Neue Mietobergrenzen für Kiel ab 01.01.2023

Die Kieler Ratsversammlung hat heute neue Regel-Höchstbeträge für anzuerkennende Mieten (Mietobergrenzen) in der Leistungsgewährung von Hilfen nach dem SGB II und dem SGB XII ab 01.01.2023 beschlossen. Die Anpassung der Beträge erfolgt auf der Grundlage des qualifizierten Mietspiegels 2023, der am 01.04.2023 in Kraft getreten ist. In diesem Zuge wurden auch die Beträge für einmalige Leistungen und einmalige Beihilfen neu festgesetzt. Aus dem Beschluss:

Kosten für Unterkunft und Heizung (§ 22 SGB II, § 42a SGB XII)

Die Anpassung der Mietobergrenzen ist erforderlich geworden, da aufgrund der Neuerstellung des Kieler Mietspiegels 2023 auch die Regel-Höchstbeträge für anzuerkennende Mieten (Mietobergrenzen) in der Leistungsgewährung von Hilfen nach dem Sozialgesetzbuch II (SGB II) und dem Sozialgesetzbuch XII (SGB XII) entsprechend anzupassen sind. Das Bundessozialgericht hat festgestellt, dass der unbestimmte Rechtsbegriff der angemessenen Kosten für Unterkunft und Heizung durch ein schlüssiges Konzept auszugestalten ist. Nach der Erstellung des Mietspiegels und dem Beschluss durch die Ratsversammlung wurden die neuen Mietobergrenzen von einem hierfür beauftragten Institut nach wissenschaftlichen Grundsätzen ermittelt und sind in der unten aufgeführten Tabelle für die verschiedenen Haushaltsgrößen aufgestellt. In den Beträgen ist ein Anteil für kalte Betriebskosten i.H.v. 1,81 Euro / m² enthalten.

Personen im HaushaltAnzuerkennende Wohnungsgröße (in m²)Mietobergrenze in EUR (2023)nachrichtlich:Mietober-grenze in EUR (2021)
1-Personenhaushalt< 50439,00397,00
2-Personenhaushalt> 50 – < 60519,00466,00
3-Personenhaushalt> 60 – < 75650,50610,50
4-Personenhaushalt> 75 – < 90795,00723,00
5-Personenhaushalt> 90- < 105946,50845,50
6-Personenhaushalt> 105 – < 1151.037,00925,50
7-Personenhaushalt> 115 – < 1251.127,001.005,50
Mehrbetrag für jedes wei­tere Familienmitglied1090,10 80,00 

Renovierungskosten (§ 22 Abs. 6 SGB II / § 35 Abs. 2 SGB XII)

Beihilfen für Renovierungen sind als Kosten der Unterkunft zu bewilligen, soweit sie notwendig sind und die Verpflichtung zur Renovierung rechtmäßig auf die/den Mieter/in übertragen wurde.

Die Renovierung umfasst das Streichen und Tapezieren von Wänden und Decken, das Streichen der Zimmertüren, den Innenanstrich der Fenster und der Wohnungstür sowie der Heizkörper einschließlich der Rohre.

Die sich ergebende insgesamt zu renovierende Grundfläche ist jeweils auf die nächsten vollen 45 m² aufzurunden. Folgende Kosten ergeben sich bei:

– Wandfläche bis zu   45 m² = 141,00 EUR

– Wandfläche bis zu   90 m² = 282,00 EUR

– Wandfläche bis zu 135 m² = 423,00 EUR

– Wandfläche bis zu 180 m² = 564,00 EUR

– Wandfläche bis zu 225 m² = 705,00 EUR

– Wandfläche bis zu 270 m² = 846,00 EUR

– je weiteren angefangenen 45 m² Wand zzgl. 141,00 EUR

Aufwandsentschädigung für private Hilfe

Auf Antrag kann für private Hilfe (Freunde, Bekannte, Nachbarn) eine pauschale Aufwandsentschädigung in Höhe von 50,00 EUR bewilligt werden.

Die einmaligen Beihilfen in der Leistungsgewährung von Hilfen nach dem Sozialgesetzbuch II (§ 24 Abs. 3 SGB II) und dem Sozialgesetzbuch XII (§ 31 Abs. 1 SGB XII) werden auf der Grundlage aktuell durchgeführter Preisermittlungen und aktueller Bedarfe wie folgt neu festgesetzt. Sämtliche genannte Pauschalen wurden durch Preisermittlung im Kieler Einzelhandel im ersten Quartal 2023 ermittelt.

Zum Vergleich werden die bisher gültigen Werte mit angegeben. Aufgrund der Neuaufnahme von bisher nicht erfassten Bedarfen war dies jedoch nicht in jedem Fall möglich. 

Erstausstattung mit Möbeln (§ 24 SGB II / § 31 SGB XII):

Pauschalen für Wohnungen ohne vorhandene Küchenausstattung

  • Einzelperson: 1.116,07 Euro
  • Einzelperson mit 1 Kind: 1.157,39 Euro
  • Einzelperson mit 2 Kindern: 1.315,88 Euro
  • Einzelperson mit 3 Kindern: 1.658,88 Euro
  • Paar ohne Kinder: 1.576,39 Euro
  • Paar mit 1 Kind: 1.645,22 Euro
  • Paar mit 2 Kindern: 2.077,88 Euro
  • Paar mit 3 Kindern: 2.149,88 Euro

Pauschalen für Wohnungen mit vorhandener Küchenausstattung

  • Einzelperson: 900,42 Euro (bisher 331,00 Euro)
  • Einzelperson mit 1 Kind: 941,75 Euro (bisher 506,00 Euro)
  • Einzelperson mit 2 Kindern: 1.100,24 Euro (bisher 702,00 Euro)
  • Einzelperson mit 3 Kindern: 1.443,23 Euro (bisher 877,00 Euro)
  • Paar ohne Kinder: 1.360,75 Euro
  • Paar mit 1 Kind: 1.429,57 Euro
  • Paar mit 2 Kindern: 1.862,23 Euro
  • Paar mit 3 Kindern: 1.934,23 Euro

Für jedes weitere Kind werden jeweils ein Stuhl (plus 41 Euro) und eine Sitzgelegenheit (plus 90 Euro) hinzugerechnet, ab 7 Personen ein großer Küchentisch (plus 268 Euro).

Zusätzlich zu den o.g. Pauschalen kommen pro Kind 279,95 Euro für Schrank, Bett und Matratze sowie 48,32 Euro für eine Schreibgelegenheit bei Schulbesuch hinzu.

Ausstattung Küche: Pauschalen für Schränke:

  • Schrank für die Spüle: 99,33 Euro
  • 1 Oberschrank:  51,66 Euro (bisher 27,00 Euro)
  • 1 Unterschrank: 64,66 Euro (bisher 40,00 Euro)

Elektrogroßgeräte/Lampen:

  • Standherd komplett (mit Backofen und Herdplatte) 266,00 Euro (bisher 189,00 Euro)
  • Kühlschrank 133,99 Euro (bisher 119,00 Euro)
  • Waschmaschine 236,00 Euro (bisher 200,00 Euro)
  • Kochplatte (vier Felder) 210,32 Euro
  • Backofen 239,96 Euro

(Ein Nachweis vom Vermieter, dass die Geräte bzw. Schränke nicht in der Wohnung vorhanden sind, ist verpflichtend vorzulegen.)

  • Lampen (inklusive Leuchtmittel) je Raum 9,00 €.

Hausratpauschale:

Für die übrigen Hausratgegenstände werden im Rahmen einer Erstausstattung folgende Pauschalen als Geldleistung bewilligt:

  • Haushalt mit 1-Person  = 495,00 EUR (bisher 303,00 Euro)
  • Haushalt mit 2-Personen = 573,00 EUR (bisher 370,00 Euro)
  • Haushalt mit 3-Personen = 651,00 EUR (bisher 437,00 Euro)
  • Haushalt mit 4-Personen = 729,00 EUR (bisher 504,00 Euro)
  • Haushalt mit 5-Personen = 930,00 EUR (bisher 634,00 Euro)
  • je weitere Person zusätzlich = 78,00 EUR (bisher 67,00 Euro)

Stehen nur einzelne Mitglieder eines Haushalts im Leistungsbezug, erhalten sie die kopfanteilige Pauschale der für den Gesamthaushalt maßgeblichen Hausratpau­schale.

Erstausstattung für Bekleidung nach § 24 Abs. 3 Nr. 2 SGB II / § 31 Abs. 1 Nr. 2 SGB XII

  • Kinder bis 2 Jahren  = 250,00 Euro
  • Kinder von 3 bis 14 Jahren = 308,00 Euro
  • Personen ab 15 Jahren = 418,00 Euro

Sonderbedarf bei Schwangerschaft und Entbindung nach § 24 Abs. 3 Nr. 2 SGB II / § 31 Abs. 1 Nr. 2 SGB XII

  • Ab dem 4. Schwangerschaftsmonat wird grundsätzlich eine Pauschale in Höhe von 363,00 EUR bewilligt, die den Bedarf für Umstandsbekleidung und Klinikbedarf aus Anlass der Entbindung ab­deckt. (bisher 194,00 Euro)

Säuglings- und Kinderausstattung nach § 24 Abs. 3 Nr. 2 SGB II / § 31 Abs. 1 Nr. 2 SGB XII

  • Erstlingsausstattung für den Bedarf der ersten sechs Lebensmonate: Pauschale in Höhe von 383,00 Euro. Die Auszahlung erfolgt ab dem 7. Schwangerschaftsmonat. (bisher 225,00 Euro)

Auf Antrag können weitere Beihilfen zusätzlich zur Pauschale gewährt werden:

  • Kombikinderwagen mit Matratze, Fußsack u. Regenverdeck 300,00 Euro (bisher 100,00 Euro)
  • Buggy Board für Geschwisterkinder 40,00 Euro (bisher 40,00 Euro)
  • Zwillingskinderwagen mit Matratzen, Fußsäcken u. Regenverdecken 220,00 Euro (bisher 200,00 Euro)

Bürgergeld: Der Abschluss eines Mietvertrages über die bereits bewohnte Wohnung ist kein Umzug

Schließt eine Bürgergeldbezieherin einen Mietvertrag über eine Wohnung, die sie schon zuvor als Mitbewohnerin einer Wohngemeinschaft (WG) bewohnt hat, benötigt sie vor Abschluss dieses Mietvertrags weder die Zusicherung der Kostenübernahme durch das Jobcenter noch kann das Jobcenter die Leistungen auf die Kosten ihres bisherigen WG-Zimmers deckeln. Das Jobcenter muss vielmehr auch zu hohe Mietkosten jedenfalls für einen gewissen Zeitraum übernehmen.

Die Bürgergeldbezieherin hat bis zum 28.02.2023 ein WG-Zimmer in einer 57,45 m2 großen Wohnung zusammen mit einem Mitbewohner bewohnt. Beiden waren Hauptmieter. Der Mitbewohner erklärte, zum 28.02.2023 ausziehen zu wollen. Aus diesem Grund schloss die Bürgergeldbezieherin zum 01.03.2023 einen Mietvertrag über die gesamte Wohnung ab. Das Jobcenter Kiel erkannte daraufhin ab dem 01.03.2023 nur noch Unterkunftskosten in Höhe der Mietobergrenze für einen Einpersonenhaushalt von gegenwärtig 397,00 € bruttokalt an. Zur Begründung führte es aus, die Bürgergeldbezieherin habe die Wohnung ohne die erforderliche Kostenzusicherung des Jobcenters gemäß § 22 Abs. 4 Satz 1 SGB II angemietet. Die Bürgergeldbezieherin sei auch in eine neue Wohnung umgezogen, denn sie habe einen Raum dazu erhalten, in dem vorher ihr Mitbewohner gewohnt habe.

Das Sozialgericht Kiel verpflichtete das Jobcenter Kiel, die vollen Mietkosten zu übernehmen. Denn die Bürgergeldbezieherin sei nicht „umgezogen“. Dies setze eine räumliche Veränderung voraus, die hier gerade nicht vorgelegen habe. Es sei auch kein Mietvertrag über eine „neue Unterkunft“ abgeschlossen worden, denn die Möglichkeit zur Nutzung eines weiteren Raumes mache die Wohnung nicht zu einer neuen Unterkunft. Auch eine Deckelung auf die bisherigen Kosten des WG-Zimmers nach § 22 Abs. 1 Satz 6 SGB II komme mangels Umzugs nicht in Betracht, wobei auch eine analoge Anwendung dieser Vorschrift ausscheide. 

SG Kiel, Beschluss vom 24.03.2023, S 39 AS 9/23 ER

Erstveröffentlichung in HEMPELS 5/2023

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Kein Alleinstehendenregelsatz bei Zusammenleben mit Asylbewerber

Eine Ehefrau muss den geringeren Sozialleistungssatz für Verheiratete bzw. Paare in einer Wohnung auch dann hinnehmen, wenn ihr Ehemann die niedrigeren Leistungen für Asylbewerber bezieht.

Bundessozialgericht in Kassel

Die erwerbsgeminderte Ehefrau bezog seit August 2015 zusammen mit ihren vier minderjährigen Kindern ALG II (jetzt Bürgergeld). Ende Januar 2017 zog ihr Ehemann in den Haushalt, der Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz in Höhe von damals 318 € (aktuell 330,00 € für Paare in einer Wohnung) monatlich erhielt. Das Jobcenter bewilligte der Ehefrau daraufhin nur noch die um 10 % abgesenkten Leistungen nach der Regelbedarfsstufe 2 in Höhe von monatlich 368 € (jetzt 502 €) anstatt 409 € (jetzt 451 €) nach der Regelbedarfsstufe 1. Aufgrund der gegenüber ALG II/Bürgergeld niedrigeren Asylbewerberleistungen hatte die Familie 50 € weniger zur Verfügung als ein Ehepaar, bei dem beide Partner ALG II/Bürgergeld beziehen. Aus diesem Grunde begehrte die Ehefrau weiterhin Leistungen wie eine Alleinstehende.

Ihre Klage vor dem Bundessozialgericht hatte keinen Erfolg. Da Ehepaare und Partner aus einem gemeinsamen Topf wirtschaften können und so Einsparpotenziale insbesondere im Bereich Lebensmittel, Energie und Wohnungsinstandhaltung sowie Nachrichtenübermittlung haben, kann der höhere Regelbedarf für Alleinstehende nicht mehr beansprucht werden. Dies gilt auch bei sogenannten gemischten Bedarfsgemeinschaften, bei denen unterschiedliche Sozialleistungen – hier Sozialgeld und die um 50 € geringeren Asylbewerberleistungen – gewährt werden. Denn auch für den Bereich Hausrat, der in den Grundleistungsbedarf nach dem Asylbewerberleistungsgesetz nicht als Geldleistungsbetrag eingeflossen ist und daher wesentlich zur Differenz des ausgezahlten monatlichen Betrags führt – können im Bedarfsfall gesondert Geld- oder Sachleistungen erbracht werden.

BSG, Urteil vom 15.02.2023, B 4 AS 2/22 R

Erstveröffentlichung in HEMPELS 4/2023

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Jobcenter muss Kosten einer Untätigkeitsklage tragen – keine Pflicht, sich vor Erhebung einer Untätigkeitsklage noch einmal an das Jobcenter zu wenden

Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts entschieden, dass die Kostengrundentscheidung eines Sozialgerichts die Beschwerdeführerin in ihrem Recht aus Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG) in seiner Ausprägung als Willkürverbot verletzt. Das Sozialgericht hat § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG) in nicht mehr nachvollziehbarer Weise angewendet.

Die im Bezug von Arbeitslosengeld II stehende Beschwerdeführerin erhob – nachdem das Jobcenter einen Kostenerstattungsantrag nicht beschieden hatte – nach Ablauf der gesetzlichen Wartefrist des § 88 Abs. 1 Satz 1 SGG Untätigkeitsklage zum Sozialgericht. Nach Erledigung des Rechtsstreits lehnte das Sozialgericht ihren auf Erstattung außergerichtlicher Kosten gerichteten Antrag, ohne dass ein zureichender Grund für die verspätete Bescheidung bestanden hätte, ab und begründete dies im Wesentlichen damit, die Beschwerdeführerin habe es pflichtwidrig versäumt, sich vor Einreichung der Klage nochmals an das Jobcenter zu wenden.

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Bürgergeld so lange, bis vorrangige Leistungen tatsächlich bewilligt sind

Bürgergeld (Grundsicherung für Arbeitssuchende nach dem SGB II) ist eine so genannte nachrangige Sozialleistung. Kann der notwendige Lebensunterhalt mithilfe anderer Sozialleistungen gedeckt werden, sind deswegen diese anderen Sozialleistungen zu beantragen, § 12 a Satz 1 SGB II. Im konkreten Fall hatte das Jobcenter Kiel den Weiterbewilligungsantrag einer alleinerziehenden Mutter mit zwei minderjährigen Kindern unter Bezugnahme auf diese Regelung für den Zeitraum ab 1.12.2022 Ende November 2022 mit der Begründung abgelehnt, die Familie könne ihren Lebensunterhalt mit Wohngeld und Kinderzuschlag decken. Die Mutter beantragte umgehend am 25.11.2022 sowohl Wohngeld als auch Kinderzuschlag. Sie wies das Jobcenter aber zugleich auf die langen Bearbeitungszeiten bei den Wohngeldstellen und der Familienkasse hin und begehrt die Weiterbewilligung von ALG II (jetzt Bürgergeld) bis zu einer tatsächlichen Bewilligung von Wohngeld und Kinderzuschlag. Dies lehnte das Jobcenter Kiel ab. Das Sozialgericht gab der Familie Recht.

Die maßgebliche Vorschrift des § 12a Satz 1 SGB II, welche Leistungsberechtigte nach dem SGB II verpflichtet, vorrangige Leistungen anderer Sozialleistungsträger in Anspruch zu nehmen, ermächtigt den Grundsicherungsträger nämlich nicht dazu, Leistungen nach dem SGB II unter Verweis auf eine zu beantragende vorrangigen Sozialleistung abzulehnen. Bis zum Zufluss der vorrangigen Sozialleistungen muss der Grundsicherungsträger bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen in Vorleistung treten und Leistungen nach dem SGB II – gegebenenfalls unter Anmeldung eines Erstattungsanspruchs gemäß §§ 102 ff. SGB X – weiter gewähren.

Sozialgericht Kiel, Beschluss vom 12.12.2022, S 41 AS 92/22 – rechtskräftig

Erstveröffentlichung in HEMPELS 2/2023

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Hartz IV: Keine Aufrechnung Strom gegen Gas

Beziehen Leistungsempfänger nach dem SGB II Strom und Gas von dem selben Anbieter und rechnet dieser in der Jahresabrechnung ein vorhandenes Stromguthaben gegen eine Heizkostennachforderung auf, muss der SGB II-Leistungsträger die gesamte Heizkostennachforderung übernehmen und nicht nur den um das Stromguthaben geminderten Betrag.   

Geklagt hatten die Eltern dreier Kinder, die als Familie Leistungen nach dem SGB II vom Jobcenter Schleswig-Flensburg erhalten. Mit der Jahresabrechnung für das Jahr 2017 teilten die Stadtwerke ihnen mit, dass aus den für Strom gezahlten Abschlägen ein Guthaben in Höhe von 611,79 € resultiere, für Gas aber noch eine Nachzahlung in Höhe von 649,24 € geleistet werden müsse. Die Stadtwerke rechneten diese beiden Beträge gegeneinander auf und forderten noch einen Betrag in Höhe von 37,45 € von der Familie. Nur diese Nachzahlung übernahm das Jobcenter. Die Familie forderte den gesamten Betrag für die Heizkostennachforderung in Höhe von 649,24 €.

Das Sozialgericht gab der Familie Recht. Denn die Heizkosten werden vom Jobcenter übernommen, Strom zahlen die Leistungsempfänger hingegen aus ihrem Regelsatz selbst. Somit steht ihnen grundsätzlich auch das aus einer Jahresabrechnung resultierende Guthaben für zu viel gezahlte Stromabschläge zu. Ist der Stromanbieter ein anderer als der Gaslieferant, bekommen Leistungsempfänger daher ein etwaiges Stromguthaben zurück, während sie eine Nachforderung für Heizgas vollständig über die SGB II-Leistungen erstattet erhalten. Das gilt genauso, wenn Leistungsbezieher Strom und Gas von demselben Versorger erhalten und dieser Guthaben und Nachzahlung miteinander verrechnet. 

Sozialgericht Schleswig, Urteil vom 10.08.2022, S 35 AS 635/18; Revision beim Bundessozialgericht anhängig unter dem Aktenzeichen B 7 AS 21/22 R

Erstveröffentlichung in HEMPELS 1/2023

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Bürgerbeauftragte: Wohngeld – Online gestellte Anträge sind verschwunden

Aufgrund eines Systemfehlers ist eine Online-Beantragung von Wohngeld nicht möglich. Bereits gestellte Anträge wurden nicht an die zuständigen Behörden übermittelt. „Das Fatale ist, dass die Betroffenen noch nicht über diesen Fehler informiert wurden“, so El Samadoni heute in Kiel. Sie rät allen Betroffenen, die Online einen Antrag gestellt und bisher keine Eingangsbestätigung erhalten haben, sich an die jeweilige Wohngeldstelle zu wenden, um sicherzugehen, dass der Antrag eingegangen ist. „Diese Computer-Panne passiert zur Unzeit“, führte die Bürgerbeauftragte aus. „Gerade jetzt stehen viele Menschen unter finanziellem Druck und benötigen dringend eine schnelle Bewilligung des Wohngelds – das fällt den Kommunen schon ohne technische Probleme schwer genug.“

In den vergangenen Jahren war es ohne Probleme möglich, online einen Wohngeldantrag zu stellen. Für viele Betroffene stellt die digitale Beantragung eine Erleichterung dar. Dieses Verfahren wurde jedoch aus Sicherheitsgründen vorerst vollständig gestoppt, weil ein Fehler im System entdeckt wurde. Wie viele Anträge genau von diesem Systemfehler betroffen sind, ist nicht bekannt. „Ich erwarte, dass diesbezüglich eine umgehende Aufklärung und Information an die Betroffenen erfolgen wird“, so El Samadoni. „Zudem wird man sich Gedanken darüber machen müssen, ob nicht das Land – falls durch den Fehler ein Schaden bei den Bürger*innen eintreten sollte – hierfür haften muss.“

Die Bürgerbeauftragte für soziale Angelegenheiten und ihr Team beraten zum Wohngeld gerne telefonisch von Montag bis Freitag zwischen 9.00 und 15.00 (mittwochs bis 18.30) unter der 0431-988 1240.

Quelle: https://www.landtag.ltsh.de/beauftragte/bb/pressemitteilungen/

Nachtrag: Bereits am 19.01.2023 hat der NDR berichtet, dass eine Online-Beantragung wieder möglich sei. Weiter heißt es in dem Beitrag: „Sorgen um den Verbleib des eigenen Antrages müssen sich die Nutzerinnen und Nutzer nicht machen“, erklärte Digitalisierungsminister Dirk Schrödter (CDU). Die Personen, die beim Antrag Probleme hatten, werden laut Schrödter kontaktiert. Nachteile gebe es für sie nicht.“

Quelle: Online-Anträge für Wohngeld in SH wieder möglich | NDR.de – Nachrichten – Schleswig-Holstein


Aller (Studien)Anfang ist schwer

Studenten und Studentinnen aus weniger betuchten Elternhäusern können ein Lied davon singen: Beginnen sie ihr Studium, steht neben der Wohnungssuche in gedrängter Zeit die Sicherung des Lebensunterhalts an. Der BAföG-Antrag wird gestellt, unzählige Nachweise sind zu besorgen und dem BAföG-Amt vorzulegen, viele Unterlagen wie etwa die Studienbescheinigung lassen auf sich warten und das BAföG-Amt signalisiert schon mal Bearbeitungszeiten von 3 bis 4 Monaten. Was nun?

Für den ersten Studienmonat hilft – was die wenigsten Studenten wissen – das Jobcenter weiter: Nach § 27 Abs. 3 Satz 3 SGB II kann das Jobcenter ein Darlehen in Höhe des ALG II-Anspruches gewähren. Dafür ist nicht Voraussetzung, dass der Student oder die Studentin schon vorher ALG II bezogen hat.

Aber was passiert, wenn der erste Monat des Studiums sich dem Ende neigt und BAföG noch immer nicht bewilligt ist? Darin liegt – so das Sozialgericht Kiel – keine „besondere Härte“ im Sinne von § 27 Abs. 3 Satz 1 SGB II. Denn der Gesetzgeber habe „offensichtlich Schwierigkeiten von Auszubildenden bei ihrer Lebensunterhaltssicherung zu Beginn ihrer Ausbildung in Kauf genommen“. Das Jobcenter müsse also kein Härtefalldarlehen ab dem zweiten Monat des Studiums bewilligen. Erst Studenten, die länger als 10 Wochen nach Antragstellung noch kein BAföG ausgezahlt bekommen haben, hätten einen Anspruch auf einen BAföG-Vorschuss nach § 51 Abs. 2 BAföG.

Anders hat das schon früh das Hamburgische Oberverwaltungsgericht gesehen: Auch vor Ablauf der Fristen nach § 51 Abs. 2 BAföG kann ein Student seinen BAföG-Anspruch etwa ab dem Tag, nach dem das ALG II-Darlehen ausläuft, im Eilverfahren vor dem Verwaltungsgericht durchsetzen, denn, so das Gericht, ein anderes Normverständnis liefe dem Regelungsanliegen des BAföG zuwider, dem Auszubildenden nicht nur eine wirksame, sondern auch schnelle Unterstützung zuteil werden zu lassen. § 51 Abs. 2 BAföG betreffe zudem nach seinem klaren Wortlaut nur Fälle, in denen BAföG (noch) nicht bewilligt oder ausbezahlt werden „kann“. Hat der Student also alle Unterlagen vorgelegt und alle Angaben gemacht, „kann“ ihm auch BAföG bewilligt werden.

Sozialgericht Kiel, Beschluss vom 14.10.2022, S 34 AS 64/22 ER; a.A. Hamburgisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 19.11.1991, Bs IV 307/91

Erstveröffentlichung in HEMPELS 12/2022

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Keine Eilbedürftigkeit bei ALG II anstatt Hilfe zum Lebensunterhalt

In einem Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes fehlt es für das Begehren, anstelle von Arbeitslosengeld II Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt in gleicher Höhe zu erhalten, regelmäßig an der Eilbedürftigkeit.

