericht informiert, dass ein Kammerwechsel stattgefunden hat. Ich frage an, ob in diesem Jahrzehnt noch mit einer Entscheidung über meine Erinnerung gerechnet werden kann. Ich würde die Akte gern irgendwann einmal archivieren.“
Tatsächlich hat das Gericht dann noch im Juli 2017 entschieden. Immerhin. Aus den 17,85 € sind durch Zinsen 60,74 € geworden. Kleines Trostpflaster.
PPS: Kommentar meines Mandanten in dieser Angelegenheit: „Jetzt weiß ich, warum die deutsche Justiz überlastet ist.“