Der Hilfebedürftige in diesem Verfahren bezog von der Landeshauptstadt Kiel Hilfe zum Lebensunterhalt. Nachdem Feststellungen zur Erwerbsfähigkeit des Hilfebedürftigen nicht getroffen werden konnten, stellte die Stadt die Leistungen zum 01.06.2022 ein und verwies den Hilfesuchenden an das Jobcenter Kiel. Da ihm auch das Jobcenter Kiel ab 01.06.2022 keine existenzsichernden Leistungen (ALG II) bewilligt hatte, wandte sich der Hilfebedürftige an das Sozialgericht Kiel mit dem Antrag, die Stadt vorläufig zu verpflichten, ihm weiter Hilfe zum Lebensunterhalt zu zahlen. Das Sozialgericht lud das Jobcenter Kiel dem Verfahren bei und verpflichtet dieses, dem Hilfebedürftigen ALG II zu gewähren. Hiergegen wandte sich der Hilfeempfänger mit seinem Antrag zum Landessozialgericht und begehrte weiter, von der Stadt Kiel Hilfe zum Lebensunterhalt zu erhalten. Zur Begründung trug er vor, als ALG II-Empfänger müsse er sich – anders als als Empfänger von Hilfe zum Lebensunterhalt – etwa auf Arbeitsangebote bewerben, eine Arbeit aufnehmen, Eingliederungsvereinbarungen unterschreiben bzw. die in einem ersetzenden Verwaltungsakt einseitig festgelegten Pflichten erfüllen, die sanktionsbewährt seien. Er befürchte, diesen Pflichten aus gesundheitlichen Gründen nicht nachkommen zu können. Die Sanktionsgefährdung begründe einen rechtlichen Nachteil, dessen Abwendung eilig sei.

Die Eilbedürftigkeit erkannte das Landessozialgericht nicht. Der Bedarf sei durch ALG II gedeckt. Auch die sanktionsbewährten Pflichten im ALG II-Bezug begründeten keine Eilbedürftigkeit. Gegen etwaige – nach Ansicht des Landessozialgerichts unwahrscheinliche – Maßnahmen des Jobcenters könne sich der Hilfebedürftige notfalls mit den Mitteln des einstweiligen Rechtschutzes wehren. Zudem gelte bis zum 01.07.2023 für die meisten Sanktionen wegen der Corona-Pandemie ein Sanktionsmoratorium, so dass aktuell außer bei Meldepflichtsverletzungen keine Sanktionen drohten.

Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, Beschluss vom 02.08.2022, L 9 SO 71/22 B ER

Erstveröffentlichung in HEMPELS 10/2022

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


ALG II: Leistungsberechtigte müssen sicherstellen, dass Zahlungen sie auch erreichen

ALG II, das vom Jobcenter auf das im ALG-II-Antrag angegebene Girokonto überwiesen worden ist, ist dem Leistungsberechtigen wirksam erbracht worden, auch wenn dieser tatsächlich keinen Zugriff auf die ihm zustehenden Grundsicherungsleistungen hatte. Geklagt hatte eine 17-jährige Bezieherin, die bei ihrem Stiefvater lebte und noch über kein eigenes Girokonto verfügte. Ihre Grundsicherungsleistung sowie jene des Stiefvaters überwies das Jobcenter Segeberg auf das Girokonto des Stiefvaters. Zum 1.10.2020 zog die Klägerin nach Kiel, um dort eine Ausbildung zu beginnen. Am 23.10.2020 verstarb der Stiefvater. Auf ihren am 29.10.2020 in Kiel gestellten ALG-II-Antrag bewilligte das Jobcenter Kiel der Klägerin für den Zeitraum 23.10.2020 bis 30.09.2021 ALG II unter Anrechnung der vom Jobcenter Segeberg für sie für den Zeitraum 23.10.2020 bis 30.11.2021 auf das Konto des Stiefvaters gezahlten Regelleistungen, auf die sie keinen Zugriff mehr hatte.

Im Widerspruchs- und anschließenden Klageverfahren begehrte die Klägerin vom Jobcenter Kiel die Auszahlung des vollen Regelbedarfs für die Monate Oktober und November 2020 ohne Anrechnung der für sie vom Jobcenter Segeberg auf das Konto des Stiefvaters bezahlten Regelleistungen. Sie berief sich darauf, dass für den Eintritt der Erfüllung ihres ALG-II-Anspruches durch das Jobcenter Segeberg auf ein Konto hätte überwiesen werden müssen, auf welches sie tatsächlich auch Zugriff hat. Andernfalls sei ihr Existenzminimum tatsächlich nicht sichergestellt. Dem folgte das Sozialgericht Kiel nicht. Es falle in die Eigenverantwortung des Leistungsberechtigten, sicherzustellen, dass die Leistungen des Jobcenters so ausgezahlt werden, dass diese ihn auch tatsächlich erreichen.

Sozialgericht Kiel, Urteil vom 08.09.2022, S 31 AS 10161/21

Erstveröffentlichung in HEMPELS 11/2022

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Begleitung durch Vertrauensperson bei Untersuchung durch medizinischen Sachverständigen grundsätzlich zulässig

Bundessozialgericht in Kassel

Grundsätzlich steht es dem zu Begutachtenden frei, zu einer Untersuchung durch einen medizinischen Sachverständigen eine Vertrauensperson mitzunehmen. Der Ausschluss der Vertrauensperson ist aber möglich, wenn er im Einzelfall zur Aufrechterhaltung einer funktionsfähigen, wirksamen Rechtspflege – insbesondere mit Blick auf eine unverfälschte Beweiserhebung – erforderlich ist. Dies hat der 9. Senat des Bundessozialgerichts am 27. Oktober 2022 entschieden (Aktenzeichen B 9 SB 1/20 R).

Der Kläger wendete sich gegen die Herabsetzung des bei ihm ursprünglich festgestellten Grades der Behinderung von 50 auf 30. Die im Klageverfahren mit der Erstellung eines Sachverständigengutachtens beauftragten Orthopäden hatten die Begutachtung des Klägers abgelehnt, weil dieser die Anwesenheit seiner Tochter oder seines Sohnes als Vertrauensperson während der Anamnese und der Untersuchung verlangt hatte. Daraufhin wurde dem Kläger Beweisvereitelung vorgeworfen.

Das Bundessozialgericht hat entschieden, dass es dem zu Begutachtenden im Grundsatz frei steht, eine Vertrauensperson zu einer Untersuchung mitzunehmen. Das Gericht kann jedoch den Ausschluss der Vertrauensperson anordnen, wenn ihre Anwesenheit im Einzelfall eine geordnete, effektive oder unverfälschte Beweiserhebung erschwert oder verhindert. Differenzierungen zum Beispiel nach der Beziehung des Beteiligten zur Begleitperson, dem medizinischen Fachgebiet oder unterschiedlichen Phasen der Begutachtung sind in Betracht zu ziehen.


Keine Hartz IV-Erhöhung zum Inflationsausgleich

1. Bei einer gesetzlich klar bestimmten Regelbedarfshöhe im Grundsicherungsrecht ist es den Fachgerichten verwehrt, im Eilverfahren selbst unmittelbar aus der Verfassung öffentlich-rechtliche Ansprüche zu schöpfen. Eine sich allein auf Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG und dem daraus folgenden Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums stützende Verurteilung zur vorläufigen Bewilligung von höheren Leistungen nach dem SGB II würde gegen das in Art. 100 GG verankerte Verwerfungsmonopol des BVerfG für gesetzliche Normen verstoßen (Anschluss an Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 24. August 2022 – L 8 SO 56/22 B ER –, juris).

2. Es besteht auch keine Veranlassung, wegen der derzeit hohen Inflationsrate und des damit eintretenden Kaufkraftverlustes das vorliegende Eilverfahren auszusetzen und dem BVerfG vorzulegen, denn die gegenwärtige monatliche Regelbedarfshöhe (für alleinstehende Erwachsene 449 €) ist am Maßstab der Verfassung nicht evident unzureichend. Der Gesetzgeber ist zwar gehalten, bei den periodisch anstehenden Neuermittlungen des Regelbedarfs zwischenzeitlich erkennbare Bedenken aufzugreifen und unzureichende Berechnungsschritte zu korrigieren. Eine solche Reaktion des Gesetzgebers ist jedoch erfolgt, indem nach § 73 SGB II für den Monat Juli 2022 von Amts wegen eine Einmalzahlung auch zum Inflationsausgleich in Höhe von 200 € gewährt wurde. Außerdem ist ein Gesetzgebungsverfahren angestoßen worden, das eine Neuberechnung des Regelbedarfs als Bürgergeld ab dem 1. Januar 2023 mit einer Erhöhung (für alleinstehende Erwachsene) von 53 € (vorgeschlagener Leistungssatz dann 502 €) vorsieht. Durch einen künftig doppelten Dynamisierungsfaktor soll auch schneller auf kurzfristigere Preiserhöhungen reagiert werden können.

Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, Beschluss vom 30.09.2022, L 6 AS 87/22 B ER


Nur hohes Trinkgeld ist auf ALG II anzurechnen

Trinkgeld kann sich bei der Berechnung des ALG-II-Anspruchs nur dann leistungsmindernd auswirken, wenn es zehn Prozent des Regelbedarfs (derzeit 44,90 Euro bei einem monatlichen Regelsatz in Höhe von 449 Euro) übersteigt. Das hat der 7. Senat des Bundessozialgerichts am 13. Juli 2022 entschieden. Die als Servicekraft in der Gastronomie tätige Klägerin erhielt neben Erwerbseinkommen aus dieser Beschäftigung Trinkgeld in Höhe von 25 Euro monatlich. Das beklagte Jobcenter berücksichtigte dieses Trinkgeld als Erwerbseinkommen im Sinne des SGB II. Mit ihrem Begehren, das Trinkgeld bei der Berechnung von ALG II außen vor zu lassen, war die Klägerin vor Sozialgericht und Landessozialgericht erfolglos geblieben. Mit ihrer Revision zum BSG hatte die Klägerin Erfolg.

Anders als vom beklagten Jobcenter und den Fachgerichten in der ersten und zweiten Instanz angenommen, handelt es sich bei dem Trinkgeld nicht um Erwerbseinkommen. Das Trinkgeld ist vielmehr eine Zuwendung, die Dritte erbringen, ohne dass hierfür eine rechtliche oder sittliche Verpflichtung besteht. Hieraus folgt, dass es erst dann als Einkommen bei der Berechnung der Leistung zu berücksichtigen ist, wenn es die Lage der Leistungsberechtigten so günstig beeinflusst, dass daneben Leistungen nach dem SGB II nicht gerechtfertigt wären (vgl. § 11a Abs. 5 SGB II). Dies war vorliegend bei Trinkgeld in Höhe von 25 Euro nicht der Fall.

BSG, Urteil vom 13.07.2022, B 7/14 AS 75/20 R

Erstveröffentlichung in HEMPELS 9/2022

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Befreiung von der Rundfunkbeitragspflicht bei Unterschreitung des sozialrechtlichen Existenzminimums

Die Ablehnung eines Antrags auf Befreiung vom Rundfunkbeitrag aufgrund der „Härtefallregelung“ in § 4 Abs. 6 Satz 1 des Rundfunkbeitragsstaatsvertrags verletzt die Antragstellerin in ihrem Grundrecht auf Gleichbehandlung  (Art. 3 Absatz 1 GG), wenn die Betroffene nur über ein den sozialrechtlichen Regelsätzen entsprechendes oder diese unterschreitendes Einkommen verfügt und nicht auf Vermögen zurückgreifen kann. 

Geklagt hatte eine alleinerziehende Studentin, die ihren Lebensunterhalt aus Mitteln eines Studienkredits und Wohngeld finanzierte und damit über weniger Einkünfte als eine Bezieherin von ALG II verfügte. Die zuständige Landesrundfunkanstalt hatte ihren Antrag abgelehnt. Verwaltungsgericht und Oberverwaltungsgericht bestätigten die Ablehnungsentscheidung. Zur Begründung führten die Fachgerichte aus, eine Befreiung der Studentin als „Härtefall“ scheide aus, weil bei lediglich geringem Einkommen kein „atypischer Sachverhalt“ vorliege, den der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung der Befreiungstatbestände versehentlich übergangen habe. 

Hierin liegt ein Verstoß gegen den aus Art. 3 Abs. 1 GG hervorgehenden allgemeinen Gleichheitssatz. Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG gebietet, dass ein nachweislich den sozialrechtlichen Regelleistungen entsprechendes oder sogar noch unterschreitendes Einkommen nicht zur Begleichung von Rundfunkbeiträgen eingesetzt werden muss. Durch die Ablehnung der Befreiung wird die Studentin gegenüber anderen finanziell bedürftigen Personen benachteiligt, denen die Zahlung des Rundfunkbeitrags aus ihren sozialrechtlichen Regelleistungen, die das Existenzminimum schützen sollen, nicht zugemutet wird. Diese Schlechterstellung findet ihre sachliche Rechtfertigung insbesondere auch nicht in der Möglichkeit, aus Gründen der Verwaltungspraktikabilität zu generalisieren, zu typisieren und zu pauschalieren. 

BVerfG, Beschluss vom 19.01.2022, 1 BvR 1089/18

Erstveröffentlichung in HEMPELS 8/20220

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Referentenentwurf zum Bürgergeld veröffentlicht

Am 09.08.2022 wurde vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) der Referentenentwurf zum neuen Bürgergeld veröffentlicht, das zum 01.01.2023 in Kraft treten soll. Eine Synopse, in der die alte Fassung des Gesetzes und die geplanten Änderungen nebeneinander dargestellt werden, findet sich hier.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Die Bürgerbeauftragte informiert: Rechte der Bürger*innen bei steigenden Heizkosten

In den letzten Wochen erreichten die Bürgerbeauftragte vermehrt Anfragen von Bürgerinnen, die befürchten, dass höhere Heizkosten vom Jobcenter oder Sozialamt nicht übernommen werden. „Hier herrscht viel Ungewissheit und Existenzangst, dass die Sozialleistungsträger die Kostenübernahme ablehnen könnten“, sagte die Bürgerbeauftragte des Landes Schleswig-Holstein, Samiah El Samadoni, heute (Donnerstag) in Kiel. Die Anfragen sind dabei vielfältiger Art: So wurde beispielsweise eine erforderliche Umzugszustimmung aufgrund eines hohen Heizkostenabschlags verweigert. Aber auch Fragen in Bezug auf die Übernahme von steigenden Abschlagskosten und notwendiger Betankungen mit Heizöl, erreichten die Bürgerbeauftragte. „Viele Fragen werfen zudem die ab Januar 2023 anfallenden Jahresabrechnungen auf, in denen dann auch höhere Nachzahlungsbeträge entstehen können“, berichtete die Bürgerbeauftragte. Grundsätzlich besteht für Leistungsbezieherinnen ein Übernahmeanspruch von angemessenen Heizkosten. Aber auch Bürgerinnen, die bisher keine Leistungen von Jobcentern und Sozialämtern beziehen und eine Nachzahlung nicht durch eigenes Einkommen decken können, können einen Anspruch auf eine Kostenübernahme haben. Es ist hier unerheblich, ob die Nachforderung in Zeiten vor dem Leistungsbezug entstanden ist. „Wichtig ist nur, dass Bürgerinnen den Antrag im Monat der Fälligkeit einer Nachzahlung stellen,“ betonte El Samadoni, „Ich rechne damit, dass viele Menschen durch die hohen Energiekosten erstmalig auf Sozialleistungen angewiesen sein werden.“

Die Bürgerbeauftragte weist darauf hin, dass bei der Prüfung der Angemessenheit der Kosten der Heizung nicht der Betrag der Heizkosten an sich zu betrachten ist, sondern vielmehr auf den jeweiligen Verbrauch der Bürger*innen abzustellen ist. Nur dieser Verbrauch muss angemessen sein. Nicht alle Behörden würden dies bereits umsetzen.

Die Bürgerbeauftragte für soziale Angelegenheiten und ihr Team beraten zu diesen Fragen gerne telefonisch von Montag bis Freitag zwischen 9.00 und 15.00 Uhr unter 0431-988 1240.

Quelle: https://www.landtag.ltsh.de/beauftragte/bb/pressemitteilungen/


Arbeit lohnt sich auch für Rentner mit Ehefrau im ALG II-Bezug

(c) Gerd Altmann / pixelio.de

Lebt von zwei Ehepartnern der eine von ALG II und der andere von einer Rente und zusätzlichem Erwerbseinkommen, so ist von den Erwerbseinkommen ein Freibetrag entsprechend § 82 Abs. 3 Satz 1 SGB XII in Höhe von 30 % (höchstens jedoch 50 % der Regelbedarfsstufe 1 von derzeit 449 €) abzusetzen.

In dem vom Gericht entschiedenen Fall lebte der Ehemann von seiner Altersrente und zusätzlichem Erwerbseinkommen aus einer geringfügigen Beschäftigung. Seine etwas jüngere Ehefrau war arbeitslos und bezog ALG II beim Jobcenter Kiel. Das Jobcenter gewährte auf das Erwerbseinkommen des Ehemannes lediglich einen Freibetrag von 30,00 € (die sog. Versicherungspauschale) und rechnete das sog. überschießende Einkommen des Ehemannes – also den Teil seiner Rente und seines Arbeitseinkommens, der über seinen eigenen existenzsicherungsrechtlichen Bedarf hinausgeht – auf den ALG II-Anspruch seiner Ehefrau an.

Rechtswidrig, entschied das Sozialgericht Kiel. Zwar scheide eine Bereinigung des Einkommens der Ehemannes nach den Grundsätzen des SGB II aus, weil dieser aufgrund des Überschreitens der Altersgrenze nach dem SGB II nicht (mehr) „leistungsberechtigt“ im Sinne von § 11b Abs. 2 und 3 SGB II sei. Auch eine Einkommensbereinigung nach den Regeln der Altersgrundsicherung (§ 82 Abs. 3 Satz 1 SGB XII) scheide in direkter Anwendung aus, weil der Ehemann selbst nicht hilfebedürftig sei und deswegen keinen Anspruch auf Altersgrundsicherung habe. Diese vom Gesetzgeber nicht gewollte sog. „planwidrige Regelungslücke“ sei indessen mit dem Gleichbehandlungsgebot des Art. 3 Grundgesetz nicht vereinbar und deswegen durch eine analoge Anwendung der Freibetragsregelung des § 82 Abs. 3 Satz 1 SGB XII zu schließen.

Durch den höheren Freibetrag des Ehemannes – hier waren es rund 100 € – waren bei der Ehefrau 100 € weniger auf ihren ALG II-Anspruch anzurechnen, sie erhielt also 100 € mehr ALG II.

Sozialgericht Kiel, Beschluss vom 02.02.2022, S 43 AS 5/22 ER

Erstveröffentlichung in HEMPELS 7/2022

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Eckpfeiler für das neue Bürgergeld ab Januar 2023

I. Neues Miteinander, neue Chancen auf Arbeit

  • Gemeinsam vereinbaren Arbeitssuchende und Jobcenter einen Kooperationsplan für den individuellen Weg in Arbeit.
  • Grundlage der Zusammenarbeit soll Vertrauen sein. In den ersten sechs Monaten, der sogenannten Vertrauenszeit, können deshalb künftig keine Leistungen mehr gemindert werden. Weiterbildung und der Erwerb eines Berufsabschlusses stehen im Vordergrund. Der sogenannte Vermittlungsvorrang wird daher abgeschafft.
  • Für Weiterbildungen werden ein zusätzlicher finanzieller Ausgleich und neue Angebote geschaffen. Wer etwa einen Berufsabschluss nachholt, kann künftig statt bisher zwei dann für bis zu drei Jahre gefördert werden.
  • Der Soziale Arbeitsmarkt (§ 16i SGB II) wird fortgeführt: Jobcenter können weiterhin sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse fördern, um Menschen nach besonders langer Arbeitslosigkeit zu aktivieren.
  • Menschen, denen es besonders schwerfällt, eine Arbeit zu finden oder aufzunehmen, können durch professionelles Coaching unterstützt werden.

II. Mehr Sicherheit, mehr Respekt für Lebensleistung

  • Vermögen und Angemessenheit der Wohnung werden erst nach 24 Monaten Bürgergeldbezug überprüft.
  • Nach Ablauf der 24 Monate (Karenzzeit) ist ein höheres Schonvermögen als bisher vorgesehen. Rücklagen für die Altersvorsorge werden ebenfalls besser geschützt.
  • Für Auszubildende, Schüler*innen und Studierende, die Bürgergeld beziehen, gelten höhere Freibeträge für die Ausbildungsvergütung oder den Nebenjob.

III. Regelsätze und Sanktionen

  • Die Regelsätze sollen zum 1. Januar 2023 angemessen und deutlich steigen. Einzelheiten werden im Gesetzentwurf ergänzt, sobald die erforderlichen Berechnungen abgeschlossen sind.
  • Die Vorgaben für Leistungsminderungen (sogenannte Sanktionen) werden auf Basis des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 5. November 2019 neu geregelt.
  • Für Rückforderungen zu viel ausgezahlter Beträge gilt künftig eine Bagatellgrenze.

Die Bürgergeld-Reform startet in der nächsten Zeit mit einem Referentenentwurf des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Nach der sogenannten Ressortabstimmung (Prüfung seitens aller beteiligten Bundesministerien) und einem anschließenden Kabinettsbeschluss wird das Bürgergeldgesetz von Bundestag und Bundesrat beraten und beschlossen.

Quelle: https://www.bmas.de/DE/Service/Presse/Meldungen/2022/das-neue-buergergeld-mehr-respekt-und-sicherheit-weniger-buerokratie.html


Hartz IV: Zum Vorliegen einer Bedarfsgemeinschaft bei Partnern

Schleswig-Holsteinisches LSG

Ziehen unverheiratete Partner in einer Wohnung zusammen und ist einer von ihnen erwerbslos und auf ALG II angewiesen, ist vom Jobcenter zu prüfen, ob zwischen beiden eine sog. Bedarfsgemeinschaft besteht mit der Folge, dass das Einkommen des erwerbstätigen Partners bei dem Anspruch des ALG II-leistungsberechtigten Partner zu berücksichtigen ist. Das ist nach den Worten des Gesetzes dann der Fall, wenn beide in einem gemeinsamen Haushalt so zusammenleben, dass nach verständiger Würdigung der wechselseitige Wille anzunehmen ist, Verantwortung füreinander zu tragen und füreinander einzustehen (§ 7 Abs. 3 Nr. 3 c SGB II). Dieser Wille kann vom Jobcenter u.a. vermutet werden, wenn Partner bereits länger als ein Jahr zusammenleben oder Kinder im Haushalt zusammen versorgt werden (§ 7 Abs. 3a Nr. 1 und 3 SGB II). Aber auch dann, wenn Partner kürzer als ein Jahr zusammenleben, kann eine Bedarfsgemeinschaft angenommen werden, wenn besonders gewichtige Umstände die Annahme einer Verantwortungs- und Einstandsgemeinschaft rechtfertigen. Als Indiz hierfür kann ein Verlöbnis mit Austausch von Ringen als Ausdruck eines Heiratswunsches in Betracht kommen. Ist es zwischenzeitlich allerdings zu einer Lösung des Verlöbnisses mit einem temporären Auszug gekommen, belegt dies, dass die Partner doch noch eine gewissen Zeit benötigen, um herauszufinden, ob sie willens und in der Lage sind, dauerhaft füreinander einzustehen und Verantwortung füreinander zu übernehmen. Kinder werden in einem Haushalt nicht schon dann „versorgt“, wenn lediglich mit Kindern in einem gemeinsamen Haushalt zusammengelebt wird. Auch kleinere und alltägliche Handlungen wie das Mitdecken des Tisches auch für die Kinder des Partners, das Mitwaschen der Kleidung, gelegentliches Aufpassen auf die Kinder, Fahrten zu Schule oder die gemeinsame Freizeitgestaltung reichen nicht aus. Die Vermutungsregelung lösen nur besonders intensive Versorgungsleistungen wie etwa eine überwiegende Versorgung oder die maßgebliche Mitwirkung bei der Pflege aus.

Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, Beschluss vom 29.03.2022, L 3 AS 29/22 B ER

Erstveröffentlichung in HEMPELS 6/2022

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Abhängigkeit sozialrechtlichen Verwertungsschutzes für selbst bewohntes Wohneigentum von der aktuellen Bewohnerzahl verstößt nicht gegen den Gleichheitsgrundsatz

Pressemitteilung Nr. 49/2022 vom 2. Juni 2022

Beschluss vom 28. April 2022
1 BvL 12/20

Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts auf eine Vorlage entschieden, dass § 12 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 in Verbindung mit Satz 2 Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) mit dem Grundgesetz vereinbar ist.

Die Vorlage betrifft die im Rahmen der Bedürftigkeitsprüfung anzuwendende Regelung des § 12 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 in Verbindung mit Satz 2 SGB II, wonach selbst bewohntes Wohneigentum angemessener Größe einem Bezug von Grundsicherungsleistungen nicht als anrechenbares Vermögen entgegensteht, also in der Sache vor Verwertung geschützt ist. Die angemessene Größe richtet sich dabei nach der aktuellen Bewohnerzahl. Die Regelung berücksichtigt daher nicht, wenn Eltern gegenwärtig gerade deshalb über größeren Wohnraum verfügen, weil sie zuvor noch den Wohnbedarf ihrer mittlerweile ausgezogenen Kinder decken mussten. Dass die Vorschrift für die Frage des Verwertungsschutzes von Wohneigentum nicht nach dessen familiärer Vorgeschichte differenziert, ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Die Vorschrift dient der Realisierung des Bedarfsdeckungsprinzips, wonach im System der Grundsicherung staatliche Leistungen allgemein nachrangig gewährt werden. Das steht zu der Belastung der Betroffenen nicht außer Verhältnis.

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Hartz IV: Freibeträge für jeden Monat mit Einkommen

Bundessozialgericht in Kassel

Der Grundfreibetrag von 100 Euro sowie der Erwerbstätigenfreibetrag (§ 11b Abs. 2 und 3 SGB II) sind für jeden Verdienstmonat, in dem Erwerbseinkommen zufließt, abzusetzen.

Geklagt hatte eine Familie, in welcher der Vater ab dem 16.02.2015 eine befristete Erwerbstätigkeit aufgenommen hatte. Obwohl die Vergütung nach dem Arbeitsvertrag stets erst zum 15. des Folgemonats fällig war, erhielt der Vater schon im Februar 2015 mehrere Barzahlungen in Höhe von zusammen 355 Euro. Das Jobcenter gewährte auf die 355 € lediglich die Versicherungspauschale von 30 Euro.

Während das Sozialgericht Lübeck entschied, dass von dem Februar-Einkommen die vollen Erwerbstätigenfreibeträge abzusetzen sind, entschied das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht, dass Grund- und Erwerbstätigenfreibetrag nur im Monat der Fälligkeit des Arbeitsentgelts, also hier im März 2015, abzusetzen seien.

Das Bundessozialgericht hob die Entscheidung des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts auf und bestätigte die Entscheidung des Sozialgerichts Lübeck: Auch vom Februar-Einkommen waren die vollen Erwerbstätigenfreibeträge abzusetzen. Dies ergibt sich aus dem der Grundsicherung für Arbeitsuchende zugrundeliegenden Monatsprinzip, dem auch bezogen auf die Absetzbeträge bei Erwerbstätigkeit strikt Rechnung zu tragen ist. Mit dem Grundfreibetrag werden zudem mit der Erzielung des Einkommens verbundene notwendige Ausgaben berücksichtigt (etwa Kosten für Arbeitskleidung, Fahrtkosten), welche im jedem Monat, in dem gearbeitet wird, entstehen, unabhängig davon, wann das Gehalt ausgezahlt wird. Der finanziellen Anreiz zur Aufnahme oder Beibehaltung einer Erwerbstätigkeit würde zudem reduziert, wenn die Freibeträge bei Vorauszahlungen auf Arbeitslohn keine Berücksichtigung fänden.

BSG, Urteil vom 29.03.2022, B 4 AS 24/21 R

Erstveröffentlichung in HEMPELS 5/2022

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Ablehnung von Beratungshilfe für sozialrechtliches Widerspruchsverfahren verfassungswidrig

Pressemitteilung Nr. 45/2022 vom 24. Mai 2022

Beschluss vom 04. April 2022
1 BvR 1370/21

Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts entschieden, dass die Ablehnung von Beratungshilfe für ein sozialrechtliches Widerspruchsverfahren verfassungswidrig war. Der Antrag des Beschwerdeführers auf die Bewilligung von Beratungshilfe wurde vom zuständigen Amtsgericht in mehreren Entscheidungen wegen Mutwilligkeit abgelehnt.

Sachverhalt:

Der Beschwerdeführer bezog Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Mit Bescheiden aus dem April 2021 wurde die Leistungsbewilligung des Beschwerdeführers für den Zeitraum Juli bis Dezember 2020 endgültig festgesetzt und daneben eine Erstattungsforderung geltend gemacht. Grund für die Erstattungsforderung war unter anderem eine vom Jobcenter festgestellte Überzahlung aufgrund eines Betriebskostenguthabens aus dem Jahr 2019, welches vom Jobcenter in dem Zeitraum Juni bis November 2020 anteilig leistungsmindernd berücksichtigt wurde.

Der Beschwerdeführer beantragte beim Amtsgericht die Bewilligung von Beratungshilfe. Er zweifelte an der Richtigkeit der Bescheide und wollte für die Gestaltung des Widerspruchs anwaltliche Hilfe in Anspruch nehmen. Er nannte der Rechtspflegerin einige Punkte, aufgrund derer die Bescheide nicht richtig sein könnten; unter anderem die leistungsmindernde Verrechnung des Betriebskostenguthabens über einen Zeitraum von sechs Monaten. Die Rechtspflegerin des Amtsgerichts wies den Antrag wegen Mutwilligkeit zurück. Ein eventueller Widerspruch sei ohne anwaltliche Hilfe zu fertigen. Es lägen keine Anzeichen für eine konkrete Rechtsbeeinträchtigung vor.

Der Beschwerdeführer legte Erinnerung ein. Die Anrechnung der Betriebskosten und die Errechnung des Erstattungsbetrags seien komplexe Sachverhalte. Die Rechtspflegerin des Amtsgerichts half der Erinnerung nicht ab. Die Erinnerung wurde mit richterlichem Beschluss wegen Mutwilligkeit abgewiesen. Der Beschwerdeführer wünsche Beratungshilfe, um Leistungsbescheide des Jobcenters pauschal auf ihre Richtigkeit überprüfen zu lassen. Er sei der Ansicht, dass es in den Bescheiden zu Fehlern gekommen sei, könne aber nicht konkret darlegen, um welche Fehler es sich handele. Auch habe er nicht vorgetragen, dass er sich selbst schriftlich oder durch Vorsprache beim Jobcenter um eine Aufklärung des Sachverhalts bemüht habe.

Die von dem Beschwerdeführer erhobene Anhörungsrüge blieb ohne Erfolg.

Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt er eine Verletzung der Rechtswahrnehmungsgleichheit (Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und 3 GG).

Wesentliche Erwägungen der Kammer:

Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet. Die angegriffenen Beschlüsse des Amtsgerichts verletzen den Beschwerdeführer in seinem Anspruch auf Rechtswahrnehmungsgleichheit.

Das Grundgesetz verbürgt in Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und 3 GG die Rechtswahrnehmungsgleichheit von Bemittelten und Unbemittelten bei der Durchsetzung ihrer Rechte auch im außergerichtlichen Bereich, somit auch im Hinblick auf die Beratungshilfe nach dem Beratungshilfegesetz. Unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten stellt die Versagung von Beratungshilfe keinen Verstoß gegen das Gebot der Rechtswahrnehmungsgleichheit dar, wenn Bemittelte wegen ausreichender Selbsthilfemöglichkeiten die Inanspruchnahme anwaltlicher Hilfe vernünftigerweise nicht in Betracht ziehen würden. Dabei kommt es darauf an, ob der dem Beratungsanliegen zugrundeliegende Sachverhalt schwierige Tatsachen- oder Rechtsfragen aufwirft und ob Rechtsuchende selbst über ausreichende Rechtskenntnisse verfügen. Keine zumutbare Selbsthilfemöglichkeit ist jedoch die pauschale Verweisung auf die Beratungspflicht der den Bescheid erlassenden Behörde.

Indem das Amtsgericht das Beratungshilfebegehren des Beschwerdeführers nach § 1 Abs. 1 Nr. 3 Beratungshilfegesetz als mutwillig erachtet hat, hat es Bedeutung und Reichweite der Rechtswahrnehmungsgleichheit verkannt.

Der Beschwerdeführer hatte keine besonderen Rechtskenntnisse, und der zugrunde liegende Sachverhalt warf schwierige Tatsachen- und Rechtsfragen auf. Das gilt jedenfalls für die vom Beschwerdeführer angezweifelte Anrechnung des Betriebskostenguthabens auf den Leistungsanspruch und dessen Aufteilung auf einen Zeitraum von sechs Monaten. Zur Klärung dieser Frage durfte der Beschwerdeführer auch nicht an das Jobcenter verwiesen werden, weil dieses den angegriffenen Bescheid selbst erlassen hatte.

Die Einschätzung des Amtsgerichts, die vom Beschwerdeführer verfolgte Rechtsverfolgung sei mutwillig, ist nicht nachvollziehbar. Der Beschwerdeführer hatte nicht pauschal die Überprüfung eines Leistungsbescheids begehrt, sondern bereits konkret aufgezeigt, auf welche Punkte sich seine Zweifel an der Richtigkeit der Bescheide bezogen. Insbesondere hat er die Richtigkeit der ‒ mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung tatsächlich nicht vereinbaren ‒ Anrechnung eines Betriebskostenguthabens über sechs Monate hinweg angezweifelt. Nähere Erläuterungen zu der nicht einfach gelagerten Frage, ob diese Aufteilung zulässig ist oder nicht, konnten von ihm bei der Beantragung von Beratungshilfe schlechterdings nicht erwartet werden.


Urlaub vom 29.06.2022 bis 12.07.2022!

Von Montag, dem 11.04.2022 ab Nachmittag bis Freitag, den 22.04.2022 befinde ich mich im Urlaub.

In eiligen Fällen wenden Sie sich bitte an eine/n meiner Kieler KollegInnen.

In weniger eiligen Fällen schreiben Sie mir bitte eine E-Mail an meiner E-Mail-Adresse helgehildebrandt@hotmail.com und schildern Sie mir Ihr Anliegen.

Soweit Rechtsbehelfs- bzw. Rechtsmittelfristen laufen, legen Sie bitte fristwahrend selbst Widerspruch/Einspruch ein oder erheben Sie fristwahrend die Klage (auf Zugangsnachweis achten!). Widerspruch/Einspruch bzw. Klage müssen Sie dafür nicht begründen.

Soweit Sie Beratungshilfe oder Prozesskostenhilfe beantragen wollen, beantragen Sie bitte schon einmal selbst Beratungshilfe / einen Berechtigungsschein bzw. Prozesskostenhilfe.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Prozesskostenhilfe: Keine Absetzung der Prämienzahlungen auf nicht staatlich geförderten Rentenversicherungsvertrag

Die monatlichen Prämienzahlungen auf einen privaten, nicht staatlich geförderten Rentenversicherungsvertrag können im Rahmen des Prozesskostenhilfeverfahrens nicht vom heranzuziehenden Einkommen in Abzug gebracht werden. Welche Rentenversicherungsbeträge im Rahmen des Prozesskostenhilfeverfahrens grundsätzlich abzugsfähig sind, ist gesetzlich geregelt. Gemäß § 115 Abs. 1 S. 2 Nr. 1a ZPO i.V.m. § 82 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 SGB XII sind nur staatlich geförderte Altersvorsorgebeiträge nach § 82 des Einkommensteuergesetzes abzugsfähig. Hierunter fallen entsprechend der Verweisung auf § 82 Abs. 1 EStG nur Leistungen auf einen nach § 5 AltZertG zertifizierten Altersvorsorgevertrag (sog. Riesterrente).

Landgericht Lübeck, Beschluss vom 25.02.2022, 14 T 2/22 (Volltext auch im ersten Kommentar)

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Corona-Pandemie: Noch bis Ende 2022 sind die tatsächlichen Unterkunftskosten zu übernehmen

(c) Gerd Altmann / pixelio.de

Während der Corona-Pandemie gelten auch bei Hartz IV (ALG II) einige Besonderheiten. Eine dieser Besonderheiten ist, dass für Bewilligungszeiträume, die in der Zeit vom 1. März 2020 bis 31. Dezember 2022 beginnen bzw. begonnen haben, die sog. Mietobergrenzen nicht anzuwenden sind, soweit nicht schon vor dem 1. März 2020 bereits nur die Mietobergrenze anerkannt worden ist. Diese Regelung, die sich in § 67 Abs. 3 SGB II findet, ist also wichtig für Leistungsberechtigte, die in einer Wohnung wohnen, die über der Mietobergrenze liegt, aber noch die tatsächlichen Mietkosten vom Jobcenter erhalten, etwa weil sie seit dem 01. März 2020 erstmals ALG II beantragen mussten oder weil das Jobcenter die Leistungen für die Unterkunft noch nicht abgesenkt hat. Von § 67 Abs. 3 SGB II profitieren aber auch Leistungsberechtigte, in seit dem 01. März 2020 umgezogen sind. Denn auch bei der Neuanmietung einer Wohnung gilt, dass in der Corona-Pandemie die tatsächlichen Mietkosten als „angemessen“ im Sinne von § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II gelten und deswegen vom Jobcenter zu übernehmen sind.

Das Sozialgericht Kiel hat nun entschieden, dass § 67 Abs. 2 SGB II auch auf Leistungsberechtigte anzuwenden ist, deren Hilfebedürftigkeit nicht ursächlich auf die Corona-Pandemie zurückzuführen ist. Mieten diese im Leistungsbezug eine neue Wohnung an, sind deren Kosten auch dann zu übernehmen, wenn sie sehr hoch sind. Einer vorherigen Zusicherung des Jobcenters zur Übernahme der tatsächlichen Mietkosten bedarf es nicht. Nach Ablauf des letzten noch im Jahre 2022 begonnen Bewilligungszeitraum kann das Jobcenter dann aber ein Mietsenkungsverfahren einleiten – es sei denn, es gibt bis dahin das neue „Bürgergeld“ mit neuen gesetzlichen Regelungen zu den Unterkunftskosten.

Sozialgericht Kiel, Beschluss vom 28.01.2022, S 34 AS 4/22 ER, rechtskräftig

Erstveröffentlichung in HEMPELS 4/2022

Anmerkungen:

Anderer Ansicht jetzt der 6. Senat am Schleswig-Holsteinischen Landessozialgericht, Beschluss vom 23.03.2022, L 6 AS 28/22 B ER: Neuanmietungen im ALG II-Leistungsbezug sind von § 67 Abs. 3 SGB II nicht erfasst (Bestätigung des Beschlusses des Sozialgerichts Kiel vom 09.03.2022, S 31 AS 17/22 ER) .

Wie Sozialgericht Kiel, Beschluss vom 28.01.2022, S 34 AS 4/22 ER: Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 29.09.2020, L 11 AS 508/20 B ER; Bayerisches Landessozialgericht, Beschluss vom 28.07.2021, L 16 AS 311/21 B ER; Landessozialgericht Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 07.03.2022, L 4 AS 40/22 B ER; Sozialgericht Neuruppin, Gerichtsbescheid vom 25.02.2022, S 25 AS 865/20; Hessisches Landessozialgericht, Beschluss vom 21.02.2022, L 6 AS 585/21 B ER; Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 11.02.2022, L 21 AS 66/22 B ER.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Hilfen in der Pandemie: Vereinfachter Zugang zur Grundsicherung weiterhin möglich

Wer pandemiebedingt in Not gerät, soll bis 31. Dezember 2022 Anspruch auf vereinfachten Zugang zur Grundsicherung haben. Die Bundesregierung will damit insbesondere Kleinunternehmer und Solo-Selbstständige unterstützen, die vorübergehend von erheblichen Einkommenseinbußen betroffen sind.

Aufgrund der anhaltenden wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie hat die Bundesregierung beschlossen, den vereinfachten Zugang zu den Grundsicherungssystemen über den 31. März bis 31. Dezember 2022 zu verlängern. Für die Antragstellerinnen und Antragsteller heißt das:

Ab 1. April 2022 werden weiterhin unter anderem

  • die Vermögensprüfungen nur eingeschränkt durchgeführt,
  • die tatsächlichen Aufwendungen für Unterkunft und Heizung übernommen und
  • vorläufige Leistungen vereinfacht bewilligt.

Die Bundesregierung hat mit den Sozialschutz-Paketen den Zugang zur Grundsicherung für Arbeitsuchende sowie zur Sozialhilfe wesentlich vereinfacht. Sie bietet damit Menschen eine Absicherung, die pandemiebedingt in Not geraten – insbesondere Selbstständigen, Beschäftigten mit kleinen Einkommen und vormals prekär Beschäftigten.

Die Regelungen zur Mittagsverpflegung von Leistungsberechtigten in Werkstätten für behinderte Menschen und vergleichbaren Einrichtungen werden ebenfalls verlängert.

Auch Einkünfte von BAföG-Geförderten aus Tätigkeiten in systemrelevanten Branchen sollen weiterhin nicht auf den BAföG-Anspruch angerechnet werden.

Quelle: https://www.bundesregierung.de/breg-de/suche/grundsicherung-1783154


Nachholende Antragstellung auf ALG II: Ein hohler Zahn?

(c) Gerd Altmann / pixelio.de

Im Sozialrecht kann es vorkommen, dass hilfebedürftige Personen einen Antrag auf eine Sozialleistung stellen, die ihnen tatsächlich gar nicht zusteht. Ihr Antrag wird dann – manchmal nach langer Prüfung – abgelehnt. Oder es stellt sich nachträglich heraus, dass die Voraussetzungen für die beantragte Leistung tatsächlich gar nicht vorgelegen haben. Die zu Unrecht bewilligten und ausgezahlten Sozialleistungen müssen dann im Regelfall erstattet werden. Da viele Sozialleistungen – etwa ALG II oder Leistungen der Altersgrundsicherung – nur auf Antrag und erst ab dem Monat der Antragstellung bewilligt werden, kann es vorkommen, dass Sozialleistungen zu erstatten sind, ohne dass die richtigen Sozialleistungen rechtzeitig beantragt worden sind. In diesem Fall hilft § 28 SGB X weiter: Wird zum Beispiel ALG II zurückgefordert, weil etwa die Leistungsvoraussetzung der Erwerbsfähigkeit tatsächlich nicht vorlag, können Leistungen der Grundsicherung bei Erwerbsminderung beantragt werden. Der ALG II-Antrag wahrt dann die Antragsfrist für den Grundsicherungsantrag, wobei allerdings besondere Fristen zu beachten sind.

Das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht hat nun entschieden, dass ein Schüler, der unverschuldet fehlerhaft BAföG erhalten hatte und dieses für einige Monate erstatten musste, zwar wirksam innerhalb der Fristen einen nachgeholten Antrag auf ALG II nach § 28 SGB X gestellt hat. Allerdings seien die zu Unrecht bewilligten BAföG-Zahlungen – obwohl sie erstattet werden müssen – auf dessen ALG II-Anspruch anspruchsmindernd anzurechnen, da das BAföG dem Schüler in dem jeweiligen Monat tatsächlich zur Deckung seines Lebensbedarfs zur Verfügung gestanden hat. Als Folge dieser Entscheidung hat der Schüler damit im Ergebnis in den betreffenden Monaten weder BAföG – das er ja zurückzahlen muss – noch ALG II erhalten. Wegen grundsätzlicher Bedeutung und bislang fehlender höchstrichterlicher Rechtsprechung zu dieser Frage hat das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht Revision gegen sein Urteil zum BSG zugelassen. 

Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, Urteil vom 11.11.2021, L 6 AS 26/20 (Revision beim BSG anhängig zum Az. B 4 AS 86/21 R)

Erstveröffentlichung in HEMPELS 2/2022

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


EU-Ausländer: Anspruch auf ALG II trotz Verlustfeststellung

Schleswig-Holsteinisches LSG

Ausländer aus der Europäischen Union können auch dann einen Anspruch auf ALG II gegenüber dem örtlich zuständigen Jobcenter haben, wenn die Ausländerbehörde den Verlust ihres Aufenthalts- bzw. Freizügigkeitsrechts festgestellt hat.

In dem der Entscheidung zugrundeliegenden Fall hatte die Ausländerbehörde den Verlust des unionsbürgerlichen Freizügigkeitsrechts einer Familie festgestellt. In der Folge hob das zuständige Jobcenter deren ALG II-Bewilligung auf, da ab dem Zeitpunkt der Verlustfeststellung gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 a SGB II kein Anspruch auf ALG II mehr bestehe. Sowohl gegen die Verlustfeststellung als auch gegen Aufhebung der ALG II-Bewilligung erhob die Familie Widerspruch und trug vor, die Mutter haben zwischenzeitlich wieder eine Erwerbstätigkeit aufgenommen und sei damit wieder freizügigkeitsberechtigt. Dennoch wiesen Jobcenter und Ausländerbehörde die jeweiligen Widersprüche zurück.   

Rechtswidrig, entschied das Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht in zweiter Instanz in einem Eilverfahren. Zwar entfalte die Verlustfeststellung der Freizügigkeitsrechts der Familie durch die Ausländerbehörde eine sog. „Tatbestandswirkung“ für den Ausschluss von ALG II-Leistungen. Wird indessen nach Verlust des Freizügigkeitsrechts – hier durch die erneute Arbeitsaufnahme – ein Tatbestand verwirklicht, der ein Freizügigkeitsrecht neu begründet und hebt die Ausländerbehörde ihre deswegen rechtswidrig gewordene Verlustfeststellung nicht auf, können die Sozialgerichte im Rahmen des von § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ohne Bindung an die Verlustfeststellung eigenständig das Aufenthaltsrecht bejahen und das zuständige Jobcenter vorläufig zu ALG II-Leistungen verpflichten.

Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, Beschluss vom 30.08.2021, L 6 AS 10003/21 B

Erstveröffentlichung in HEMPELS 1/2022

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Häufig mehr Geld für die Miete in Schleswig-Holstein

(c) Gerd Altmann / pixelio.de

Leistungsberechtigte nach dem SGB II (ALG II, Hartz IV) und SGB XII (Hilfe zum Lebensunterhalt, Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung) erhalten neben ihren Regelleistungen Leistungen für ihre Unterkunft, um ihre Miete bezahlen zu können. Jobcenter und Sozialämter übernehmen aber nur die „angemessenen“ Mietkosten. Bis zu welcher Höhe eine Miete je nach Haushaltsgröße noch „angemessen“ ist, ermitteln die Leistungsträger, indem sie sog. „schlüssige Konzepte“ erstellen lassen und für ihre Zuständigkeitsbereiche Mietobergrenzen ausweisen. Weil die Anforderungen des Bundessozialgerichts an die Berechnung hoch sind aber auch, weil die Gemeinden häufig versuchen, die Mietobergrenzen möglichst niedrig zu halten um Geld zu sparen und deswegen wenig überzeugende Berechnungen präsentieren, verwerfen die Sozialgerichte in Schleswig-Holstein die Konzepte der Grundsicherungsträger nicht selten als „unschlüssig“. So hat etwa das Sozialgericht Schleswig mit Urteil vom 04.05.2021 zum Aktenzeichen S 33 AS 592/19 die Mietobergrenze im Kreis Nordfriesland für den Zeitraum September 2019 bis Februar 2020 verworfen, die Stadt Neumünster verfügt nach Hinweisen des Sozialgerichts Kiel im Klageverfahren S 42 AS 203/16 ab Januar 2017 über kein „schlüssiges Konzept“ und das Jobcenter im Kreis Rendsburg-Eckernförde hat im Klageverfahren vor dem Sozialgericht Kiel zum Aktenzeichen S 35 AS 435/20 für den Zeitraum Januar 2017 bis August 2018 die tatsächlichen Unterkunftskosten des Klägers anerkannt. Betroffene, deren Miete nicht in der tatsächlichen Höhe anerkannt wird, sollten sich rechtlich beraten lassen: Verfügt ihre Gemeinde über kein „schlüssiges Konzept“, müssen die Grundsicherungsträger für ihre Unterkunft die Werte nach § 12 Wohngeldgesetz zuzüglich eines Sicherheitszuschlages von 10 % zugrunde legen. Diese Werte liegen regelmäßig deutlich über den kommunalen Mietobergrenzen. 

Erstveröffentlichung in HEMPELS 12/2021

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Kosten einer Privathaftpflichtversicherung können Kosten der Unterkunft sein

Bundessozialgericht in Kassel

Kosten einer privaten Haftpflichtversicherung sind unter bestimmten Voraussetzungen als Kosten der Unterkunft nach § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II vom Jobcenter zu übernehmen.

Voraussetzung für eine Übernahme als Unterkunftskosten ist zunächst, dass sich der Mieter gegenüber seinem Vermieter mietvertraglich zum Abschluss einer Haftpflichtversicherung verpflichtet hat. Weitere Voraussetzung ist sodann, dass zwischen der Verpflichtung zum Abschluss der Haftpflichtversicherung und der Anmietung der Wohnung ein hinreichender sachlicher Zusammenhang besteht. Dies ist der Fall, wenn durch die Haftpflichtversicherung auch Schäden an der Mietsache versichert sind, für deren Ersatz der leistungsberechtigte ALG II-Empfänger seinem Vermieter gegenüber verpflichtet ist. Dabei steht der Berücksichtigungsfähigkeit der Aufwendungen für die Privathaftpflichtversicherung nicht entgegen, dass diese nicht nur vom Leistungsberechtigten an der Mietsache verursachte Schäden umfasst, sondern darüber hinaus auch andere Schäden abdeckt. Etwas anderes gilt allerdings dann, wenn der Hartz-IV-Empfänger die Möglichkeit hat, eine günstigere Privathaftpflichtversicherung abzuschließen, welche nur Schäden an der Mietsache als versichertes Risiko erfasst.

Bundessozialgericht, Urteil vom 30.06.2021, B 4 AS 76/20 R

Erstveröffentlichung in HEMPELS 11/2021

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Entschädigungszahlung wegen überlanger Gerichtsverfahrensdauer ist kein Einkommen im Sinne des SGB II

Bundessozialgericht in Kassel

Der 14. Senat des Bundessozialgerichts hat am 11. November 2021 entschieden, dass eine Entschädigung wegen eines immateriellen Schadens aufgrund überlangen Gerichtsverfahrens – anders als vom beklagten Jobcenter und dem Landessozialgericht angenommen – nicht als Einkommen bei der Berechnung des Arbeitslosengeldes II zu berücksichtigen ist (Aktenzeichen B 14 AS 15/20 R).

Die Entschädigung wegen eines infolge der unangemessenen Dauer des Ausgangsverfahrens erlittenen immateriellen Nachteils nach § 198 Absatz 2 Gerichtsverfassungsgesetz ist nach § 11a Absatz 3 Satz 1 SGB II von der Einkommensberücksichtigung bei der Berechnung des Arbeitslosengeldes II ausgenommen. Die Zahlung dient einem § 198 Gerichtsverfassungsgesetz ausdrücklich zu entnehmenden Zweck – der Wiedergutmachung der Folgen eines überlangen Verfahrens. Auch ist keine Zweckidentität mit den Leistungen nach dem SGB II gegeben. Das SGB II sieht für immaterielle Schäden keine Leistungen vor.


Zur Durchsetzung der Förderung einer Ausbildung im Eilverfahren

Schleswig-Holsteinisches LSG

Im Regelfall kann ein Anspruch auf Förderung einer Ausbildung als Leistung zur Teilhabe gegen die gesetzliche Rentenversicherung (DRV) nicht im einstweiligen Rechtsschutzverfahren durchgesetzt werden.

Im Sozialrecht ist es möglich, einen Sozialleistungsträger durch ein Sozialgericht zu einer vorläufigen Leistungserbringung verpflichten zu lassen. Voraussetzung hierfür ist, dass dem Leistungsberechtigten durch das Abwarten einer Entscheidung im normalen Klageverfahren aufgrund der langen Verfahrenszeiten schwere und unzumutbare Nachteile entstehen würden.

In vorliegendem Fall hatte eine Versicherte einen Anspruch auf Förderung einer Ausbildung zur Ergotherapeutin als Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben (§ 16 SGB VI i.V.m. §§ 33 bis 38 SGB IX) gegenüber der DRV im gerichtlichen Eilverfahren verfolgt. Zur Begründung der besonderen Eilbedürftigkeit hatte sie vorgetragen, dass sie demnächst auf Hartz IV angewiesen sei, weil ihr Arbeitslosengeldanspruch auslaufe. Ihre hohe Miete würde dann absehbar vom Jobcenter nicht anerkannt. Sie fühle sich deswegen in ihrer Existenz bedroht.

Hierin sah das Gericht indessen keine schweren und unzumutbaren Nachteile. Der mögliche Hartz-IV-Bezug sowie ein mögliches Kostensenkungsverfahren würde nämlich erst Ende 2021 Wirkung entfalten. Zudem seien im Teilhaberecht viele Betroffene wegen gesundheitlicher Einschränkungen nicht mehr erwerbstätig und auch auf Hartz IV angewiesen. Mit dem Ausnahmecharakter vorläufiger Regelungen sei es aber nicht vereinbar, regelmäßig und automatisch Leistungen im einstweiligen Rechtsschutzverfahren zuzusprechen. Der Eilantrag wurde deswegen abgelehnt.

Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, Beschluss vom 12.05.2021, L 1 R 50/21 B ER

Erstveröffentlichung in HEMPELS 10/2021

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Widerspruchsbelehrung muss auf elektronische Einlegungsmöglichkeit hinweisen

Schleswig-Holsteinisches LSG

Die Rechtsbehelfsbelehrungen in den Bescheiden der Jobcenter sind unvollständig, wenn in diesen – wie derzeit noch üblich – Leistungsempfänger nicht auch über die Möglichkeit belehrt werden, den Widerspruch selbst – und nicht nur über einen Rechtsanwalt – auf elektronischem Wege einlegen zu können. Aufgrund einer solchen Unrichtigkeit kann der Widerspruch anstatt innerhalb eines Monats nach Zugang des Bescheides gemäß § 66 Abs. 2 SGG noch innerhalb der Frist von einem Jahr erhoben werden.

Hintergrund der Entscheidung ist, dass das verpflichtete Jobcenter Kiel seit dem 15. Januar 2018 am elektronischen Rechtsverkehr mittels elektronischem Gerichts- und Verwaltungspostfach (EGVP) teilnimmt. Auch wenn es für Privatpersonen wenig praktikabel sein mag, besteht auch für diese die Möglichkeit, eine elektronische Signaturkarte bei der Bundesnotarkammer zu erwerben und das elektronische Behördenpostfach des Jobcenters Kiel rechtswirksam zu nutzen.

Für ALG II-Empfänger bedeutet das nicht nur in Kiel: Sie können noch ein Jahr nach Zugang eines Bescheides Widerspruch gegen diesen einlegen. Der Widerspruch hat – anders als ein Überprüfungsantrag, für den stets längere Fristen gelten – sog. „aufschiebende Wirkung“. Bei Erstattungsbescheiden hat dies etwa zur Folge, dass die Rückforderungsbeträge bis zu einer abschließenden rechtlichen Klärung nicht bezahlt werden müssen und etwaige schon eingeleitete Mahn- und Vollstreckungsverfahren ausgesetzt werden müssen. Zudem ist für Widerspruchsverfahren – anders als für Überprüfungsanträge – von den Amtsgerichten nach gefestigter Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts stets Beratungshilfe zu gewähren – was wichtig ist, um nicht auf den Anwaltskosten sitzen zu bleiben, sollte sich ein Widerspruch als nicht begründet erweisen.

Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, Beschluss vom 06.05.2021, L 6 AS 64/21 B ER

Erstveröffentlichung in HEMPELS 09/2021

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Hartz IV: Garagenkosten sind Kosten der Unterkunft

(c) Kurt F. Domnik / pixelio.de

Aufwendungen für einen Stellplatz oder eine Garage sind als Bedarf für Unterkunft und Heizung nach § 22 Abs. 1 SGB II anzuerkennen, wenn Wohnung und Stellplatz Bestandteile eines einheitlichen Mietverhältnisses sind, eine Teilkündigung bezogen auf den Stellplatz nicht möglich und die Gesamtmiete angemessen ist.

Die Kläger bewohnten eine Mietwohnung mit Tiefgaragenstellplatz, für den monatlich 25,56 Euro als sog. „Garagenzuschlag“ zu zahlen war. Der Mietvertrag über den Stellplatz wurde nicht separat geschlossen und er sah keine Möglichkeit der Teilkündigung bezogen auf den Stellplatz vor. Das beklagte Jobcenter bewilligte ungekürzte Leistungen für Unterkunft und Heizung. Eine Übernahme der Stellplatzkosten lehnte das Jobcenter indessen ab, weil es der Auffassung war, dass die Kläger gemäß § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB II verpflichtet gewesen seien, ihre Unterkunftskosten im Wege der Untervermietung des Stellplatzes zu senken.

In letzter Instanz bestätigte das Bundessozialgericht (BSG), dass den Klägern höhere Leistungen für ihre Unterkunft unter Berücksichtigung des sog. „Garagenzuschlags“ zustehen. Es bestehe insbesondere auch keine Obliegenheit zur Kostensenkung durch Untervermietung des Stellplatzes, denn weder auf § 22 Abs. 1 Satz 3 SGB II, der die Überschreitung der Angemessenheitsgrenze voraussetzt, noch auf den allgemeinen Nachranggrundsatz des § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB II, bei dem es sich nicht um einen  eigenständigen Ausschlusstatbestand handele, könne eine solche Obliegenheit gestützt werden.

BSG, Urteil vom 19.05.2021, B 14 AS 39/20 R

Erstveröffentlichung in HEMPELS 08/2021

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Wohnkostenlücke 2020: Dramatischer Anstieg der Mietzuzahler auch in Kiel

(c) Gerd Altmann / pixelio.de

Die Bundestagsfraktion Die Linke hat eine Kleine Anfrage (19/30857) zur Wohnkostenlücke im Jahr 2020 gestellt. Darin fragt sie die Bundesregierung unter anderem, in welcher Höhe die Kosten für Unterkunft und Heizung, die Leistungsberechtigte in der Grundsicherung nach dem SGB II tatsächlich aufbringen mussten, nicht übernommen worden sind und wie viele Bedarfsgemeinschaften davon betroffen waren.

Für die Landeshauptstadt Kiel hat die Bundesregierung nachfolge Zahlen genannt (Drucksache 19/31600):

  • 2.322.789 € mussten ALG II-Bezieher in Kiel im Jahr 2020 zu ihrer Miete aus ihrem Regelbedarf dazu bezahlen.
  • Bei 1.834 Bedarfsgemeinschaften oder einem Anteil vom 11,6 % wurden die Mietkosten nicht in voller Höhe anerkannt.
  • Im Durchschnitt mussten die Betroffenen alleinstehenden Personen oder Familien 105,55 € oder 18,3 % im Monat aus dem Regelsatz zu ihrer Miete dazu zahlen.

Im Mai 2020 hatte die Stadt Kiel auf eine kleine Anfrage der Ratsfraktion Die Linke noch angegeben, dass 1.222 Kieler Hartz-IV-Familien zu ihrer Miete hinzu zahlen müssten. Das bedeutet einen Anstieg von 50 % Zuzahlern allein in der zweiten Hälfte des Jahres 2020.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Ablehnung einer Heizkostennachforderung nicht ohne Vorwarnung

Bundessozialgericht in Kassel

Die Ablehnung der Übernahme unangemessener Unterkunfts- oder Heizkosten setzt grundsätzlich ein Kostensenkungsverfahren voraus, das den Leistungsberechtigten in die Lage versetzt, seiner vom Gesetz vorgesehenen Kostensenkungsobliegenheit nachzukommen.

Geklagt hatte eine alleinerziehende Mutter, die mit ihren drei kleinen Kindern im ALG II-Bezug stand. Die Familie zog im Januar 2011 in eine kleinere Mietwohnung um. Im April 2011 machte der frühere Vermieter eine Heizkostennachforderung von 690,35 € geltend. Das Jobcenter übernahm hiervon nur anteilig 148,58 €. Während das Sozialgericht das Jobcenter verurteilt hat, die gesamte Heizkostennachforderung zu übernehmen, lehnte das Landessozialgericht einen Anspruch der Familie ganz ab, weil die Heizkosten unangemessen hoch gewesen seien.

Auf die Revisionen der Klägerinnen hat das Bundessozialgericht das Jobcenter verurteilt, die komplette Heizkostennachforderung von 690,35 € zu übernehmen. Denn auch für eine ehemals bewohnte Wohnung sind Nachforderungen dann zu übernehmen, wenn ein durchgehender SGB II-Leistungsbezug vorliegt. Nichts anderes gilt, wenn wegen vorrangig zu beantragendem Kinderwohngeld eine Unterbrechung des Leistungsbezugs eintritt.

Nach ständiger Rechtsprechung setzt die Ablehnung der Übernahme unangemessener Unterkunfts- oder Heizkosten grundsätzlich ein Kostensenkungsverfahren voraus, das den Leistungsberechtigten in die Lage versetzt, seiner vom Gesetz vorgesehenen Kostensenkungsobliegenheit nachzukommen. Die mit einer Kostensenkungsaufforderung verbundene Warn- und Aufklärungsfunktion ist auch in Bezug auf Heizkosten, welche die Grenzwerte des „Bundesweiten Heizspiegels“ überschreiten und ein unwirtschaftliches Heizverhalten indizieren, nicht entbehrlich.

BSG, Urteil vom 19.05.2021, B 14 AS 57/19 R

Erstveröffentlichung in HEMPELS 07/2021

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Merkzeichen G auch bei nicht dauerhafter Gehbehinderung

(c) Thommy Weiss / pixelio.de

Eine Behinderung stellt häufig eine Benachteiligung gegenüber Nichtbehinderten dar. Um im gesellschaftlichen Leben diese Nachteile zumindest ein wenig abzumildern, werden behinderten Menschen gewisse Nachteilsausgleiche gewährt. Welche das sind, hängt von der Art und dem Grad der Behinderung (GdB) ab. Neben dem GdB können im Schwerbehindertenausweis auch verschiedene sogenannte Merkzeichen eingetragen werden, die wiederum zu spezifischen Nachteilsausgleichen berechtigen.

Vor den Sozialgerichten steht nicht selten die Zuerkennung des Merkzeichens G (Gehbehinderung) im Streit. Das Merkmal G wird zuerkannt, wenn jemand in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist. Dies ist häufig bei einer Gehbehinderung der Fall, kann aber auch durch innere Leiden, Anfälle oder Orientierungslosigkeit verursacht sein. Voraussetzung für das Merkzeichen G ist üblicherweise, dass eine Wegstrecke von 2 km nicht mehr innerhalb einer halben Stunde zu Fuß zurückgelegt werden kann.

Mit dem Merkzeichen G gibt es etwa deutliche Vergünstigungen für die Nutzung des ÖPNV, bei Sozialleistungsbezug  ist dieser sogar kostenfrei. Für Leistungsbezieher nach dem SGB XII wird zudem ein Mehrbedarfszuschlag in Höhe von 17 % aufgrund des Merkzeichens G gewährt (§ 30 Abs. 1 Nr. 2 SGB XII).

In vorliegendem Fall konnte der Kläger Wegstrecken von 2 km normalerweise in einer halben Stunde zu Fuß zurücklegen, bei sehr warmen Temperaturen aber nicht. Diese Situation hat das Landessozialgericht mit einer Herzerkrankung verglichen, da bei dem Kläger ähnliche Symptome auftraten, wenn er bei Hitze körperlichen Belastungen ausgesetzt war. Da auch bei einer Herzerkrankung die Einschränkungen für die Zuerkennung des Merkmals G nicht dauernd vorliegen muss, hat das Gericht dem Kläger das Merkmal G zugesprochen.

Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, Urteil vom 19.12.2014, L 2 SB 15/13

Erstveröffentlichung in HEMPELS 06/2021

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Zur Bestimmung der ortsüblichen Vergleichsmiete nach § 558 BGB

Gelegentlich fallen einem beim Aufräumen Urteile in die Hand, deren Veröffentlichung sich auch nach 11 Jahren für den einen oder anderen noch lohnen kann. Mit Urteil vom 23.09.2010 hat das AG Kiel zum Aktenzeichen 119 C 145/10 entschieden:

  • Ein Abschlag vom Mittelwert bzw. heute der Basis-Nettokaltmiete ist vorzunehmen aufgrund einer „anspruchslosen, schlichten Gestaltung des Gebäudes, dem ungepflegten, heruntergekommenen Zustand der Fassade mit teilweise schadhaften Platten sowie dem ungepflegten Erscheinungsbild des Treppenhauses mit erneuerungsbedürftigem Anstrich und schmutzigen Fluren.“
  • Das Vorhandensein eines Aufzuges rechtfertigt keine Positivabweichung bzw. keinen Zuschlag, wenn dieser – wie vorliegend – für die „im 1. Stock gelegene Wohnung irrelevant ist.“
  • Gefangene Räume, ein ungünstiger Zuschnitt der Wohnung, fehlende Fenster in Bad und Küche sowie ein energetischer Zustand auf dem Stand der Gebäudeerrichtung im Jahre 1967 fallen besonders negativ ins Gewicht (nähere Begründung im Urteil).

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Mittellose Menschen dürfen Sozialhilfe statt Wohngeld wählen

BSG 05

Bundessozialgericht in Kassel

Der Verzicht auf einen Wohngeldantrag kann sich für bedürftige Menschen lohnen. Steht ihnen ohne Wohngeld ergänzende Sozialhilfe nach dem SGB XII (Hilfe zum Lebensunterhalt, Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung) zu, dann können Betroffene mitunter Vergünstigungen für Sozialhilfebezieher – etwa günstigere Monatstickets für den öffentlichen Nahverkehr – nutzen oder auch leichter eine Befreiung vom Rundfunkbeitrag (derzeit 17,50 € im Monat) erhalten.

Das Bundessozialgericht (BSG) hat nun entschieden, dass Sozialhilfeträger nicht verlangen dürfen, dass mittellose Personen zuerst Wohngeld beantragen. Geklagt hatte ein Bezieher Altersrente und Wohngeld, der deshalb nicht mehr auf Sozialhilfe angewiesen war. Einen Antrag auf Weiterbewilligung von Wohngeld stellte er nicht und beantragte stattdessen Sozialhilfe, um in den Genuss von Vergünstigungen als Sozialhilfeempfänger zu kommen, die Bezieher von Wohngeld noch nicht erhielten („Berlin-Pass“, der unter anderem den Erwerb eines Sozialtickets für den ÖPNV ermöglicht).

Der Sozialhilfeträger lehnte den Sozialhilfeantrag unter Hinweis auf den sogenannten Nachranggrundsatz in § 2 Abs. 1 SGB XII ab. Rechtswidrig, entschied das BSG in letzter Instanz. Denn der Nachranggrundsatz stelle keine eigenständige Ausschlussnorm dar. Will der Gesetzgeber die Bewilligung von Sozialhilfe also davon abhängig machen, dass kein (höherer) Wohngeldanspruch besteht, so muss er dies ausdrücklich im Gesetz regeln. Eine solche Regelung fehlt indessen – anders als im SGB II in § 12a SGB II – im SGB XII.

Bundessozialgericht, Urteil vom 23.03.2021, B 8 SO 2/20 R

Erstveröffentlichung in HEMPELS 05/2021

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


BSG: Kein Mehrbedarfsanspruch zum Erwerb eines Computers nach bis zum 31.12.2020 geltender Rechtslage

Bundessozialgericht in Kassel

Entgegen der Rechtsprechung vieler Sozial- und Landessozialgerichte (vgl. etwa auch Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, Beschluss vom 11.01.2019, L 6 AS 238/18 B ER) hat das BSG mit Urteil vom 12.05.2021 zum Aktenzeichen B 4 AS 88/20 R einen Anspruch von Schülern im Leistungsbezug nach dem SGB II gegenüber ihren Jobcentern auf Gewährung eines einmaligen Mehrbedarfes für die Anschaffung eines Computers aus § 21 Abs. 6 SGB II in der bis zum 31.12.2020 geltenden Fassung abgelehnt.

Der Entscheidung lag folgender Sachverhalt zugrunde: Die Klägerin, die unter anderem im Dezember 2016 Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende bezog, besuchte im Schuljahr 2016/2017 die 5. Klasse einer niedersächsischen Oberschule, deren Unterrichtskonzept den Einsatz eines Tablet-Computers vorsah. Im Dezember 2016 kaufte die Klägerin das von ihrer Schule vorgegebene Tablet für 380 Euro. Im Februar 2017 beantragte die Klägerin die Erstattung der Kosten für das Tablet, was der Beklagte ablehnte.

Nach erfolglosem Widerspruchsverfahren hat das Sozialgericht das beklagte Jobcenter antragsgemäß verurteilt, der Klägerin 380 Euro als Härtefallmehrbedarf zu gewähren. Auf die vom Sozialgericht zugelassene Berufung hat das Landessozialgericht die erstinstanzliche Entscheidung aufgehoben und die Klage abgewiesen. Die Voraussetzungen eines Härtefallmehrbedarfs (§ 21 Abs. 6 SGB II a.F.) seien nicht erfüllt. Auch die Voraussetzungen des § 73 SGB XII lägen nicht vor. Hiergegen wendete sich die Klägerin mit ihrer vom Landessozialgericht zugelassenen Revision an das Bundessozialgericht.

Der 4. Senat am Bundessozialgericht hat die Revision der Klägerin nun zurückgewiesen. Die Kosten für das Tablet wurden danach zu Recht nicht als Mehrbedarf berücksichtigt. Die Voraussetzungen des § 21 Abs. 6 SGB II in der bis zum 31.12.2020 geltenden Fassung für einen Härtefallmehrbedarf lagen nach Ansicht des Bundessozialgerichts nicht vor. Bei den Kosten für den Kauf des Tablets handelte es sich danach nicht um einen laufenden Bedarf. Der Bedarf sei vielmehr nur einmalig im Zeitpunkt des Kaufs des Tablets entstanden. Die auch von vielen Sozial- und Landessozialgerichten angenommene analoge Anwendung des § 21 Abs. 6 SGB II komme nicht in Betracht.

Anmerkungen:

In § 21 Abs. 6 II n.F. ist ein Mehrbedarfsanspruch für ab dem 01.01.2021 entstehende einmalige Bedarfe jetzt ausdrücklich geregelt (vgl. BT-Drucksache 19/24034 Seite 35 f. Ziffer 5 Nr. 3 c). Die Vorschrift lautet: „Bei Leistungsberechtigten wird ein Mehrbedarf anerkannt, soweit im Einzelfall ein unabweisbarer, besonderer Bedarf besteht; bei einmaligen Bedarfen ist weitere Voraussetzung, dass ein Darlehen nach § 24 Absatz 1 ausnahmsweise nicht zumutbar oder wegen der Art des Bedarfs nicht möglich ist. Der Mehrbedarf ist unabweisbar, wenn er insbesondere nicht durch die Zuwendungen Dritter sowie unter Berücksichtigung von Einsparmöglichkeiten der Leistungsberechtigten gedeckt ist und seiner Höhe nach erheblich von einem durchschnittlichen Bedarf abweicht.“

Ein Darlehen für die Anschaffung eines Computers ist dabei aufgrund der hohen Anschaffungskosten regelmäßig nicht „zumutbar“ im Sinne von § 21 Abs. 6 Satz 1 Halbsatz 2 SGB II n.F. (BT-Drucksache a.a.O. a.E.). Hierzu wird in den aktuellen Weisungen der BA (Weisung 202102001 vom 01.02.2021 – Mehrbedarfe für digitale Endgeräte für den Schulunterricht) ausgeführt: „Soweit den betreffenden Schülerinnen und Schülern von ihrer jeweiligen Schule digitale Endgeräte nicht zur Verfügung gestellt werden, besteht ein einmaliger unabweisbarer besonderer Bedarf, der über den Regelbedarf hinausgeht. Dieser Bedarf ist aufgrund seiner Höhe auch nicht über ein Darlehen nach § 21 Absatz 6 SGB II i. V. m. § 24 Absatz 1 SGB II zu decken. Der Bedarf ist daher in diesen Fällen durch einen Zuschuss zu decken.“

Erheblich negative Auswirkungen hat die Entscheidung des Bundessozialgerichts für diejenigen Schüler und Schülerinnen, die noch im (Corona-) Jahr 2020 für den Erwerbe eines digitalen Endgerätes für das Homeschooling oder in den Jahren davor, weil die Schule einen Rechner erfordert hat, Leistungen nach § 21 Abs. 6 SGB II a.F. in sozialgerichtlichen Eilverfahren erstritten haben. Soweit die Jobcenter den Mehrbedarf nur vorbehaltlich einer anderslautenden Entscheidung in der Hauptsache (ruhend gestelltes Widerspruchsverfahren, Klageverfahren) erbracht haben, droht in den Hauptsacheverfahren nun eine Zurückweisung, verbunden mit einem Erstattungsverlangen der Jobcenter. Vor dem Hintergrund der allenthalben beklagten Benachteiligung der aktuellen Schülergeneration durch coronabedingten Unterrichtsausfall, der besonders Schüler aus einkommensschwachen Haushalten trifft, ist die Entscheidung des BSG rechtspolitisch sicherlich ein verheerendes und arg aus der Zeit gefallenes Signal.

Es wäre wünschenswert, wenn die Jobcenter auf die Rückforderung für vor dem 01.01.2021 erbrachte Leistungen für digitale Endgeräte verzichten würden. Dass diese Mehrbedarfe nach dem politischen Willen des Gesetzgebers anerkannt werden sollten, bestätigt die Gesetzesänderung zum 01.01.2021. Die Bedarfslage war aber jedenfalls im Corona-Jahr 2020 keine andere.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Neue Mietobergrenzen für Kiel rückwirkend ab 01.01.2021

Am 20.05.2021 wird die Kieler Ratsversammlung die nachfolgenden Mietobergrenzen (bruttokalt) für den Regelungsbereich SGB II und SGB XII beschließen:

Personen im HaushaltAnzuerkennende
Wohnungsgröße (in m2)
Mietobergrenze in EUR
1-Personenhaushalt< 50397,00
2-Personenhaushalt> 50 – < 60466,00
3-Personenhaushalt> 60 – < 75610,50
4-Personenhaushalt> 75 – < 90723,00
5-Personenhaushalt> 90 – < 105845,50
6-Personenhaushalt> 105- < 115925,50
7-Personenhaushalt> 115 – < 1251.005,50
Mehrbetrag für jedes weitere Familienmitglied1080,00

Quelle: Rats-Drucks. 0420/2021

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Keine Neuanmietung einer zu teuren Wohnung wegen Corona-Pandemie

Schleswig-Holsteinisches LSG

Vor Abschluss eines Mietvertrages über eine neue Wohnung sollen Leistungsberechtigte nach dem SGB II (Hartz IV) die Zusicherung des für sie zuständigen Jobcenters darüber einholen, dass die Mietkosten vom Jobcenter später tatsächlich auch in voller Höhe übernommen werden (§ 22 Abs. 4 SGB II). Das Jobcenter ist zu dieser Zusicherung verpflichtet, wenn die Aufwendungen für die neue Unterkunft angemessen sind. Das ist in der Regel nur dann der Fall, wenn die Mietkosten innerhalb einer (gültigen) Mietobergrenze liegen, im Ausnahmefall aber auch dann, wenn eine Wohnung die günstigste tatsächlich anzumietende Wohnung ist (sog. „konkrete Angemessenheit“).

An diesen Regeln ändert auch die Corona-Pandemie nichts. Zwar gelten nach § 67 Abs. 1, Abs. 3 SGB II für Bewilligungszeiträume, die in der Zeit vom 1. März 2020 bis zum 31. März 2021 beginnen, dass die tatsächlichen Aufwendungen für Unterkunft und Heizung für die Dauer von sechs Monaten als angemessen gelten. Diese temporäre Sonderregelung gilt jedoch ausdrücklich nur für bereits bewohne Unterkünfte und gerade nicht für die Neuanmietung einer Wohnung.

Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, Beschluss vom 11.11.2020, L 6 AS 153/20 B ER

Erstveröffentlichung in HEMPELS 04/2021

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Kieler Mietspiegel 2021 und neue Mietobergrenzen kommen im Mai

Nachdem der Kieler Mietspiegel 2021 am 15.04.2021 den Sozialausschuss passiert hat, soll dieser sowie die auf der Mietspiegelerstellung aufbauende Berechnung der Mietobergrenzen für Bezieher von Leistungen nach dem SGB II (ALG II) und SGB XII (Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung, Hilfe zum Lebensunterhalt) am 20.05.2021 durch die Ratsversammlung der Landeshauptstadt Kiel beschlossen werden.

Nach den aktuellen Erhebungen liegt die durchschnittliche Nettokaltmiete in Bestandsmietverhältnissen in Kiel bei 6,41 €/qm, bei Neuvermietung im Schnitt bei 8,26 €/qm und das durchschnittliche Mietspiegel-Mietniveau bei 7,55 €/qm. Seit der letzten Datenerhebung im Jahre 2017 sind die Mieten in Kiel im Schnitt um 16 % oder 1,04 €/qm gestiegen.

Quelle: Geschäftliche Mitteilung, Dezernat IV, Amt für Wohnen und Grundsicherung, Drucksache 0350/2021, Einbringung 15.04.2021


Keine Anrechnung der hälftigen Beratungshilfegebühr für ein Überprüfungsverfahren auf ein sozialgerichtliches Eilverfahren

Denn das gerichtliche Antragsverfahren hat sich dem außergerichtlichen Überprüfungsverfahren nicht „angeschlossen“ im Sinne von Nr. 2503 Abs. 2 Satz VV RVG: Gegenstand der Beratungshilfeangelegenheit war ein Überprüfungsantrag betreffend eine in der Vergangenheit liegende Entscheidung, Gegenstand des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens jedoch die vorläufige Leistungsgewährung für die Zukunft.

Sozialgericht Kiel, Beschluss vom 19.02.2021, S 45 SF 69/18 E

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht: Kein Mehrbedarf für FFP2-Masken im Eilverfahren

Derzeit besteht für Bezieher*innen von Arbeitslosengeld II kein Eilbedürfnis, um einen Mehrbedarf für die Anschaffung von FFP2-Masken in einem gerichtlichen Eilverfahren durchzusetzen.  

Durch die Pflicht zum Tragen von medizinischen Schutzmasken in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens und das Recht, sich durch FFP2-Masken selbst vor Ansteckung mit dem Corona-Virus zu schützen, entsteht grundsätzlich ein Mehrbedarf, der nicht in den SGB II-Regelsatz einberechnet wurde. Je nach persönlicher Situation und den aktuellen Kosten für Masken mit entsprechendem Standard ist aktuell von Mehrkosten um die 12 Euro im Monat auszugehen. Da jedoch die Bezieher von Arbeitslosengeld II im Mai 2021 eine Einmalzahlung von 150 Euro unter anderem zur Abdeckung dieser Mehrkosten erhalten und sie außerdem bis Anfang März 2021 10 FFP2-Masken kostenlos erhalten konnten, rechtfertigt dieser Mehrbedarf nicht die Inanspruchnahme gerichtlichen Eilrechtsschutzes. So hat es das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht am 29. März 2021 im Rahmen eines Eilverfahrens entschieden (Aktenzeichen L 6 AS 43/21 B ER).

Im konkreten Fall hatte ein 50-jähriger alleinstehender Bezieher von Arbeitslosengeld II einen monatlichen Mehrbedarf von 129 Euro geltend gemacht und am Sozialgericht Kiel einen Antrag auf Eilrechtsschutz gestellt. Er machte geltend, dass er wöchentlich etwa 20 FFP2-Masken benötige, um einkaufen zu gehen, Arztbesuche wahrzunehmen und seine sozialen Kontakte zu pflegen. Es könne ihm nicht zugemutet werden, die Masken mehrfach zu benutzen. Außerdem müsse er, um in Kiel von Gaarden in die Innenstadt zu gelangen, über belebte Plätze gehen, so dass er schon aus Eigenschutz auch draußen Masken mit dem FFP2-Standard nutzen wolle.

Das Sozialgericht Kiel und ihm folgend das Landessozialgericht in Schleswig haben entschieden, dass zwar das Recht anerkannt werden könne, in bestimmten Bereichen FFP2-Masken anstelle der günstigeren OP-Masken zu tragen. Dies gelte aber nicht für jeden Weg im Außenbereich, wo das Infektionsrisiko ohnehin geringer sei als in Innenräumen.  Außerdem könne dem Antragsteller zugemutet werden, die Hygienevorschriften zu beachten, die für eine sichere Wiederverwendung der FFP2-Masken eingehalten werden müssten. Die zusätzlichen Leistungen, die für Bezieher von Arbeitslosengeld II eingeführt wurden, reichten voraussichtlich aus, um den Mehrbedarf vorübergehend zu decken. Daher sei aktuell ein Eilbedürfnis nicht gegeben.

Der Beschluss ist rechtskräftig.

Quelle: Pressemitteilung des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 31.03.2021

Der – übersichtliche – Beschluss im Volltext findet sich hier: Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, Beschluss vom 29.03.2021, L 6 AS 43/21 B ER


Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht: Anspruch auf Laptop oder Tablet im Home-Schooling für jedes einzelne Kind der Bedarfsgemeinschaft

Während einer coronabedingten Schulschließung haben Schüler*innen, die Arbeitslosengeld II beziehen, einen Anspruch auf die Anschaffungskosten für ein internetfähiges Endgerät.

Der Anspruch besteht grundsätzlich für jedes in einem Haushalt lebende Kind, sofern es auf die Benutzung eines Computers für die Teilnahme am Schulunterricht angewiesen ist. Die Bewilligung eines Darlehens durch das Jobcenter, das dann in monatlichen Raten zurückzuzahlen wäre, ist nicht ausreichend. Allerdings ist der Bedarf gedeckt, wenn die Schule für die Zeit des Distanzlernens ein Leihgerät zur Verfügung stellt. So hat es das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht am 18. März 2021 im Rahmen eines Eilverfahrens entschieden (Aktenzeichen L 3 AS 28/21 B ER).

Antragstellerinnen waren drei Mädchen, die gemeinsam mit ihrer alleinerziehenden Mutter Leistungen vom Jobcenter beziehen. Zwei der Kinder, es sind Zwillinge, gehen in den 4. Jahrgang der Grundschule, allerdings in unterschiedliche Klassen. Die ältere Schwester ist 16 Jahre alt und besucht die Abschlussklasse einer Gemeinschaftsschule. Die Grundschule hatte den beiden Viertklässlerinnen angeboten, ihnen gemeinsam ein IPad zu leihen. Die Mutter der Kinder fand das nicht ausreichend. Sie war außerdem der Auffassung, dass die Kinder die Geräte auch weiterhin benötigen würden, wenn die Schule wieder im Präsenzunterricht stattfinde.

Der 3. Senat des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts hat zwar grundsätzlich ein Leihgerät der Schule für die Zeit während des Lockdowns für ausreichend angesehen, da nur für das Distanzlernen ein Endgerät zwingend erforderlich sei. Für das Home-Schooling müsse aber jedes Schulkind der Bedarfsgemeinschaft ein eigenes Gerät nutzen können, so dass hier grundsätzlich ein Anspruch auf mindestens ein weiteres Gerät bestanden hätte. Im konkreten Fall war aber zum Zeitpunkt der Entscheidung durch das Gericht schon das Eilbedürfnis weggefallen, da alle Antragstellerinnen die Schule schon wieder im Präsenzunterricht besuchen konnten. Der Anspruch könnte aber erneut entstehen, falls es nach den Osterferien zu einem weiteren Lockdown kommen sollte.

Der Beschluss ist rechtskräftig.

Quelle: Pressemitteilung des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 26.03.2021

Der Volltext findet sich hier: Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, Beschluss vom 18.03.2021, L 3 AS 28/21 B ER


Kein Anspruch auf Mehrbedarf für den Erwerb von FFP2-Masken im sozialgerichtlichen Eilverfahren

Sozialgericht Kiel

Mit Beschluss vom 16.03.2021 hat die 35. Kammer am SG Kiel zum Aktenzeichen S 35 AS 35/21 ER einen Antrag auf Erlass einer Einstweiligen Anordnung auf Verpflichtung des Jobcenters Kiel zur vorläufigen Erbringung eines Mehrbedarfs für den Erwerb von FFP2-Masken abgelehnt, weil es derzeit keinen Anordnungsgrund (Eilbedürftigkeit) für den Erlass einer Regelungsanordnung sieht.

In Abweichung zu der bislang zu diesem Thema veröffentlichten Rechtsprechung verneint die 35. Kammer am SG Kiel nicht den Anordnungsanspruch mit der Begründung, es bestünde bereits keine „Rechtspflicht“ zum Tragen von FFP2-Masken (oder vergleichbar schützender Masken), sondern erkennt einen grundsätzlichen Mehrbedarf für den Erwerb von FFP2-Masken für einen möglichst weitreichenden Schutz aller Menschen sowie einen möglichst weitreichenden Eigenschutz an und folgt damit im Ergebnis der hiesigen Rechtsauffassung (hinterlegt im ersten Kommentar im Kommentarbereich).

Die 35. Kammer am SG Kiel verneint indessen (derzeit) das Vorliegen eines Anordnungsgrundes (Eilbedürftigkeit), weil es aus den im Beschluss näher dargelegten Gründen grundsätzlich nur einen (Mehr-) Bedarf für lediglich 8 Masken im Monat (im vorliegenden Fall 16 Masken im Monat) sieht, welcher mit 12 € im Monat (für 16 Masken) zu decken sei. Für diesen potentiellen Mehrbedarf bis zur erwartbaren Auskehrung der zusätzlichen Mittel in Höhe von 150,00 € aus dem sog. Sozialschutz-Paket III gemäß § 70 SGB II im Mai 2021 – also für lediglich gut zwei Monate – sieht das Gericht keinen Anordnungsgrund für den Erlass einer einstweiligen Regelungsanordnung. Anders sei diese Rechtsfrage allerdings zu beantworten, wenn die Leistungen aus dem sog. Sozialschutz-Paket III im Mai 2021 nicht ausgezahlt würden und der Mehrbedarf von 12 € im Monat deswegen über einen längeren Zeitraum hinweg fortbestehe.

Nachtrag 20.03.2021: In der Sache ähnlich hat am 18.03.2021 jetzt auch die 31. Kammer am SG Kiel zum Aktenzeichen S 31 AS 21/21 ER entschieden, wobei die 31. Kammer einen Anordnungsanspruch – also einen vermutlichen Anspruch des Antragstellers auf Mehrleistungen zur Selbstausstattung mit FFP2-Masken – aufgrund der Vorerkrankung des Antragstellers angenommen hat.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Beratungshilfeabrechnung: Berechtigungsschein muss nicht im Original eingereicht werden

(c) Bernd Kasper / pixelio.de

Mit Beschluss vom 16.02.2021 hat das Schleswig-Holsteinische Oberlandesgericht zum Aktenzeichen 9 W 19/21 u.a. entschieden:

„Soweit die weitere Beschwerde darauf abstellt, dass die bloße Einreichung des gescannten Be­rechtigungsschein nicht ausreiche, wenn nicht zumindest eine Entwertung des auf elektroni­schem Weg übermittelten Berechtigungsscheines als Nachweis vorgelegt wird, damit die Mög­lichkeit ausgeschlossen werde, dass nach erfolgter Beratung der Berechtigungsschein einer wei­teren vergütungsberechtigten Person vorgelegt werden kann, greift dieser Einwand aus zwei Gründen nicht durch:

Zunächst wird entsprechend den Ausführungen in dem angegriffenen Beschluss unter Bezug­nahme auf die Entscheidung des OLG Saarbrücken darauf verwiesen, dass die Gefahr einer dop­pelten Auszahlung der Vergütung kaum bestehen dürfte. Denn nach Teil B Ziff. 1 der Verwal­tungsvorschrift über die Festsetzung der aus der Staatskasse zu gewährenden Vergütung vom 19. Juli 2005 (in der Fassung vom 18. April 2017) ist die Festsetzung der Vergütung der Bera­tungsperson – vorliegend also des Rechtsanwalts – zu der bei dem Gericht befindlichen Durch­schrift des Berechtigungsscheins zu nehmen. Für die Kostenbeamten wäre damit gegebenen­falls erkennbar, ob aufgrund des Berechtigungsscheins bereits eine Vergütung für die Beratungsperson festgesetzt und angewiesen wurde (vgl. entsprechend Saarländisches Oberlandesge­richt Saarbrücken, Beschluss vom 16. Dezember 2019-9W 30/19—, Rn. 20, juris).

Zum anderen ist für die Festsetzung der durch die Beratungsperson beanspruchten Vergütung gemäß § 55 Abs. 5 Satz 1 RVG in Verbindung mit § 104 Abs. 2 ZPO erforderlich – aber auch aus­reichend -, dass die tatsächlichen Voraussetzungen für das Entstehen des Kostenansatzes aus den in Nr. 2500 ff; VV-RVG geregelten Gebührentatbeständen glaubhaft gemacht Werden. Denn eine Glaubhaftmachung reicht nach § 104 Abs. 2 ZPO für die Festsetzung der Kosten aus (BGH, Beschluss vom 13. April 2007-11 ZB 10/06—, Rn. 8, juris). Dabei setzen die aus der Staatskasse zu erstattenden Gebühren nach RVG VV-Nr. 2501 bis 2508 unter anderem die Erteilung eines Beratungshilfescheins voraus (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 25. Februar 2010­11-10 WF 3/10—, Rn. 2, juris). Indem der die Beratung durchführende Rechtsanwalt mit Vergü­tungsantrag vom 19. Februar 2020 über das besondere elektronische Anwaltsfach bei dem Amts­gericht Schleswig seinen Vergütungsanspruch gegenüber der Landeskasse geltend machte un­ter elektronischer Übersendung des Beratungshilfescheins, machte er auch dessen Erteilung glaubhaft durch anwaltliche Versicherung (vgl. hierzu: Zöller, Zivilprozessordnung, 33. Aufl. 2020, § 294 ZPO, Rn. 5; § 104 ZPO, Rn. 8).

Allein die Glaubhaftmachung zur Berechtigung der beantragten Vergütung ist Voraussetzung für die Vergütungsfestsetzung. Die Normen über die Festsetzung der Vergütung der Beratungsper­son bezwecken nicht den Ausschluss denkbarer Missbrauchsmöglichkeiten an dem erteilten Be­rechtigungsschein.“

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


ALG II als Darlehen bei Rechtsstreit um BAföG

(c) Kurt F. Domnik / pixelio.de

Der Ausschluss von Studenten von ALG II stellt bis zum Abschluss eines einstweiligen Rechtsschutzverfahrens vor dem Verwaltungsgericht um Leistungen nach dem BAföG eine „besondere Härte“ im Sinne von  § 27 Abs. 3 Satz 1 SGB II dar mit der Folge, dass Auszubildende in diesem Zeitraum ALG II (Hartz IV) als Darlehen erhalten können.

In der Rechtsprechung ist höchstrichterlich anerkannt, dass Auszubildende einen Anspruch auf darlehensweises ALG II aus Härtefallgesichtspunkten haben, wenn der Abschluss ihrer Ausbildung kurz vor dem Abschluss steht (Abschluss in circa 6 Monaten), der Hilfebedarf in der Abschlussphase der Ausbildung entsteht und bei Ausbildungsabbruch künftige Erwerbslosigkeit droht.

Das LSG Berlin-Brandenburg hat nun entschieden, dass der Ausschluss Auszubildender von ALG II auch dann ein Härtefall darstellt, wenn während eines Streits um die Versagung von BAföG-Leistungen vor dem Verwaltungsgericht deren Existenzminimum weder vom BAföG-Amt noch vom Jobcenter sichergestellt würde. Denn um im Streit um BAföG überhaupt erfolgreich sein zu können, muss der Auszubildende dort geltend machen, er studiere in Vollzeit. Würde er – um seinen Lebensunterhalt zu sichern – eine vollschichtige ungelernte Tätigkeit aufnehmen, würde die Klage auf BAföG schon deshalb keinen Erfolg haben. Dieses Ergebnis wäre mit dem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG unvereinbar. ALG II ist in dieser Zeit deswegen darlehensweise zu gewähren.

LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 15.06.2020, L 31 AS 585/20

Erstveröffentlichung in HEMPELS 01/2021

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Einkommensfreibeträge 2021 für die Beratungs- und Prozesskostenhilfe … sinken!

Von Senior-Prof. Dr. Dieter Zimmermann, EH Darmstadt
(Mit Dank an den Infodienst Schuldnerberatung sowie Herrn Senior-Prof. Dr. Dieter Zimmermann für die Erlaubnis zur Nutzung des Beitrages auf diesem Blog – Link zur Originalquelle beim Infodienst Schuldnerberatung)

Mit Wirkung vom 01.01.2021 wurde § 115 Abs. 1 ZPO geändert, der den Einsatz von Einkommen und Vermögen für die Prozesskostenhilfe und die Verfahrenskostenhilfe im familiengerichtlichen Bereich sowie für die Beratungshilfe regelt. Auf Vorschlag des Bundestags-Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz wurde dem Kostenrechtsänderungsgesetz 2021 kurz vor der entscheidenden Lesung im Bundestag noch ein Artikel 10 angefügt, im Plenum verabschiedet und am 29.12.2020 im BGBl. 2020 auf Seite 3254 veröffentlicht. Ohne größere rechtspolitische Diskussion ist in Zukunft nicht mehr der „höchste“ bundesweit gültige SGB-Regelsatz (aktuell Landkreis München) die verbindliche Bezugsgröße für die bundesweit einheitlichen Freibeträge, sondern die Basis bildet nun der „Regelsatz Bund“. § 115 Abs. 1 Satz 5 ZPO n.F. normiert allerdings, dass „soweit am Wohnsitz der Partei aufgrund einer Neufestsetzung oder Fortschreibung nach § 29 Absatz 2 bis 4 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch höhere Regelsätze gelten, … diese heranzuziehen“ sind.

Infolgedessen enthält die Prozesskostenhilfebekanntmachung 2021 erstmals vier Betragsspalten: eine Spalte mit den Freibeträgen „Bund“, die – fast – bundesweit gelten, sowie drei weitere Spalten, die exklusiv für die Landkreise Fürstenfeldbruck/Starnberg, den Landkreis München und die Stadt München höhere Freibeträge festschreiben.

Die neue Bezugsgröße „Bund“ führt für 2021 zu einer spürbaren Absenkung der Einkommensgrenze im Vergleich zu den 2020 bundesweit gültig gewesenen Freibeträgen!

Zum Vergleich sind in nachstehender Tabelle zusätzlich die höchsten Freibeträge 2021 für den Landkreis München vermerkt.

Die PKH-Bekanntmachung 2021 ist im BGBl. 2020, S. 3344 veröffentlicht und bringt folgende Veränderungen:

Einkommensfreibetrag für Rechtsuchende
(110% der Regelbedarfsstufe 1 – vgl. Rechenschritt 2.5.1)
2020: 501€ 2021 „Bund“: 491€  Landkreis München: 517€

Freibetrag, falls Rechtsuchender erwerbstätig ist
(50% der Regelbedarfsstufe 1 – vgl. Rechenschritt 2.5.2)
2020: 228€ 2021 „Bund“: 223€ Landkreis München: 235€

Unterhaltsfreibetrag für Ehegatte/Ehegattin
oder eingetragene/n Lebenspartnerin/Lebenspartner
(110% der Regelbedarfsstufe 1 – vgl. Rechenschritt 2.5.3)
2020: 501€  2021 „Bund“: 491€  Landkreis München: 517€

Unterhaltsfreibetrag für Erwachsene im Haushalt
(110% der Regelbedarfsstufe 3 – vgl. Rechenschritt 2.5.4)
2020: 400 2021 „Bund“: 393€ Landkreis München: 414€

Unterhaltsfreibetrag für Jugendliche von Beginn des 15.
bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres (14 bis 17 Jahre)
(110% der Regelbedarfsstufe 4 – vgl. Rechenschritt 2.5.5)
2020: 381€ 2021 „Bund“: 410€  Landkreis München: 432€

Unterhaltsfreibetrag für Kinder von Beginn des siebten bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres (6 bis 13 Jahre)
(110% der Regelbedarfsstufe 5 – vgl. Rechenschritt 2.5.6)
2020: 358€ 2021 „Bund“: 340€  Landkreis München: 359€

Unterhaltsfreibetrag für Kinder bis zur Vollendung des sechsten Lebensjahres (bis 5 Jahre)
(110% der Regelbedarfsstufe 6 – vgl. Rechenschritt 2.5.7)
2020: 289€ 2021 „Bund“: 311€  Landkreis München: 328€

Praxisrelevanz der neuen Einkommensgrenzen

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Prüner Schlag: Möbel Höffner zerstört Ausgleichsflächen

Mit den durch die Berichterstattung des NDR bekannt gewordenen Verstößen gegen die Umweltauflagen auf der Möbel-Höffner-Baustelle wird die Geschichte der Möbelmarktansiedlung auf dem ehemaligen Kleingartengelände Prüner Schlag mal wieder um ein weiteres unrühmliches Kapitel ergänzt.

„Ich finde das gleich auf mehreren Ebenen unfassbar! Die Zerstörung der Ausgleichsflächen allein wäre schon schlimm genug, aber dass ich davon und von dem deswegen eingeleiteten Bußgeldverfahren erst durch den NDR erfahren habe, setzt dem Ganzen noch einmal die Krone auf!“, empört sich Svenja Bierwirth, umweltpolitische Sprecherin der Ratsfraktion DIE LINKE.

Laut dem Bericht „Möbel Höffner hat offenbar gegen Naturschutzmaßnahmen verstoßen“ des NDR vom 21. Januar wurde offenbar auch auf den Ausgleichsflächen, die im Zuge der Vernichtung des ökologisch wertvollen Kleingartengeländes auf dem Prüner Schlag immer als umweltpolitisches Feigenblatt hochgehalten wurden, großflächig planiert. Überraschen kann so etwas in Anbetracht des rücksichtslosen Auftretens, dass der Krieger-Konzern im Zuge dieses Vorhabens zur Ansiedlung eines Möbelmarktes auf dem Prüner Schlag immer wieder an den Tag gelegt hat, eigentlich nicht. Schließlich wurde von Beginn an kaum eine Zusage des Konzerns eingehalten.

Aber die Verwaltung der Landeshauptstadt Kiel sollte inzwischen gerade bei diesem Thema und angesichts der Wunden, die das Ganze seit dem Beginn der Planungen 2011 bei vielen Kieler*innen hinterlassen hat, mehr Sensibilität beweisen und mit größtmöglicher Offenheit und Transparenz vorgehen. Wenn das hier Vorgefallene gravierend genug ist, um die Einleitung eines Bußgeldverfahrens wegen Verstoßes gegen das Artenschutzgesetz zu begründen, dann wohl auch erst recht, um die Öffentlichkeit und die gewählten Vertreter*innen aus eigenem Antrieb zu informieren.

„Als es darum ging, 2017 die Wagengruppe Schlagloch von eben dieser Ausgleichsfläche zu vertreiben, waren der Schutz der Fläche und mögliche Schäden eines der wichtigsten Argumente von Stadt und, damals noch, Möbel Kraft. Wenn die Aktivist*innen damals auf dem Gelände geduldet worden wären, hätten sie dort in den dreieinhalb Jahren, die seitdem vergangen sind, wohl kaum so viel Schaden anrichten können wie die Planierraupen von Möbel Höffner jetzt in wenigen Tagen. Jetzt ist der ökologische Schaden angerichtet und wird durch ein Bußgeld allein auch nicht behoben!“, ärgert sich Bierwirth abschließend.

Pressemitteilung der Kieler Ratsfraktion DIE LINKE vom 21.01.2021


Persönlicher Schulbedarf auch bei Besuch einer Volkshochschule

Sozialgericht Kiel

Auch Schüler im Leistungsbezug nach dem SGB II (oder Bezug von Wohngeld, Kinderzuschlag oder Asylbewerberleistungen), die an einer Volkshochschule einen Vorbereitungskurs zur Erlangung der mittleren Reife besuchen, haben einen Anspruch auf Geldleistungen für den persönlichen Schulbedarf gemäß § 28 Abs. 3 SGB II in Höhe von derzeit 150 € pro Schuljahr.

Der im Leistungsbezug beim Jobcenter Kiel stehende Kläger besuchte an der Volkshochschule Kiel (VHS) einen Kurs zur Vorbereitung auf den Erwerb des Realschulabschlusses. Seinen Antrag auf Gewährung des persönlichen Schulbedarfs lehnte das Jobcenter Kiel mit der Begründung ab, dass es sich bei der VHS um keine „allgemeinbildende Schule“ im Sinne von § 28 Abs. 1 Satz 2 SGB II handele. Denn das Schleswig-Holsteinische Schulgesetz zähle hierzu nur Grundschulen, Gemeinschaftsschulen und Gymnasien.

Rechtswidrig, entschied das Sozialgericht Kiel. Denn wann eine Schule „allgemeinbildend“ ist, bestimmt sich nach der Rechtsprechung des BSG nicht nach landesrechtlichen, sondern nach bundesrechtlichen Regelungen. Danach ist der Begriff der „allgemeinbildenden Schule“ weit auszulegen: Allgemeinbildend ist danach jede Schule, an der ein allgemeiner Schulabschluss – wie hier der Realschulabschluss – angestrebt wird. Deswegen waren dem Kläger, der einen Vorbereitungskurs an der VHS zwecks Erwerbs seines Realschulabschlusses besuchte, Leistungen für seinen persönlichen Schuldbedarf zu bewilligen.

Sozialgericht Kiel, Gerichtsbescheid vom 30.09.2020, S 42 AS 773/17

Erstveröffentlichung in HEMPELS 12/2020

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


„Wahlpflicht“ zwischen Grundsicherung und Wohngeld oder: Befreiung vom Rundfunkbeitrag nach § 4 Abs. 6 S. 2 RBStV!

(c) Bernd Kasper / pixelio.de

Mein Berliner Kollege Herr Rechtsanwalt Kai Füsslein weist unter der Überschrift „„Wahlpflicht“ zwischen Grundsicherung und Wohngeld oder: Müssen Armutsrentner noch ärmer werden?“ auf ein interessantes Problem hin: Werden Grundsicherungsbezieher nach dem SGB XII (vor allem Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung) auf das nach Meinung vieler SGB XII-Grundsicherungsträger vorrangige Wohngeld verwiesen, weil dieses geringfügig höher als Leistungen der Grundsicherung ist, kann es passieren, dass sich die Betroffenen unter dem Strich mit Wohngeld dennoch schlechter stehen als mit Grundsicherungsleistungen, und zwar dann, wenn das Wohngeld weniger als 17,50 € mehr ist, als es die Grundsicherungsleistungen wären. Der Grund: Wohngeldbezieher können sich – anders als Bezieher von Grundsicherungsleistungen nach dem SGB XII – nicht gemäß § 4 Abs. 1 RBStV vom Rundfunkbeitrag befreien lassen – der aktuell bei 17,50 € liegt.

Eine Lösung dieses offensichtlichen Gerechtigkeitsproblems – der Wohngeldbezieher hat durch die Pflicht zur Zahlung des Rundfunkbeitrages weniger als der Grundsicherungsbezieher, oder, mit anderen Worten: Das Existenzminimum des Wohngeldbeziehers ist nicht mehr sichergestellt – verfolgt mein Berliner Kollege, indem er vor Gericht um Grundsicherungsleistungen für seine Mandanten streitet und – zutreffend – darauf hinweist, dass Wohngeld im Regelungsbereich des SGB XII keine vorrangig zu beantragende Sozialleistung ist.

Es gibt für dieses Problem allerdings auch noch eine andere Lösung. Diese findet sich im Rundfunkbeitragsstaatsvertrag (RBStV), genauer: In § 4 Abs. 6 Satz 1 und 2 RBStV:

„Unbeschadet der Beitragsbefreiung nach Absatz 1 hat die Landesrundfunkanstalt in besonderen Härtefällen auf gesonderten Antrag von der Beitragspflicht zu befreien. Ein Härtefall liegt insbesondere vor, wenn eine Sozialleistung nach Absatz 1 Nr. 1 bis 10 in einem durch die zuständige Behörde erlassenen Bescheid mit der Begründung versagt wurde, dass die Einkünfte die jeweilige Bedarfsgrenze um weniger als die Höhe des Rundfunkbeitrags überschreiten. In den Fällen von Satz 1 gilt Absatz 4 entsprechend.“

Der Haken liegt hier allerdings in Folgendem: Obwohl § 4 Abs. 6 Satz 1 und 2 RBStV nur ein Beispiel für einen Härtefall benennt („insbesondere“) – übrigens eines, das aufgrund von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts in den RBStV Eingang gefunden hat (Beschluss vom 30.11.2011, 1 BvR 665/10 und 1 BvR 3269/08) – behandeln die Landesrundfunkanstalten die Härtefallklausel so, als käme eine Befreiung ausschließlich und nur in diesem (Beispiels-) Fall in Betracht und legen diesen zudem maximal streng aus: Sie verlangen die Vorlage eines „durch die zuständige Behörde erlassenen Bescheid“, der Grundsicherungsleistungen „mit der Begründung versagt“, (…) „dass die Einkünfte die jeweilige Bedarfsgrenze um weniger als die Höhe des Rundfunkbeitrags überschreiten“. Dieser Nachweis lässt sich indessen nicht mit dem Wohngeldbescheid führen, sondern nur mit dem (ablehnenden) Grundsicherungsbescheid. Und genau hier liegt das Problem: Die Grundsicherungsämter werden diese fiktive SGB XII-Bedarfsberechnung nur höchst ungern vornehmen (weil die viel Arbeit macht) oder (bei Beziehern von Wohngeld) unter Hinweis auf den Wohngeldbezug schlicht ablehnen.

Allerdings dürfte der Weg über eine Gebührenbefreiung nach der Härtefallregelung in § 4 Abs. 6 Satz 1 und 2 RBStV immer noch der einfachere Weg sein. Es ist zudem auch der finanziell günstigere für Leistungsbezieher, denn bei Wohngeld mit Rundfunkgebührenbefreiung bleibt unter dem Strich mehr als bei den (geringeren) Grundsicherungsleistungen mit Gebührenbefreiung.

Begründung des NDR vom 11.12.2020, mit der ein Rentnerehepaar im Wohngeldbezug (15,- € Wohngeld) heute von der Rundfunkbeitragspflicht befreit wurde:

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Anspruch auf Umschulung trotz Ermessen der Behörde

(c) Thorben Wengert / pixelio.de

Im Einzelfall können Versicherte einen Anspruch auf die Gewährung von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben – hier in Form einer Umschulung zur Heilpraktikerin – haben, auch wenn die Leistungsgewährung im Ermessen der Behörde steht. Voraussetzung hierfür ist, dass aufgrund der Besonderheiten des Einzelfalls die begehrte Umschulung die einzige richtige Entscheidung ist (sog. Ermessensreduzierung auf Null).

Geklagt hatte eine Versicherte, die aus gesundheitlichen Gründen in ihrem erlernten Tischlerberuf nicht mehr arbeiten konnte und deswegen bei der Deutschen Rentenversicherung (DRV) eine Umschulung zur Heilpraktikerin beantragt hatte. Die DRV lehnte die Kostenübernahme für die begehrte Umschulung ab, weil sie keine positive Rehabilitationsprognose abgeben wollte: Die Versicherte könne aus gesundheitlichen Gründen auch nicht als Heilpraktikerin arbeiten, da ihre Arme und Hände nicht hinreichend belastbar seien und sie aufgrund der psychischen Überlastung im bisherigen Tischlerberuf auch für den Beruf der Heilpraktikerin nicht geeignet sei. Beide Annahmen konnten von den gerichtlichen Sachverständigen nicht objektiviert werden. Da die DRV ihrer Versicherten zudem keinerlei Alternativen für eine andere Umschulung aufgezeigt hatte, wurde sie antragsgemäß verurteilt, diese auf ihre Kosten zur Heilpraktikerin umzuschulen.

Sozialgericht Schleswig, Gerichtsbescheid vom 23.09.2019, S 21 R 221/17

Erstveröffentlichung in HEMPELS 11/2020

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Mietobergrenzen: Stadt Neumünster ohne „schlüssiges Konzept“

In Sachen Kosten der Unterkunft und Heizung für die Stadt Neumünster weist mein Kollege Herr Rechtsanwalt Bernd Petersen, Neumünster, darauf hin, dass das Sozialgericht Kiel im Rahmen eines Erörterungstermins am 20.10.2020 zum Aktenzeichen S 42 AS 203/16 davon ausgegangen ist, dass die Stadt Neumünster – und damit auch das Jobcenter Neumünster – ab dem 01.01.2017 über kein schlüssiges Konzept zur Bestimmung der Angemessenheitsgrenzen  im Sinne der Rechtsprechung des BSG verfügt.

Wörtlich heißt es im Verhandlungsprotokoll:

„Nach Verwerfung der Satzung aus 2015 durch das LSG Schleswig-Holstein hat der Beklagte in seiner Richtlinie die vom LSG erachtete, rechtswidrige Größe der Quadratmeterzahlen entsprechend neu umgesetzt und ebenfalls auch die ab dem 01. Januar 2015 anstehende Anpassung der Mietpreise. Ab dem 01. Januar 2017 sieht die Kammer jedoch nicht, dass der Beklagte über ein schlüssiges Konzept im Sinne der Rechtsprechung des BSG verfügt. Schon nach den eigenen Richtlinien bzw. den eigentlichen Vorgaben hätte ab dem 01. Januar 2017 eine Mietpreisanpassung stattfinden müssen. Es wäre hier ohnehin fraglich,  ob der Beklagte nicht eine Neuerhebung  ab dem 01. Januar 2017 hätte durchführen müssen. Das BSG weist in seinem Urteil vom 12. Dezember 2017, Az. B 4 AS 33/16 R, darauf hin, dass ein schlüssiges Konzept für angemessene Kosten der Unterkunft eine regelmäßige Überprüfung nach Ablauf einer Zwei-Jahres-Frist vorsieht und dass dieses fortzuschreiben ist. Das BSG nimmt hierbei auch Bezug auf die Regelung des §558 d Abs. 2 BGB, der nämlich für qualifizierte Mietspiegel eine Neuerstellung nach vier Jahren vorsieht. Die Kammer kann keinen Grund erkennen, warum diese Neuerstellung nicht dann auch für Jobcenter gelten sollte, die ihre Mietobergrenzen im Rahmen von Richtlinien oder Satzungen ohne Kopplung an einen qualifizierten Mietspiegel festlegen, so dass nach Auffassung der Kammer hier nur eine einzige Fortschreibungsmöglichkeit nach zwei Jahren besteht. Für diese Sichtweise spricht auch die Forderung des BSG, dass durch das schlüssige Konzept immer die aktuellen Verhältnisse des örtlichen Wohnungsmarktes zeit- und realitätsgerecht erfasst werden sollten. Entsprechend sieht es auch das Hessische LSG, Beschluss vom 11.03.2020, Az. L 6 AS 605/19 B ER, wonach eine Fortschreibungsmöglichkeit nur einmalig besteht.“

In der Sache selbst und in Folgesachen wurde ein Vergleich geschlossen.

Unter Berücksichtigung der Ausführungen des Sozialgerichts Kiel sind nach ständiger Rechtsprechung des BSG damit in Neumünster für die Bestimmung der Angemessenheit der Unterkunftskosten ab dem 01.01.2017 bis auf weiteres die Tabellenwerte der Wohngeldtabelle zuzüglich eines Sicherheitsaufschlages von 10 % maßgeblich.


Geld auf dem Konto gehört nicht immer dem Kontoinhaber

(c) Kurt F. Domnik / pixelio.de

Immer wieder „entdecken“ Jobcenter durch Datenabgleich Geld auf Konten von Leistungsberechtigten, welches dem ersten Anschein nach ihren „Kunden“ gehört. Liegt solches Vermögen über den zulässigen Freibetragsgrenzen, kann dies zur Ablehnung des Leistungsanspruches führen. Nicht selten wird den Betroffenen auch „Sozialleistungsbetrug“ oder „ordnungswidriges Verhalten“ vorgeworfen. Doch nicht immer gehört das Geld auf einem Konto auch dem Kontoinhaber. Entscheidend ist, wem das Kontoguthaben zivilrechtlich zuzuordnen ist.

Das Bundessozialgericht (BSG) hatte einen Fall zu entscheiden, in dem ein Leistungsberechtigter vor vielen Jahren einmal ein Tagesgeldkonto nur deswegen eröffnet hatte, weil ihm für die Einrichtung als Werbegeschenk Aktien eines Internetunternehmens im Wert von 100 DM gutgeschrieben wurden. Anschließend hatte er das Konto seinem Vater zur Benutzung überlassen. Nach der Rechtsprechung des BSG genügt der bloße äußere Anschein, nach der der Leistungsberechtigte als Kontoinhaber Gläubiger des Kontoguthabens gegenüber der Bank ist, nicht, um diesem das Kontoguthaben auch als sein Vermögen zuzuordnen. Vielmehr sei der Leistungsberechtigte in diesem Fall in Bezug auf das Kontoguthaben wie ein „Treuhänder“ zu bewerten gewesen: Zwar hatte er gegenüber der Bank grundsätzlich die Rechtsmacht, sich das Guthaben auszahlen zu lassen. In der Ausübung dieses Rechts sei er jedoch im „Innenverhältnis“ gegenüber seinem Vater (Treuegeber) als dem wirtschaftlichen Eigentümer schuldrechtlich beschränkt gewesen. Das Kontoguthaben war daher nicht dem Vermögen des Leistungsberechtigten zuzuordnen.

(BSG, Urteil vom 24.11.2010, B 11 AL 35/09 R)

Erstveröffentlichung in HEMPELS 05/2011

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Anspruch auf Zinsen bei Nachzahlung von Sozialhilfe

(c) Marko Greitschus / pixelio.de

Behörden müssen Nachzahlungen von Sozialleistungen grundsätzlich gemäß § 44 SGB I verzinsen. Der Verzinsungsanspruch entsteht nach sechs Kalendermonaten ab Abgabe des vollständigen Antrags auf Sozialleistungen.

Im Streitfall hatte die Klägerin von August 2015 bis Juli 2016 Grundsicherung im Alter erhalten. Sie hielt jedoch die vom Sozialhilfeträger gezahlten Unterkunftskosten für zu niedrig und bat deswegen um Überprüfung des bestandskräftig gewordenen Leistungsbescheides. Als die Behörde den Antrag auf Überprüfung ablehnte, zog die Frau vor Gericht.

Das Sozialgericht sprach ihr im Juli 2018 schließlich eine Nachzahlung in Höhe von 1.380 Euro zu, lehnte aber einen Zinsanspruch mit der Begründung ab, der Nachzahlungsbetrag sei erst durch den die Nachzahlung letztendlich gewährenden „Zugunstenbescheid“ entstanden.

Dem widersprach das BSG. Die Klägerin könne für die erhaltene Nachzahlung Zinsen verlangen. Dem stehe auch die Bestandskraft des ursprünglich höhere Leistungen ablehnenden Bescheids nicht entgegen. Denn werde eine Leistung zu Unrecht abgelehnt, könne der Anspruch zwar nicht durchgesetzt werden, solange die Bestandskraft des Bescheids fortwirke, er sei aber gleichwohl entstanden.

Bundessozialgericht, Urteil vom 03.07.2020, B 8 SO 15/19 R

Erstveröffentlichung in HEMPELS 10/2020

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


SG Kiel: 150 € netto für eine durchschnittliche Untätigkeitsklage

SG Kiel, Kostenbeschluss vom 09.10.2020, S 31 AS 201/20

Nach der Gebührenreform zum 01.01.2021 180,00 € (50 % der Mittelgebühr von 360,00 €) für ab dem 01.01.2021 erhobene Untätigkeitsklagen.


Kostenlose Rechtsberatung durch (anwaltlichen) Berufsbetreuer?

Amtsgericht Kiel (Photo: Helge Hildebrandt)

Immer wieder berichten mir Betreuer, dass sie Probleme haben, für ihre Betreuten Beratungshilfe zu erhalten. So wurde etwa in jüngster Zeit ein (nicht anwaltlicher) Betreuer, der für die Durchführung eines Widerspruchsverfahrens beim Amtsgericht Kiel um Beratungshilfe für seinen Betreuten nachgesucht hatte, aufgefordert darzulegen, inwieweit dieser sich als Betreuer „- vor Beauftragung eines Anwaltes – eigenständig um Klärung der Angelegenheit bemüht“ habe. Diese Erfahrungen waren für mich der Anlass, zum Stichwort „Beratungshilfe“ für die 31. Auflage 2020/2021 des „Leitfaden ALG II / Sozialhilfe“ unter 3.2.6. nachfolge Hinweise aufzunehmen:

„In der Praxis der Amtsgerichte kommt es immer wieder vor, dass betreuten Rechtsuchenden Beratungshilfe mit der Begründung verwehrt wird, ihr (anwaltlicher oder auch nicht anwaltlicher) Berufsbetreuer könne sie rechtlich beraten oder vertreten – etwa indem er Widerspruch bei einer Behörde für sie einlegt. Diese Praxis ist evident rechtswidrig. Der nicht anwaltliche Berufsbetreuer darf bereits keine Rechtsdienstleistungen erbringen. Aber auch der anwaltliche Berufsbetreuer ist nicht zu einer kostenlosen rechtlichen Beratung seines Betreuten verpflichtet. Er kann diese gemäß § 1835 Abs. 3 BGB nach anwaltlichem Gebührenrecht abrechnen (BGH, Beschluss vom 14.05.2014, XII ZB 683/11). Deswegen stellte die Beratung durch den anwaltlichen Berufsbetreuer keine „andere zumutbare Hilfsmöglichkeit“ im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 2 BerHG dar. Ein Rechtsanwalt als Berufsbetreuer muss nach den Grundsätzen der kostensparenden Amtsführung für den Betreuten deswegen sogar Beratungshilfe in Anspruch nehmen (AG Tempelhof-Kreuzberg, Beschluss vom 07.11.2013, 70a II 3276/13) und kann mit der Beratung oder Vertretung seines Betreuten auch einen fachkundigen Kollegen beauftragen.“

Es wäre im Interesse einer funktionierenden Rechtspflege wünschenswert, wenn diese Grundsätze an den Amtsgerichten zukünftig stärker als bisher Beachtung finden würden.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Keine Beratungshilfe für die Einlegung eines Widerspruches nach Ablauf der Monatsfrist?

Amtsgericht Kiel (Photo: Helge Hildebrandt)

Mit Beschluss vom 30.06.2020 hat das AG Kiel in der Beratungshilfeangelegenheit 7 II 1974/19 entschieden, dass ein Rechtsuchender mit geringem Einkommen, der gegen den Bescheid einer Behörde innerhalb der Monatsfrist keinen Rechtsbehelf einlegt, wohl aber innerhalb der Jahresfrist gemäß § 66 Abs. 2 Satz 1 SGG wegen nicht ordnungsgemäßer Rechtsmittelbelehrung (zu dieser Problematik siehe Rechtsmittelbelehrung muss auf elektronische Form hinweisen), auch für ein Widerspruchsverfahren keinen Anspruch auf Beratungshilfe hat. Zum Tatbestand und zur Begründung hat das AG Kiel ausgeführt:

I.) Die Antragstellerseite begehrt nachträglich Beratungshilfe. Als Angelegenheit ist im Antragsformular (Buchstabe A) benannt: „_________ _________________ – Widerspruch gegen Aufhebungs- und Erstattungsbescheid 02.05.18 (01-02/18)“. Die Bevollmächtigte lege gegen den Bescheid unter der Annahme, die Widerspruchsfrist sei aufgrund einer fehlerhaften Rechtsbehelfsbelehrung gewahrt, Widerspruch ein.

Das Amtsgericht hat durch den angefochtenen Beschluss die Bewilligung von Beratungshilfe ablehnt, da die Inanspruchnahme von Beratungshilfe aufgrund des mit dem Zeitablaufs verbundenen Kostenrisikos mutwillig sei.

Hiergegen richtet sich die Erinnerung. Wegen der Begründung wird Bezug genommen auf den Schriftsatz vom 19.08.2019.

II.) Die Erinnerung hat keinen Erfolg.

1.) Die Voraussetzungen für eine Bewilligung von Beratungshilfe liegen für die Antragstellerseite nicht vor.

Auf Antrag ist Beratungshilfe zu bewilligen, wenn die Voraussetzungen des § 1 und § 2 BerHG vorliegen. Zudem muss das allgemeine Rechtsschutzbedürfnis vorliegen (vgl. Büttner/Wrobel-Sachs/Gottschalk/Dürbeck, Prozess- und Verfahrenskostenhilfe, Beratungshilfe, 6. Aufl., Rn. 960).

Diese Voraussetzungen liegen bei dem Antrag der Antragstellerseite nicht vollständig vor. Der Antragstellerseite steht nämlich kein Rechtsschutzbedürfnis zur Seite. Denn ihr oblag es – als Voraussetzung für eine Bewilligung von Beratungshilfe –, zunächst Eigenmaßnahmen im Rahmen von Beratungshilfe zu ergreifen.

Für das BVerfG ist unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten kein Verstoß gegen das Gebot der Rechtswahrnehmungsgleichheit erkennbar, wenn dem unbemittelten Rechtsuchenden die Bewilligung von Beratungshilfe wegen ausreichender Selbsthilfemöglichkeiten versagt wird (vgl. z.B. BVerfG NZS 2011, 462). Denn auch ein bemittelter Rechtsuchender würde bei ausreichend bestehenden Selbsthilfemöglichkeiten die Einschaltung eines Rechtsanwalts vernünftigerweise nicht in Betracht ziehen (vgl. BVerfG NJW 2009, 2417; BVerfG NZS 2011, 462). Der unbemittelte Rechtsuchende ist nämlich nur einem solchen bemittelten Rechtsuchenden gleichzustellen, bei seiner Entscheidung für die Inanspruchnahme von Rechtsrat auch die hierdurch entstehenden Kosten berücksichtigt und vernünftig abwägt (BVerfGE NJW 2009, 209; BVerfG NJW 2009, 3417; BVerfG NZS 2011, 462). Ein kostenbewusster Rechtsuchender wird dabei insbesondere prüfen, inwieweit er fremde Hilfe zur effektiven Ausübung seiner Rechte braucht oder selbst dazu in der Lage ist (BVerfG NZS 2011, 462).

Einfachrechtlich ist die Einordnung Selbsthilfe als Voraussetzung für die Bewilligung von Beratungshilfe zwar streitig. Das Gericht teilt indes die Ansicht, dass die Selbsthilfe im Rahmen des allgemeinen Rechtsschutzbedürfnisses einzuordnen ist.

Ob ausreichende Selbsthilfemöglichkeiten bestehen, hängt insbesondere davon ab, ob der dem Beratungsanliegen zugrunde liegende Sachverhalt schwierige Tatsachen- oder Rechtsfragen aufwirft und der Rechtsuchende über besondere Rechtskenntnisse verfügt (vgl. BVerfG NJW 2009, 3417; BVerfG NZS 2011, 462). Ein pauschaler Verweis auf die Beratungspflicht der Behörde stellt indes keine zumutbare Selbsthilfemöglichkeit dar, wenn Ausgangs- und Widerspruchsbehörde identisch sind (BVerfG NJW 2009, 3417; BVerfG NZS 2011, 462). Abgestellt werden kann aber – ungeachtet der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage – darauf, dass der unbemittelte Rechtsuchende im konkreten Fall in der Lage ist, einen Widerspruch persönlich, das heißt ohne anwaltliche Hilfe einzulegen (BVerfG NZS 2011, 462). Das Bundesverfassungsgericht hat zu der Frage, im welchem Maße Eigenbemühungen im Rahmen des § 44 SGB X zumutbar sind, in seiner Entscheidung vom 19.08.2010 (BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 19. August 2010 – 1 BvR 465/10 –, Rn. 15, juris) Folgendes ausgeführt:

„Die Rechtswahrnehmungsgleichheit fordert eine weitgehende Angleichung der Situation von Bemittelten und Unbemittelten im Bereich des gerichtlichen wie außergerichtlichen Rechtsschutzes (vgl. BVerfGE 122, 39 <48 f.>; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 11. Mai 2009 – 1 BvR 1517/08 -, NJW 2009, S. 3417). Dabei ist der Unbemittelte einem solchen Bemittelten gleichzustellen, der bei seiner Entscheidung für die Inanspruchnahme von Rechtsrat auch die hierdurch entstehenden Kosten berücksichtigt und vernünftig abwägt. Ein kostenbewusster Rechtsuchender wird dabei insbesondere prüfen, inwieweit er fremde Hilfe zur effektiven Ausübung seiner Verfahrensrechte braucht oder selbst dazu in der Lage ist.

(10) Die Frage nach der Selbsthilfe mag einfachrechtlich im Rahmen des Beratungshilfegesetzes umstritten sein (generell ablehnend Schoreit, in: Schoreit/Groß, Beratungshilfe und Prozesskostenhilfe, 9. Aufl. 2008, § 1 Rn. 52; für Berücksichtigung im Rahmen eines allgemeinen Rechtsschutzinteresses: Kalthoener/Büttner/ Wrobel-Sachs, Prozesskostenhilfe und Beratungshilfe, 4. Aufl., 2005, Rn. 954, 960). Unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten ist aber jedenfalls kein Verstoß gegen das Gebot der Rechtswahrnehmungsgleichheit erkennbar, wenn ein Bemittelter deshalb die Einschaltung eines Anwalts vernünftigerweise nicht in Betracht ziehen würde.

(11) Bei der Bewertung dieser Frage, hat das Amtsgericht eine Abwägung im Einzelfall zu treffen. Verfassungsrechtlich zu beanstanden ist insbesondere, wenn ein Rechtsuchender für das Widerspruchsverfahren zur Beratung an dieselbe Behörde verwiesen wird, gegen die er sich mit dem Widerspruch richtet (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 11. Mai 2009 – 1 BvR 1517/08 -, NJW 2009, S. 3419).

(12) Die Entscheidung des Amtsgerichts überschreitet dagegen die von der Rechtswahrnehmungsgleichheit gesetzten Grenzen nicht, wenn es hier vom Beschwerdeführer zunächst eigene Schritte zur Einleitung eines Überprüfungsverfahrens erwartet.

(13) Ein vernünftiger bemittelter Rechtsuchender müsste die Kosten der Rechtsverfolgung für ein Überprüfungsverfahren (§ 44 SGB X) selbst tragen, weil es ein neues Verwaltungsverfahren darstellt, das auf seinen Antrag ergeht und würde damit seine vorhandenen Mittel auf jeden Fall schmälern. Aufwendungen für die Hinzuziehung eines Rechtsanwalts können im Erfolgsfall erst für ein Widerspruchsverfahren (§ 63 Abs. 2 SGB X), nicht aber für den Überprüfungsantrag erstattet werden (vgl. BSGE 55, 92). Insoweit kommt es auf die Bedeutung der Angelegenheit für den Rechtsuchenden an, die für die Vergangenheit nicht allein mit dem Hinweis auf die existenzsichernde Bedeutung der Leistungen begründet werden kann.

(14) Grundsätzlich ist es einem kostenbewussten Rechtsuchenden auch zumutbar, die Tatsachenklärung innerhalb der Widerspruchsfrist (§ 84 Sozialgerichtsgesetz) in Angriff zu nehmen. Unterbleibt dies ohne ersichtlichen Grund, so lässt sich die Notwendigkeit fremder Hilfe jedenfalls nicht mit den Schwierigkeiten begründen, die sich bei der Aufklärung länger zurückliegender Zeiträume wegen des Aktenumfangs und der Änderungen im Laufe der Zeit nahezu zwangsläufig ergeben. Eine verzögerte Überprüfung ohne konkrete Anhaltspunkte nimmt nur derjenige vor, für den Kosten keine Rolle spielen.

(15) Erfährt der Rechtsuchende nachträglich konkrete Anhaltspunkte, die aus seiner Sicht für die vergangene Leistungsgewährung von Bedeutung sein könnten, so ist es ihm grundsätzlich zumutbar, die Behörde zunächst selbst darauf aufmerksam zu machen. Dies gilt für Umstände zu seinen Lasten nicht anders als zu seinen Gunsten. Dem Rechtsuchenden bleibt es dabei unbenommen, nach Abschluss des Überprüfungsverfahrens ein Widerspruchsverfahren durchzuführen.“

Nach diesen Grundsätzen bestand für die Antragstellerseite die Möglichkeit, selbst bei der Behörde um eine Überprüfung des Bescheides nachzusuchen. Dies gilt in Fällen wie diesen unabhängig davon, ob für den Widerspruch die Monatsfrist oder aufgrund einer fehlerhaften Belehrung eine Frist von einem Jahr gilt. Denn ein kostenbewusster Rechtsuchender hätte sich aufgrund des Kostenrisikos innerhalb der im Bescheid mitgeteilten Frist um die Überprüfung des Bescheides bemüht. Da dies ohne erkennbaren Grund unterblieben ist, hat sich die Antragstellerseite nach Ablauf der benannten Frist zunächst selbst um die Überprüfung des Bescheides zu bemühen. Hierzu war sie auch in der Lage. Rechtliche oder tatsächliche Probleme sind insoweit weder vorgetragen noch sonst erkennbar. Daher hätte auch eine Partei, die selbst für die Kosten anwaltlicher Hilfe aufkommen muss, zunächst davon abgesehen, anwaltliche Hilfe zu suchen. Sonstige konkrete Anhaltspunkte für eine Unzumutbarkeit von Eigenbemühungen sind weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.

2.)

Eine Kostengrundentscheidung ist nicht angezeigt. Die Entscheidung ergeht gerichtsgebührenfrei. Außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.

Diese Entscheidung ist gemäß § 7 BerHG („… nur Erinnerung …“) nicht anfechtbar (so auch: OLG Schleswig v. 05.01.2011 – 2 W 271/10; OLG Schleswig v. 18.01.2011 – 2 W 8/11; LG Kiel v. 16.12.2009 – 3 T 364/09 OLG Hamm NJOZ 2011, 649 OLG Celle NJOZ 2011, 410 OLG Brandenburg NJOZ 2011, 409; OLG Naumburg NJOZ 2011, 1097 zu § 6 Abs. 2 BerHG a.F.). Die Zulassung der Beschwerde ist gesetzlich nicht vorgesehen.

Nach diesseitiger Rechtsauffassung wird in dem Beschluss des AG Kiel nicht hinreichend zwischen Widerspruchsverfahren und Überprüfungsverfahren differenziert: Für ein Widerspruchsverfahren ist nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG Beratungshilfe zu gewähren, eine Ablehnung verletzt einen Rechtsuchenden in seinem Grundrecht auf Rechtswahrnehmungsgleichheit aus Art. 3 Abs. 1 i.V. mit Art. 20 Abs. 1 und 3 GG (grundlegend BVerfG, Beschluss vom 11.05.2009, 1 BvR 1517/08; dem folgend: Beschlüsse vom 29.04.2015, 1 BvR 1849/11, 30.06.2009, 1 BvR 470/09, 31.8.2010, 1 BvR 2318/09, 14.9.2009, 1 BvR 40/09; 06.08.2009, 1 BvR 1554/08, 1 BvR 321/09, 1 BvR 320/09, 1 BvR 319/09, 1 BvR 281/09, 1 BvR 1550/08, 1 BvR 1551/08, 1 BvR 1552/08, 1 BvR 322/09), für ein Überprüfungsverfahren demgegenüber stellt die Ablehnung von Beratungshilfe jedenfalls keine Grundrechtsverletzung dar, d.h. Beratungshilfe kann, sie muss aber jedenfalls aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht gewährt werden.

Die vom AG Kiel in seinem Beschluss angeführte Entscheidung des BVerfG vom 19.08.2010, 1 BvR 465/10, betrifft nun aber gerade kein Widerspruchsverfahren, sondern ein Überprüfungsverfahren, während es in dem Beschluss des AG Kiel um Beratungshilfe für ein Widerspruchsverfahren – und das ist hier die einzige Besonderheit – innerhalb der Jahresfrist nach § 62 Abs. 2 Satz 1 SGG geht.

Der zentrale Satz im Beschluss des AG Kiel, mit dem das Gericht die Argumentation des BVerfG zu Überprüfungsverfahren auf Widerspruchsverfahren nach § 62 Abs. 1 Satz 1 SGG überträgt, lautet: „Denn ein kostenbewusster Rechtsuchender hätte sich aufgrund des Kostenrisikos innerhalb der im Bescheid mitgeteilten Frist um die Überprüfung des Bescheides bemüht.“ Einmal abgesehen davon, dass ein Rechtsuchender innerhalb der Monatsfrist natürlich gerade keine „Überprüfung“ beantragt, sondern Widerspruch erhoben hätte (und die Behörde selbst einen explizit gestellten „Überprüfungsantrag“ innerhalb der Monatsfrist vom Amts Wegen als „Widerspruch“ gedeutet und behandelt hätte), ist auch kein sachlicher Grund dafür ersichtlich, warum ein „kostenbewusster“ Selbstzahler bei einer unrichtigen Rechtsmittelbelehrung „innerhalb der im Bescheid mitgeteilten Frist“ – also der Monatsfrist – hätte Widerspruch erheben sollen. Denn das vom AG Kiel vermutete „Kostenrisiko“ besteht für den Rechtsuchenden tatsächlich schließlich gerade nicht, wenn er bei unrichtiger Rechtsmittelbelehrung den Widerspruch nicht innerhalb eines Monats, sondern erst innerhalb der Jahresfrist einlegt.

Gegen den Beschluss des Amtsgericht Kiel ist ein Rechtsmittel nicht gegeben, § 7 BerHG.. 

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Sozialhilfe: Keine Anrechnung von freiwilligen Motivationszulagen

Bundessozialgericht in Kassel

Motivationszuwendungen für die Teilnahme an einer tagesstrukturierenden Maßnahme sind nicht auf die Sozialhilfe anzurechnen.

Geklagt hatte ein Bezieher von Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung, der die Integrierte Angebotswerkstatt (IAW) Schleswig besuchte und von dieser freiwillige Zuwendungen in Höhe von 1,60 Euro für jede Stunde seiner Anwesenheit als Anreiz für seine Teilnahme erhielt. Diese Zuwendungen berücksichtigte der zuständige Grundsicherungsträger abzüglich eines monatlichen Freibetrages von 63 Euro als Einkommen.

Rechtswidrig, entschied das Bundessozialgericht. Denn bei den Motivationszulagen der IAW handelte es sich um Zuwendungen im Sinne von § 84 Abs. 2 SGB XII, die ein anderer erbringt, ohne hierzu eine rechtliche oder sittliche Pflicht zu haben. Solche Zuwendungen sollen als Einkommen außer Betracht bleiben, soweit ihre Berücksichtigung für die Leistungsberechtigten im Einzelfall eine besondere Härte bedeuten würde. Mit dem Begriff der „besonderen Härte“ lässt sich – entgegen der Auffassung des Sozialgerichts Schleswig – keine feste Obergrenze in Anlehnung an bestimmte Einkommensgrenzen vereinbaren, bis zu der eine Zuwendung berücksichtigungsfrei wäre. Wird mit der Zuwendung ein Anreiz gesetzt, durch regelmäßige Teilnahme an der Maßnahme die bestehenden behinderungsbedingten Einschränkungen in Bezug auf die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft aktiv zu mindern oder zu überwinden und wird – wie hier – schon aus der Höhe der Zuwendung deutlich, dass kein Zusammenhang mit einem Erfolg bei einer Tätigkeit besteht, wäre es eine besondere Härte, würde auch nur ein Teil dieser Zuwendung als Einkommen berücksichtigt.

Bundessozialgericht, Urteil vom 12.07.2020, B 8 SO 27/18 R

Erstveröffentlichung in HEMPELS 09/2020

Siehe aber auch BSG, Urteil vom 17.09.2020, B 4 AS 3/20 R zum Regelungsbereich SGB II, wonach diese Frage aufgrund der „Erwerbszentriertheit des SGB II“ dort anders zu beantworten ist (Terminbericht im Kommentarbereich).

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


1.222 Kieler Hartz IV Familien müssen zu ihrer Miete zuzahlen

Auf eine kleine Anfrage des Ratsherrn Burkhardt Gernhuber (Ratsfraktion DIE LINKE) hat die Stadt Kiel nach 2017 im Mai 2020 erneut Angaben zu der Zahl der Bedarfsgemeinschaften im ALG II Bezug gemacht, die aus ihrem Regelsatz zu ihrer Miete dazuzahlen müssen, weil das Jobcenter Kiel ihre Unterkunftskosten nicht in voller Höhe anerkennt. Im Leistungsbereich des Jobcenters Kiel sind danach bei 1.222 von 16.705 Bedarfsgemeinschaften (= 7,32 %) die tatsächlichen Kosten der Unterkunft höher als die angemessenen Kosten der Unterkunft.

Im Jahr 2017 hatte die Stadt Kiel zu dieser Frage folgende Auskunft erteilt (Drs. 0895/2017): Im Leistungsbereich des Jobcenters Kiel sind bei 1.461 von 18.778 Bedarfsgemeinschaften (= 7,78 %) die tatsächlichen Kosten der Unterkunft höher als die angemessenen Kosten der Unterkunft. Der Anteil wäre damit in den letzten zweieinhalb Jahren gesunken.

Diese Ergebnis erstaunt, weil die Landeshauptstadt Kiel selbst in ihren wöchentlichen „Wohnraumberichten“ praktisch keine Wohnungsangebote innerhalb der gültigen Mietobergrenzen findet: In der 39. Kalenderwoche 2020 waren es genau zwei Wohnungen für alleinstehende Personen mit einer Wohnfläche von 25 qm bzw. 34 qm innerhalb der Mietobergrenze von 374,50 € bruttokalt. Für Zwei- oder Mehrpersonenhaushalte wurde gar kein Wohnraum innerhalb der gültigen Mitobergrenzen angeboten. Und so sieht es seit einigen Jahren aus.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Für die Beratung über die Erfolgsaussichten einer Klage gegen einen Widerspruchsbescheid ist gesondert Beratungshilfe zu bewilligen

Amtsgericht Kiel (Photo: Helge Hildebrandt)

Für die Beratung über die Erfolgsaussichten einer Klage gegen einen Widerspruchsbescheid ist gesondert Beratungshilfe zu bewilligen. Insbesondere bildet diese Beratungstätigkeit gebührenrechtlich keine einheitliche Angelegenheit mit dem vorausgegangenen Widerspruchsverfahren. Zur Begründung hat das AG Kiel, Beschluss vom 10.09.2020, 7 UR II 21/20 ausgeführt:

„Die Erinnerung hat in der Sache Erfolg. Denn das der Nachprüfung des Verwaltungsakts dienen­de weitere Verwaltungsverfahren im Sinne des § 17 Nr. 1a Alt. 1 RVG endet mit einer Entschei­dung der für die Nachprüfung zuständigen Behörde oder mit Erhebung einer Untätigkeitsklage (Mock/Schneider/Wahlen in: Anwaltkommentar RVG, 6. Auflage 2012, § 17, Rn. 6; Mayer, Kroiß, Rechtsanwaltsvergütungsgesetz, RVG § 17 Rn. 5, beck-online). Ist ein Widerspruchsverfahren ohne Erfolg geblieben bzw. ist ein solches Vorverfahren nicht vorgesehen, ist dem Rechtssuchen­den regelmäßig für die Beratung zum weiteren Vorgehen, insbesondere ob Klage erhoben wer­den soll, {Ergänzung von mir: Beratungshilfe} zu bewilligen (Groß in: Groß, Beratungshilfe/Prozesskostenhilfe/Verfahrenskostenhilfe, 14. Aufl. 2018, § 1 [Voraussetzungen], Rn. 74). So liegt es jedenfalls hier, da inhaltlich über die Er­folgsaussicht und Zweckmäßigkeit der Klageerhebung beraten worden ist.“

Das hiesige Erinnerungsschreiben vom 27.04.2020 findet sich im Kommentarbereich.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Hilfe zum Lebensunterhalt darf nicht so einfach versagt werden

Schleswig-Holsteinisches LSG

Wirkt ein Bezieher von Hilfe zum Lebensunterhalt (HzL) nach dem SGB XII bei seiner Rentenantragstellung nicht hinreichend mit oder weist diese dem Sozialleistungsträger nicht genügend nach, so darf dieser die Leistungen der HzL dennoch nicht – auch nicht teilweise – versagen.

In vorliegendem Fall hatte die Stadt Neumünster als Sozialleistungsträger einem Sozialleistungsbezieher unter Hinweis auf dessen Mitwirkungspflichten sowie den sozialhilferechtlichen Nachranggrundsatz aufgefordert, seinen Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung bei der Deutschen Rentenversicherung (DRV) weiter zu verfolgen und ihr entsprechende Nachweise hierüber vorzulegen. Als dies nicht geschah, kürzte die Stadt Neumünster dem Hilfebedürftigen die Regelleistungen kurzerhand um die Hälfte.

Rechtswidrig, entschied das Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht in zweiter Instanz unter Aufhebung der Vorentscheidung des Sozialgerichts Kiel.

Entgegen der Auffassung des SG Kiel lässt sich die Teilversagung nicht auf § 66 Abs. 1 SGB I stützen. Soweit der Hilfebedürftige im Rahmen seiner Rentenantragstellung nicht hinreichend gegenüber der DRV mitgewirkt haben sollte, würde dies lediglich die DRV ermächtigen, die Rentenleistungen zu versagen, nicht aber die Stadt Neumünster, die Leistungen der HzL teilweise einzustellen.

Soweit das SG Kiel darauf abgestellt hat, Gegenstand der Versagungsentscheidung sei nicht die Mitwirkungspflichtverletzung im Rentenverfahren, sondern die unterbliebene Einreichung von Nachweisen über Mitwirkungshandlungen gegenüber der DRV bei der Stadt Neumünster, trägt auch dies eine auf § 66 Abs. 1 SGB I gestützte Versagungsentscheidung nicht. Denn die Mitwirkungshandlungen gegenüber der DRV sind nicht im engeren Sinne leistungsrelevant für den Anspruch auf HzL des Hilfebedürftigen.

Zuletzt war die Mitwirkung im Verwaltungsverfahren bei der DRV auch nicht Voraussetzung für den Anspruch auf HzL. Zwar sind die HzL-Leistungen grundsätzlich nachrangig gegenüber einem Rentenanspruch, aber die Ablehnung vorrangiger Leistungen wie einer Erwerbsminderungsrente ist grundsätzlich nicht Voraussetzung für einen Leistungsanspruch auf HzL.

Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, Beschluss vom 06.04.2020, L 9 SO 48/20 B ER

Erstveröffentlichung in HEMPELS 08/2020

Siehe auch: Jobcenter muss nahtlosen Übergang in die Grundsicherung sicherstellen

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Ausländer: Anspruch auf ALG II nach 5 Jahren in Deutschland

(c) Kurt F. Domnik / pixelio.de

Arbeitsfähige arbeitslose Ausländer ohne Aufenthalts- oder Freizügigkeitsrecht haben in Deutschland keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld II (ALG II). Hiervon gibt es aber eine Ausnahme: Auch diese Ausländer können ALG II erhalten, wenn sie seit mindestens fünf Jahren ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet haben. Die Frist beginnt mit der Anmeldung bei der zuständigen Meldebehörde (§ 7 Abs. 1 Satz 4 und 5 SGB II). Der Aufenthalt muss ohne wesentliche Unterbrechungen über fünf Jahre bestehen und vom Ausländer nachgewiesen werden.

Grundsätzlich ist zum Nachweis diese Aufenthalts zwar eine fortwährende und überdies melderechtskonforme Anmeldung bei der zuständigen Meldebehörde das geeignetste Mittel, aber nicht das einzige. Denn das ist weder dem Wortlaut von § 7 Abs. 1 Satz 4 und 5 SGB II, der lediglich für den Fristbeginn auf eine Anmeldung bei der zuständigen Meldebehörde abstellt, noch der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 18/10211, S. 13 ff.) oder dem Sinn und Zweck der Vorschrift zu entnehmen. Es kann vielmehr ergänzend auf die allgemeinen Mittel der Beweisführung bzw. Glaubhaftmachung zurückgegriffen werden. So können neben Meldebescheinigungen etwa von Personen ohne festen Wohnsitz Nachweise über den Aufenthalt in Obdachlosenunterkünften, Klinikaufenthalten oder Aufenthalten bei Verwandten oder Bekannten vorgelegt werden. Weiter kommen dokumentierte Vorsprachen bei Behörden, Betreuern oder Hilfseinrichtungen als schriftliche Nachweise in Betracht. Der Aufenthaltsnachweis kann für Zeiten ohne melderechtskonforme Anmeldung zuletzt auch über Zeugen erbracht werden, die den Ausländer regelmäßig gesehen haben.

Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, Beschluss vom 09.12.2019, L 6 AS 152/19 B ER

Erstveröffentlichung in HEMPELS 07/2020

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Bürgerbeauftragte informiert: Zuschüsse für Studierende in akuten Notlagen

Seit gestern können Studierende, die infolge der Corona-Pandemie akut auf finanzielle Hilfe angewiesen sind, Unterstützung in Form eines nicht rückzahlbaren Zuschusses bei ihrem Studierendenwerk beantragen. „Die Überbrückungshilfe ist ein kleiner Schritt in die richtige Richtung und allerhöchste Zeit“, sagte die Bürgerbeauftragte für soziale Angelegenheiten, Samiah El Samadoni, dazu heute (Mittwoch) in Kiel. Studierende seien aktuell in besonderem Maße auf eine Unterstützung angewiesen, da ihnen die dringend benötigten Einkünfte z. B. aus Minijobs zurzeit schlicht fehlen.

Antragsberechtigt sind Studierende, die an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule in Deutschland immatrikuliert und nicht beurlaubt sind. Studierende an Verwaltungsfachhochschulen oder Bundeswehrhochschulen, im berufsbegleitenden Studium bzw. dualen Studium sowie Gasthörer*innen erhalten dagegen keine Zuschüsse. Die Überbrückungshilfe ist bislang nur für die Monate Juni, Juli und August 2020 vorgesehen und beträgt – abhängig vom nachzuweisenden Kontostand der Studierenden – zwischen 100,00 € und 500,00 € pro Monat. „Ich empfehle allen Studierenden, die einen Anspruch auf Zuschüsse haben können, separat und in jedem der drei Monate einen Antrag zu stellen“, so die Bürgerbeauftragte. Nach den rechtlichen Vorgaben müsse die Antragstellung für jeden Monat gesondert erfolgen, rückwirkende Anträge seien nicht möglich.
Um die Überbrückungshilfe zu erhalten, müssen Studierende allerdings zahlreiche Unterlagen und Nachweise einreichen: Sie haben neben verschiedenen Dokumenten u. a. eine chronologisch lückenlos nach Datum sortierte Darstellung der finanziellen Notsituation anhand des aktuellen Kontostandes und der Kontenbewegungen der letzten Monate einzureichen. Zusätzlich müssen Studierende eine Erklärung über ihre pandemiebedingte Notlage unter Angabe des Grundes abgeben und diesen mittels geeigneter Dokumente darlegen. „Geeignete Nachweise für eine Notlage können z. B. die Kündigung eines Minijobs, aber auch Selbsterklärungen zum Wegfall von Einnahmen aus einer Selbständigkeit oder zum Wegfall von Unterhaltszahlungen der Eltern sein“, erklärte El Samadoni. 2

Die Bürgerbeauftragte kritisierte den späten Zeitpunkt der Maßnahmen: „Vielen Studierenden fehlen schon seit März die finanziellen Mittel, um ihre Miete zu zahlen und den Lebensunterhalt zu bestreiten.“ Sie habe angesichts der geringen Dauer und Höhe der Überbrückungshilfe auch große Zweifel daran, dass die Maßnahmen ausreichend seien. „Wir müssen in unsere Zukunft investieren und Studienabbrüche wegen finanzieller Notlagen unbedingt verhindern“, mahnte El Samadoni.

Die Bürgerbeauftragte für soziale Angelegenheiten und ihr Team beraten zur Überbrückungshilfe und zu weiteren möglichen Sozialleistungen gerne telefonisch von Montag bis Freitag zwischen 9:00 und 15:00 Uhr unter 0431/988-1240.

Pressemitteilung Nr. 22 vom 17. Juni 2020


Es eilt nicht erst bei einer Räumungsklage

Die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit haben in einstweiligen Rechtsschutzverfahren unter anderem zu prüfen, ob die notwendige Eilbedürftigkeit für eine vorläufige Leistungsgewährung vorliegt. Wenn Jobcenter Leistungen für die Unterkunft gar nicht oder nicht in der tatsächlichen Höhe gewährten, haben viele Sozial- und Landessozialgerichte in der Vergangenheit die für einen erfolgreichen Eilantrag notwendige Eilbedürftigkeit pauschal davon abhängig gemacht, ob der Vermieter bereits eine Räumungsklage erhoben hatte. Andernfalls drohe keine Wohnungs- oder Obdachlosigkeit, die zu vermeiden der einzige Zweck unterkunftsichernder Leistungen sei.

Diese Rechtsprechung, die in erheblichem Umfange zu Räumungsklagen und folgender Obdachlosigkeit von Leistungsberechtigten geführt hat, hat das BVerfG bereits im Jahr 2017 für mit dem in Art. 19 Abs. 4 GG garantierten Recht auf einen effektiven gerichtlichen Rechtsschutz unvereinbar erklärt. Relevante Nachteile sind nämlich, so das Bundesverfassungsgericht, nicht nur Wohnungs- oder Obdachlosigkeit. Die Regelung zu den Kosten der Unterkunft in § 22 SGB II soll nicht nur die bloße Obdachlosigkeit verhindern, sondern darüber hinaus auch das Existenzminimum sichern, wozu es gehört, möglichst in der gewählten Wohnung zu bleiben. Daher muss bei der Prüfung des Anordnungsgrundes berücksichtigt werden, welche negativen Folgen finanzieller, sozialer, gesundheitlicher oder sonstiger Art ein Verlust gerade der konkreten Wohnung für den Leistungsberechtigten hätte.

BVerfG, Beschluss vom 01.08.2017, 1 BvR 1910/12

Erstveröffentlichung in HEMPELS 04/2020

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Corona-Krise: Wohnungsloser EU-Bürger hat Anspruch auf existenzsichernde Leistungen

Das Sozialgericht Düsseldorf hat einem wohnungslosen Portugiesen, der sich in Deutschland aufhält, vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie im Wege des sozialgerichtlichen Eilrechtsschutzes existenzsichernde Leistungen nach dem SGB II (ALG II) zugestanden.

Der Antragsteller hält sich seit 1994 in der Bundesrepublik Deutschland auf. Er beantragte Leistungen nach dem SGB II (Grundsicherung für Arbeitsuchende) beim Jobcenter Wuppertal. Das Jobcenter lehnte den Leistungsantrag ab, da sich der Antragsteller nur zum Zwecke der Arbeitsuche in Deutschland aufhalte. Ein Daueraufenthaltsrecht habe er nicht nachgewiesen, da unklar sei, ob er sich ununterbrochen in Deutschland aufgehalten habe. Der Antragsteller stellte am 27.03.2020 einen Antrag auf sozialgerichtlichen Eilrechtsschutz mit dem Ziel vorläufiger Leistungsgewährung.

Die 25. Kammer des Sozialgerichts Düsseldorf sprach dem Antragsteller vorläufige Leistungen in Höhe des Regelbedarfs zu. Unabhängig vom Vorliegen eines Daueraufenthaltsrechts müsse das Existenzminimum des Antragstellers in Deutschland gesichert werden. Dieser sei unstreitig hilfebedürftig. Hätte der Antragsteller keinen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II, so hätte er einen Leistungsanspruch nach dem SGB XII (Sozialhilfe). Das Jobcenter müsse zunächst als zuerst angegangener Träger die existenzsichernden Leistungen erbringen, zumal die Einschränkungen des öffentlichen Lebens die Situation von Wohnungslosen besonders erschweren. Dabei könne der Antragsteller wegen der COVID-19-Pandemielage nicht darauf verwiesen werden, in sein Heimatland zurückzureisen und dort Leistungen zu beantragen.

Quelle: Pressemitteilung des Sozialgericht Düsseldorf vom 16.04.2020

Volltext: Sozialgericht Düsseldorf, Beschluss vom 14.04.2020, S 25 AS 1118/20 ER


Die Bürgerbeauftragte: „Schutz von Kindern und Jugendlichen auch in Zeiten der Corona-Bekämpfung gewährleisten!“

Die Bürgerbeauftragte für soziale Angelegenheiten des Landes Schleswig-Holstein, Samiah El Samadoni, stieß in den letzten Tagen auf Verunsicherungen bei Bürger*innen, ob Hilfen nach dem SGB VIII (Kinder- und Jugendhilfe) auch in Zeiten der Corona-Bekämpfung beantragt und gewährt werden können. „Diese Hilfen können grundsätzlich weiterhin gewährt werden“, so El Samadoni am 9. April 2020.

Insbesondere stationäre Einrichtungen und ambulante sowie teilstationäre Angebote der Jugendhilfe gehören als notwendige Voraussetzung für die Gewährleistung des Kindeswohls nach dem Kinder- und Jugendhilferecht zu den kritischen Infrastrukturen im Sinne der derzeit gültigen Landesverordnung über Maßnahmen zur Bekämpfung der Ausbreitung des neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2 in Schleswig-Holstein (§ 10 Abs. 1 Nr. 12 SARS-Cov-2-BekämpfVO in der Fassung vom 8. April 2020). Diese kritischen Infrastrukturen werden auch während der Corona-Bekämpfung aufrechterhalten. Dennoch gilt nach Angaben des Landesjugendamtes im Einzelfall unter Beachtung des konkreten Hilfebedarfes und einer Gefahrenanalyse unter Berücksichtigung des Kinderschutzes zu entscheiden, ob und wie eine Hilfe gewährt werden soll. „Ich appelliere hier an die Jugendämter, auch unter den momentan erschwerten Bedingungen über Anträge und Hilfen weiterhin zügig zu entscheiden und insbesondere auch für die Menschen erreichbar und ansprechbar zu bleiben, damit im Hinblick auf das Kindeswohl präventiv gehandelt werden kann“, führte die Bürgerbeauftragte für soziale Angelegenheiten weiter aus. Den Rest des Beitrags lesen »


Weisungen der Bundesagentur für Arbeit zum „Sozialschutz-Paket“ sind veröffentlicht

Soweit hier ersichtlich heute hat die Bundesagentur für Arbeit ihre Weisungen vom 01.04.2020 zum neuen § 67 SGB II (Sozialschutz-Paket aufgrund der Corona-Pandemie) veröffentlicht. Zudem hat das Land Schleswig-Holstein eine Tabelle mit Antworten auf häufige Fragen zum Programm des Landes zur Corona-Soforthilfe erstelle. Beide Dokumente habe ich hier hinterlegt:

Weisungen zum Gesetz für den erleichterten Zugang zu sozialer Sicherung und zum Einsatz und zur Absicherung sozialer Dienstleister aufgrund der Coronavirus SARS-CoV-2 (Sozialschutz-Paket) sowie ergänzender Regelungen

Soforthilfeprogramm des Landes Schleswig-Holstein mit finanzieller Unterstützung des Bundes (Soforthilfe-Corona) Antworten auf häufig gestellte Fragen Stand: 02.04.2020

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


ALG II „ohne Vermögensberücksichtigung“ während der Corona-Pandemie?

Vielerorts war und ist zu lesen und im Rundfunk auch heute noch zu hören (Deutschlandfunk, Marktplatz Corona – Hilfe für Kleinunternehmer), während der Dauer der Corona-Pandemie könnten wirtschaftlich von der Pandemie betroffene Menschen ALG II „ohne Berücksichtigung ihres Vermögens“ beantragen. Die Lektüre des § 67 SGB II n.F. hat in der Folge bei vielen potentiellen Antragstellern zu erheblicher Verunsicherung und Nachfragen – auch in der anwaltlichen Beratung – geführt.

Was regelt das Gesetz – und was nicht?

Für Bewilligungszeiträume, die in der Zeit vom 01.03.2020 bis zum 30.06.2020 beginnen, gilt nach § 67 Abs. 2 SGB II n.F.:

„Abweichend von den §§ 9, 12 und 19 Absatz 3 wird Vermögen für die Dauer von sechs Monaten nicht berücksichtigt. Satz 1 gilt nicht, wenn das Vermögen erheblich ist; es wird vermutet, dass kein erhebliches Vermögen vorhanden ist, wenn die Antragstellerin oder der Antragsteller dies im Antrag erklärt.“

Die Bestimmung des Zeitraumes der abweichenden Vermögensberücksichtigung nach Satz 1 ist unproblematisch. Problematischer ist Satz 2. Nach diesem findet eine Vermögensberücksichtigung nämlich doch statt, wenn das Vermögen „erheblich“ ist. Wann Vermögen „erheblich“ im Sinne von § 67 Abs. 2 Satz 2 SGB II n.F. ist, hat der Gesetzgeber weder geregelt noch ergibt sich dies aus der amtlichen Begründung (der dortige Hinweise, es solle die nach dem SGB II grundsätzlich vorzunehmende Prüfung, ob „erhebliches verwertbares Vermögen“ vorliegt, in der Zeit der Pandemie nicht vorgenommen werden, deutet noch am ehesten darauf hin, dass der Gesetzgeber von „erheblichem“ Vermögen bereits bei Barvermögen oberhalb der Freigrenzen nach § 12 Abs. 2 SGB II ausgegangen ist).

„Erhebliches Vermögen“ bei über 60.000 € und über 30.000 € je Mitglied der BG

Die Bundesagentur für Arbeit hat jetzt – wohl in Anlehnung an die Definition von „erheblichem Vermögen“ im Wohngeldrecht (vgl. § 21 Nr. 3 WoGG i.V.m. Nr. 21.37 der WoGG VwV) – die Antwort darauf gegeben, wann „erhebliches Vermögen“ vorliegt (vgl. Vereinfachter Antrag für Bewilligungszeiträume mit Beginn vom 01.03.2020 bis zum 30.06.2020):

„Erheblich ist sofort für den Lebensunterhalt verwertbares Vermögen der Antragstellerin/des Antragstellers über 60.000 Euro sowie über 30.000 Euro für jede weitere Person in der Bedarfsgemeinschaft. Beispiele: Girokonten, Sparbücher, Schmuck, Aktien, Lebensversicherungen.“

Was bedeutet die „Vermutungsregelung“?

Welche rechtliche Bedeutung hat nun aber der Satz, „es wird vermutet, dass kein erhebliches Vermögen vorhanden ist, wenn die Antragstellerin oder der Antragsteller dies im Antrag erklärt.“?

Klar ist, dass die Angaben zum Vermögen im „vereinfachten Antrag“ wahrheitsgemäß erfolgen müssen. Falsche Angaben zum Vermögen führen bei Kenntniserlangung durch das Jobcenter nicht nur zu einer Rückforderung bewilligter Leistungen, sondern mit hoher Wahrscheinlichkeit auch zu einer Strafanzeige wegen Sozialleistungsbetrugs.

Nimmt man die Ausführungen des Gesetzgebers ernst, so soll sich die Vermögensprüfung allerdings auf die „Eigenerklärung der Antragstellerinnen und Antragsteller, nicht über erhebliche Vermögenswerte zu verfügen“, beschränken. Das allerdings wäre keine „beschränkte“ Vermögensprüfung, sondern ein Verzicht auf jedwede Prüfung.

Auf eine solche Auslegung durch Verwaltung und Gerichte sollte jedoch kein Antragsteller bauen. Denn eine gesetzliche Vermutung (die das SGB II auch an anderer Stelle kennt, etwa in § 7 Abs. 3a SGB II), ist grundsätzlich widerlegbar. Dies gilt genauso für die gesetzliche Vermutung in § 67 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 SGB II, dass die Angabe des Antragstellers, es läge kein erhebliches Vermögen vor, zutreffend ist. Grundsätzlich löst die entsprechende Angabe eines Antragstellers – auch im vereinfachten Antragsverfahren – Amtsermittlungspflichten für die Jobcenter aus, so dass im Ergebnis eine Prüfung  – mag diese auch auf bloße Anhaltspunkte der Unrichtigkeit der Angaben beschränkt bleiben – durch das Jobcenter zu erfolgen hat und auch erfolgen wird (so auch Deutscher Sozialgerichtstag e.V., Wortmeldung an das Bundesministerium für Arbeit und Soziales vom 25.03.2020 zum neuen § 67 Abs. 3 SGB II.)

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Änderungen im Zivilrecht zur Abmilderung der Folgen der Covid-19-Pandemie

Der Bundestag hat am 25.03.2020 einstimmig einen Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD zur Abmilderung der Folgen der Covid-19- Pandemie im Zivil-, Insolvenz- und Strafverfahrensrecht (BT-Drs. 19/18110) angenommen.

Im Bereich des Zivilrechts sind im Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch (EG BGB) zeitlich befristet bis zum 30.06.2020 in Artikel 240 BGB-EG besondere Regelungen eingeführt werden, die Schuldnern, die wegen der Covid-19-Pandemie ihre vertraglichen Pflichten nicht erfüllen können, die Möglichkeit einräumen, die Leistung einstweilen zu verweigern. Auf diese Weise soll für Verbraucher und Kleinstunternehmen gewährleistet werden, dass sie insbesondere von Leistungen der Grundversorgung wie Strom, Gas und Telekommunikation nicht abgeschnitten werden. Für Mietverhältnisse über Grundstücke oder über Räume ist das Recht der Vermieter zur Kündigung von Mietverhältnissen eingeschränkt worden. Bei Verbraucherdarlehensverträgen ist eine gesetzliche Stundungsregelung und eine Vertragsanpassung nach Ablauf der Stundungsfrist eingeführt worden. Sollte der Zeitraum bis Juni 2020 nicht ausreichen, hat die Bundesregierung die Möglichkeit, die vorgesehenen Befristungen im Weg einer Verordnung zu verlängern.

240 BGB-EG n.F. lautet wie folgt: Den Rest des Beitrags lesen »


Grundsicherungsträger muss genau über die Art und Weise der Suchbemühungen nach kostenangemessenem Wohnraum informieren

Sozialgericht Kiel

Liegt die Miete von Leistungsberechtigten nach dem SGB II (ALG II bzw. Hartz IV) oder SGB XII (Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung bzw. Hilfe zum Lebensunterhalt) mehr als 10 % über der jeweils maßgeblichen sog. Mietobergrenze, fordern Jobcenter Kiel bzw. Landeshauptstadt Kiel ihre Leistungsberechtigten in Textbausteinschreiben dazu auf, ihre Mietkosten auf die jeweilige Mietobergrenze zu senken. Die 26. Kammer am SG Kiel hat nun mit Beschluss vom 26.03.2020 zum Aktenzeichen S 26 SO 8/20 ER entschieden, dass die Landeshauptstadt Kiel einen Leistungsberechtigten nicht hinreichend über die Art und Weise der Nachweiserbringung für seine Suchbemühungen um kostenangemessenen Wohnraum informiert hat. Gleichzeitig hat das Gericht den Leistungsberechtigten zur Dokumentation seiner Suchbemühungen wie folgt verpflichtet:

„a. Zum Zwecke der Dokumentation dieser Bemühungen hat der Antragsteller eine tabellarische Aufstellung über die Herkunft des Angebotes, die Lage der Wohnung, die Größe der Wohnung, die Kaltmiete, die Nebenkosten, die Heizkosten und den Weg der Kontaktaufnahme zu führen.

b. Soweit der Kontakt mit dem Vermieter/ der Wohnungsverwaltungsgesellschaft schriftlich (per Post oder elektronisch) geführt wurde, hat der Antragsteller den Schriftwechsel aufzubewahren. Soweit die Kontaktaufnahme per Telefon erfolgt, hat der Antragsteller die Telefonnummer, den Namen des Ansprechpartners, den Zeitpunkt des Telefonats und die Länge des Telefonates in der Tabelle zu notieren und durch entsprechende Verbindungsnachweise die Möglichkeit des Nachweises zu schaffen.

c. Außerdem hat der Antragsteller schriftlich zu dokumentieren, wann er welche Medien zum Zwecke der Wohnungssuche eingesehen hat, auch wenn kein angemessener Wohnraum verfügbar war.“

Da die Mietsenkungsaufforderungen sowohl der Landeshauptstadt Kiel als auch des Jobcenters Kiel dieser Informationen bislang nicht enthalten, sind nach dieser Entscheidung alle bisherigen Mietsenkungen rechtswidrig.

Nachweiserbringung über Einzelverbindungsnachweise?

Deutlich zu kritisieren ist die Forderung des Gerichts nach einer Nachweisführung über Einzelverbindungsnachweise. Viele gerade ältere Leistungsberechtigte nach dem SGB XII werden damit erhebliche Probleme haben, wenn sie die Einzelverbindungsnachweise nicht noch auf dem Postwege erhalten. Da selbst in diesem Fall regelmäßig die Endziffern unkenntlich gemacht sind, wird diese Anforderung des Gerichts zu unnötiger Rechtsunsicherheit und damit erheblicher Verunsicherung gerade bei älteren Leistungsberechtigten führen.

Corona-Pandemie „nicht zu beachten“?

Die vom Gericht in eigenwillig apodiktischer Entschlossenheit zu Papier gebrachte Feststellung, die aktuelle Corona-Pandemie sei „bei der Entscheidung nicht zu beachten“, denn durch die aktuelle Lage werde die Suche „jedenfalls nicht grundsätzlich unmöglich“, erstaunt. So kritisiert etwa der Deutsche Sozialgerichtstag e.V. in seiner Wortmeldung an das Bundesministerium für Arbeit und Soziales vom 25.03.2020 zum neuen § 67 Abs. 3 SGB II, dass für den Zeitraum der Corona-Pandemie die Angemessenheitsprüfung nicht für alle Leistungsberechtigten ausgesetzt wird, weil „auch Leistungsberechtigte, die sich in der Vergangenheit nicht gegen die Kürzung der Wohnkosten gewandt haben, (…) in der aktuellen Situation keine neue Wohnung suchen und beziehen [können]. Auch der Gedanke eines früheren Fehlverhaltens (Verweigerung der Kostensenkung trotz bestandskräftige Kostensenkungsaufforderung) [könne] die Regelung nicht rechtfertigen (vgl. BVerfG, Urteil vom 5. November 2019 – 1 BvL 7/16 –, Rn. 131).“ Einmal abgesehen davon, dass eine Kostensenkungsaufforderung nicht „bestandskräftig“ werden kann, weil es sich bei einer solchen nicht um einen Verwaltungsakt handelt (BSG, Urteil vom 15.06.2016, B 4 AS 36/15 R), dürfte die empirische Einschätzung, dass die Anmietung von Wohnraum in Zeiten, in denen „Kontakte zu anderen Personen auf ein absolut notwendiges Minimum zu reduzieren und, wo immer möglich, ein Mindestabstand von mindestens 1,5 m einzuhalten“ ist (Allgemeinverfügung Kiel vom 23.03.2020), praktisch unmöglich ist, zutreffend sein.

Umzug im Sozialleistungsbezug während der Corona-Pandemie?

Vom Gericht nicht geprüft wurde zudem, ob und gegebenenfalls unter welchen Bedingungen während der Corona-Pandemie ein Umzug im Sozialleistungsbezug rechtlich überhaupt möglich ist. Grundsätzlich verlangen die Grundsicherungsträger einen Umzug in Eigenregie, also ohne ein gewerbliches Umzugsunternehmen. Private Umzüge dürfen in Kiel aber nur noch stattfinden, „wenn ausschließlich Personen aus demselben Haushalt (auch Wohngemeinschaft) mithelfen. Ansonsten dürfen private Umzüge nur stattfinden, wenn zwingend eine mietrechtliche Pflicht zur Räumung besteht (zum Beispiel wenn das Mietverhältnis am 31. März 2020 endet). Diese Pflicht ist im Einzelfall nachzuweisen. Alle anderen bis zum 19. April 2020 nicht zwingend notwendigen Umzüge müssen verschoben werden“ (Kiel.de). Da die Pflicht zur Mietsenkung im Sozialleistungsbezug kein anerkannten Umzugsgrund (vorläufig) bis zum 19.04.2020 ist, müssten Sozialleistungsträger in der aktuellen Pandemie-Situation vor Mietvertragsschluss die Übernahme der Kosten für eine gewerbliches Umzugsunternehmen zusichern.

Anordnungszeitraum bis 15. April 2020?

Ungewöhnlich und wenig praxistauglich ist zuletzt der vom Gericht festgelegte Anordnungszeitraum bis 15.04.2020. In hiesiger Praxis ist kein Beschluss eines Sozialgerichts bekannt, in dem ein Anordnungszeitraum für den Teil eines Monats beschlossen wurde. Die Landeshauptstadt Kiel ist dem Beschluss des SG Kiel insoweit auch nicht gefolgt und hat dem Antragsteller – vernünftigerweise – Leistungen zunächst bis 30.04.2020 bewilligt.

Vgl. zu dieser Entscheidung auch die teilweise kritische Besprechung von Lehmann in NZS 2020, Seite 436, SG Kiel: Ist ein Umzug während der Corona-Pandemie möglich und zumutbar? Entscheidungsbesprechung zum Beschluss v. 26.03.2020 – S 26 SO 8/20 ER, abrufbar hier: NZS 2020, 436

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Änderungen im SGB II aufgrund der COVID-19-Pandemie

Der Bundesrat hat am 27. März 2020 beschlossen, dem vom Deutschen Bundestag am 25. März 2020 verabschiedeten „Gesetz für den erleichterten Zugang zu sozialer Sicherung und zum Einsatz und zur Absicherung sozialer Dienstleister aufgrund des Coronavirus SARS-CoV-2 (Sozialschutz-Paket)“, BT-Drucks. 19/18107 gemäß Artikel 104a Absatz 4 des Grundgesetzes zuzustimmen. Der neue § 67 SGB II, der am Tag nach seiner Verkündung in Kraft treten wird, lautet wie folgt:

„§ 67 SGB II (Vereinfachtes Verfahren für den Zugang zu sozialer Sicherung aufgrund des Coronavirus SARS-CoV-2; Verordnungsermächtigung)

(1) Leistungen für Bewilligungszeiträume, die in der Zeit vom 1. März 2020 bis zum 30. Juni 2020 beginnen, werden nach Maßgabe der Absätze 2 bis 4 erbracht.

(2) Abweichend von den §§ 9, 12 und 19 Absatz 3 wird Vermögen für die Dauer von sechs Monaten nicht berücksichtigt. Satz 1 gilt nicht, wenn das Vermögen erheblich ist; es wird vermutet, dass kein erhebliches Vermögen vorhanden ist, wenn die Antragstellerin oder der Antragsteller dies im Antrag erklärt.

(3) § 22 Absatz 1 ist mit der Maßgabe anzuwenden, dass die tatsächlichen Aufwendungen für Unterkunft und Heizung für die Dauer von sechs Monaten als angemessen gelten. Nach Ablauf des Zeitraums nach Satz 1 ist § 22 Absatz 1 Satz 3 mit der Maßgabe anzuwenden, dass der Zeitraum nach Satz 1 nicht auf die in § 22 Absatz 1 Satz 3 genannte Frist anzurechnen ist. Satz 1 gilt nicht in den Fällen, in denen im vorangegangenen Bewilligungszeitraum die angemessenen und nicht die tatsächlichen Aufwendungen als Bedarf anerkannt wurden.

(4) Sofern über die Leistungen nach § 41a Absatz 1 Satz 1 vorläufig zu entscheiden ist, ist über den Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts abweichend von § 41 Absatz 3 Satz 1 und 2 für sechs Monate zu entscheiden. In den Fällen des Satzes 1 entscheiden die Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende abweichend von § 41a Absatz 3 nur auf Antrag abschließend über den monatlichen Leistungsanspruch.

(5) Für Leistungen nach diesem Buch, deren Bewilligungszeitraum in der Zeit vom 31. März 2020 bis vor dem 31. August 2020 endet, ist für deren Weiterbewilligung abweichend von § 37 kein erneuter Antrag erforderlich. Der zuletzt gestellte Antrag gilt insoweit einmalig für einen weiteren Bewilligungszeitraum fort. Die Leistungen werden unter Annahme unveränderter Verhältnisse für zwölf Monate weiterbewilligt. Soweit bereits die vorausgegangene Bewilligung nach § 41a vorläufig erfolgte, ergeht abweichend von Satz 3 auch die Weiterbewilligungsentscheidung nach § 41a aus demselben Grund für sechs Monate vorläufig. § 60 des Ersten Buches sowie die §§ 45, 48 und 50 des Zehnten Buches bleiben unberührt.

(6) Die Bundesregierung wird ermächtigt, durch Rechtsverordnung ohne Zustimmung des Bundesrates den in Absatz 1 genannten Zeitraum längstens bis zum 31. Dezember 2020 zu verlängern.“

Amtliche Begründung: Den Rest des Beitrags lesen »


Telefonnetz überlastet – Anrufe bei Arbeitsagenturen und Jobcentern auf Notfälle beschränken

Bundesagentur für Arbeit | 17.03.2020 | Presseinfo Nr. 12
Aufgrund des hohen Anrufaufkommens sind die Arbeitsagenturen und Jobcenter derzeit telefonisch nur eingeschränkt erreichbar. Das Telefonnetz unseres Providers ist derzeit überlastet. Wir bitten darum, Anrufe auf Notfälle zu beschränken.
  • Für alle Termine gilt: Kundinnen und Kunden müssen den Termin NICHT absagen. Es gibt keine Nachteile. Es gibt keine Rechtsfolgen und Sanktionen.
  • Fristen in Leistungsfragen werden vorerst ausgesetzt. Die Kundinnen und Kunden erhalten rechtzeitig eine Nachricht, wenn sich diese Regelungen ändern.
  • Die Arbeitsagenturen und Jobcenter schalten derzeit auch lokale Rufnummern. Diese werden örtlich bekannt gemacht.

Das Anrufaufkommen ist in den letzten Tagen auf das zehnfache des üblichen Niveaus gestiegen. Durch die vielen Anrufe ist das Telefonnetz unseres Providers überlastet.


Sonderregelungen für Gerichte und Staatsanwaltschaften für die Dauer der Pandemie des Coronavirus (SARS-CoV-2)

Das Ministerium für Justiz, Europa, Verbraucherschutz und Gleichstellung des Landes Schleswig-Holstein hat zur Eindämmung der Corona-Pandemie Regelungen zur Beschränkung des Zugangs zu Gerichten und Staatsanwaltschaften erlassen. Für Rechtsuchende, die im Sozialrecht Rechtsschutz suchen, sind vor allem Nachfolgende Beschränkungen relevant:

1. Beratungshilfeanträge nur noch schriftlich

Beratungshilfe wird im Regelfall von den Amtsgerichten durch Ausstellung eines sog. Berechtigungsscheins gewährt, § 6 Abs. 1 BerHG. Hierzu ist in Kiel unter den Telefonnummern 604 – 2001 oder 604 – 2005 vorab ein Termin bei einem Rechtspfleger am Amtsgericht Kiel zu vereinbaren.

Rechtssuchende, die einen Berechtigungsschein beantragen wollen, werden zukünftig bis auf Weiteres auf die schriftliche Antragstellung verwiesen. Das schriftliche Verfahren bis zur Ausstellung eines Berechtigungsscheins dürfte absehbar länger dauern als die persönliche Antragstellung, da insbesondere direkt Nachfragen nicht mehr möglich sind. Es ist damit zu rechnen, dass hierdurch in noch größerem Maße als ohnehin schon etwa Widerspruchsfristen verstreichen werden, weil es von der Entscheidung, Widerspruch einlegen zu wollen, der Vereinbarung eines Termins am Amtsgericht Kiel, der Abgabe der Unterlagen beim Gericht, der Beantwortung etwaiger Nachfragen des Gerichts, der postalischen Übersendung des Berechtigungsscheins sowie der Vereinbarung eines Termins bei einem Rechtsanwalt länger als einen Monat dauern wird.

In Beratungshilfeangelegenheiten, in denen mit einer gewissen Sicherheit Beratungshilfe gewährt werden dürfte (etwa für Widerspruchsverfahren, vgl. grundlegend BVerfG 11.5.2009 – 1 BvR 1517/08; weiter Nachweise hier unter 3.3.3), sollte in der Zeit der Geltung des Erlasses der Weg über die sog. nachträgliche Beratungshilfe nach § 6 Abs. 2 BerHG gewählt werden und sich Rechtsuchende direkt an einen Anwalt ihrer Wahl wenden.

2. Fragebogen

Vor dem Zugang zu Gerichten und Staatsanwaltschaften ist zukünftig dieser Fragebogen auszufüllen.

3. Zutrittsverbot für bestimmte Personengruppen

Personen, die keine Justizbediensteten sind (einschließlich Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte sowie anderen externen Organen der Rechtspflege), ist der Zutritt zu den Gerichten und Staatsanwaltschaften zu untersagen, wenn sie innerhalb der letzten 14 Tage

a) in einem internationalen Risikogebiet oder einem besonders betroffenen Gebiet in Deutschland entsprechend der Festlegung durch das Robert Koch-Institut (RKI) (tagesaktuell abrufbar unter: https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuarti-ges_Coronavirus/Risikogebiete.html) waren,

b) in Österreich, der Schweiz oder der französischen Alpenregion waren, oder

c) Kontakt zu einer am Coronavirus erkrankten Person oder zu jemandem hatten, bei dem der Verdacht auf eine Coronavirus-Erkrankung besteht.

Gleiches gilt, soweit diese Personen unspezifische Allgemeinsymptome oder Atemwegsprobleme – gleich welcher Schwere oder Ausprägung – aufweisen und in den letzten vierzehn Tagen vor Erkrankungsbeginn eine der unter a) bis c) genannten Fallkonstellationen vorlag.

Soweit es sich um Personen, die zu einem Termin geladen wurden, oder deren Vertreterin oder Vertreter handelt, sind die für die Ausrichtung des Termins Verantwortlichen über die Zutrittsuntersagung unverzüglich zu informieren.

4. Nachtrag 21.04.2020: Mund-Nasen-Bedeckung erforderlich

Ab Mittwoch, den 22.042020 ist für alle externen Nutzer, zu denen auch die Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte gehören, die Nutzung einer Mund-Nasen-Bedeckung in den Räumen des Amtsgerichts Kiel grundsätzlich erforderlich ist. Dies gilt im Übrigen auch für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Gerichtes, sofern diese sich auf öffentlich zugänglichen Flächen des Gerichtes aufhalten. Externe Nutzer sollen eigenen eigenen Mundschutz mit bringen. Ein medizinischer Mundschutz wird nicht verlangt, ausreichend sind auch etwa selbstgenähte Mund-Nasen-Bedeckungen. Für Notfälle hält das Amtsgericht Kiel Einmal-Mund-Nasen-Bedeckungen vor.

Anträge auf Bewilligung von Beratungshilfe sind bis auf weiteres weiterhin schriftlich einzureichen. Anträge können unter https://www.schleswig-holstein.de/DE/Justiz/AGKIEL/05_Service/_documents/05_9_Formulare/formulare.html heruntergeladen und ausgedruckt werden. Auf Nachfrage werden Anträge auf dem Postweg übersandt. Termine werden nur im Einzelfall vergeben.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Sozialamt muss nahtlosen Übergang in den ALG II-Bezug sicherstellen

Im Januar 2018 hatte ich an dieser Stelle darüber berichtet, dass Jobcenter bei Zweifeln an der Erwerbsfähigkeit ihrer Kunden die Bewilligung von ALG II nicht einfach ablehnen und diese auf Leistungen nach dem SGB XII (Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsunfähigkeit, Hilfe zum Lebensunterhalt) verweisen dürfen, sondern so lange weiter ALG II gewähren müssen, bis der gegebenenfalls zuständige Leistungsträger die Leistungsgewährung tatsächlich aufgenommen hat. Denn kein Hilfebedürftiger darf allein wegen ungeklärter Zuständigkeitsfragen ohne existenzsichernde Leistungen verbleiben.

Das Sozialgericht Kiel hat die Verpflichtung zur nahtlosen Leistungserbringung nun auch für den umgekehrten Fall bestätigt: Hält ein SGB XII-Sozialleistungsträger (hier die Stadt Kiel) einen Leistungsberechtigten für erwerbsfähig, darf er diesem nicht einfach die SGB XII-Leistungen verweigern, sondern muss diese so lange weitergewähren, bis das gegebenenfalls zuständige Jobcenter die ALG II-Zahlungen tatsächlich aufnimmt. Dabei trifft die Verpflichtung zur Einleitung der Feststellung der Erwerbsminderung durch den Rentenversicherungsträger insbesondere auch nicht das Jobcenter, sondern gemäß § 45 SGB XII den SGB XII-Träger. Etwas anderes folgt auch nicht aus § 44a Abs. 1 Satz 7 SGB II, da diese Regelung nicht den Fall betrifft, in dem ein Hilfebedürftiger bereits Leistungen nach dem SGB XII erhält. Zuletzt weist das Sozialgericht darauf hin, dass für die Feststellung der Erwerbsfähigkeit auch nicht zwingend ein Gutachten des Rentenversicherungsträgers einzuholen ist, wenn kein Widerspruchsberechtigter nach § 44a Abs. 1 Satz 1 SGB II den Feststellungen des medizinischen Dienstes der Bundesagentur für Arbeit widerspricht.

SG Kiel, Beschluss vom 16.10.2019, S 26 SO 23/19 ER (rechtskräftig)

Erstveröffentlichung in HEMPELS 02/2020

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Wohngeld ist im Zuflussmonat auf ALG II anzurechnen

Bundessozialgericht in Kassel

Grundsätzlich gilt im ALG II-Bezug: Alle Einkünfte sind in dem Monat anzurechnen, in dem sie zufließen – also im Regelfall auf dem Konto des Leistungsempfängers eingehen. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz gilt für den Kinderzuschlag: Der Kinderzuschlag soll Hilfebedürftigkeit nach dem SGB II vermeiden und dies kann er aufgrund des Monatsprinzips im SGB II nur, wenn er in dem jeweiligen Monat, für den er bestimmt ist, zufließt und auch in diesem berücksichtigt wird (BSG, Urteil vom 25.10.2017, B 14 AS 35/16 R).

In dem vom Bundessozialgericht (BSG) entschiedenen Fall hatte die Familienkasse einer Familie, die von Erwerbseinkommen, Kindergeld und Wohngeld lebte, für den Monat April 2016 Kinderzuschlag verwehrt, weil das im April für März nachgezahlte Wohngeld in Höhe von 180,00 € nicht im Monat April (sondern im Monat März) zu berücksichtigen sei und deswegen auch bei Gewährung von Kinderzuschlag von hier 700,00 € im Monat April 2016 Hilfebedürftigkeit nach dem SGB II nicht vermieden werden könne (vgl. § 6a Abs. 1 Nr. 4 BKGG).

Rechtswidrig, entschied das BSG: Für nachgezahltes Wohngeld ist im Unterschied zu nachgezahltem Kinderzuschlag keine Ausnahme von der Berücksichtigung im Zuflussmonat zu machen, weil es an einer entsprechenden gesetzlichen Grundlage hierfür fehlt und auch systematische Gründe nicht für eine Ausnahme sprechen.

BSG, Urteil vom 30.10.2019, B 4 KG 1/19 R

Erstveröffentlichung in HEMPELS 01/2020

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Beratungshilfe: Erledigungsgebühr für einen erfolgreichen Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X!

Amtsgericht Kiel (Photo: Helge Hildebrandt)

Das LG Kiel hat mit Beschluss vom 24.01.2020 zum Aktenzeichen 5 T 53/19 die Entscheidung des AG Kiel bestätigt, wonach für ein erfolgreiches Überprüfungsverfahren nach § 44 SGB X die Erledigungsgebühr nach Nr. 1002 VV RVG i.V.m. Nr. 2508 (1) VV RVG zur Entstehung gelangt.

Zum Thema siehe auch schon: Beratungshilfe: Erledigungsgebühr für einen erfolgreichen Überprüfungsantrag?

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Kindergeldrückforderung: Zweifel an der Zuständigkeit der Familienkasse NRW-Nord zur zentralen Entscheidung über Stundungs- und Erlassanträge

(c) Gerd Altmann / pixelio.de

Derzeit sind unter den Aktenzeichen III R 36/19 und III R 21/18 zwei Verfahren beim Bundesfinanzhof (BFH) zu der Frage anhängig, ob dem Vorstand der Bundesagentur für Arbeit trotz der Konzentrationsermächtigung des § 5 Abs. 1 Nr. 11 Satz 4 Finanzverwaltungsgesetz (FVG) die Befugnis fehlte, die Zuständigkeit für die Bearbeitung von Rechtsbehelfen gegen Entscheidungen des sog. Regionalen Inkasso Services im Bereich des steuerlichen Kindergeldes bei der Familienkasse NRW-Nord zu zentralisieren.

Das FG Düsseldorf (Urteil vom 14.05.2019, 10 K 3317/18) hatte zuvor entschieden, dass die für den Wohnort zuständige Familienkasse, welche Kindergeld zurückgefordert hat, auch für die Entscheidung über den Antrag auf Stundung der Kindergeldrückforderung zuständig sei. Ein Bescheid, mit dem der Inkasso-Service der Bundesagentur für Arbeit (Agentur für Arbeit Recklinghausen) den Antrag auf Stundung des Rückzahlungsbetrages ablehnt, sei bereits wegen sachlicher Unzuständig rechtswidrig.

Auch das Sächsische Finanzgericht (Urteil vom 07.03.2018, 8 K 1527/17 (Kg)) entschied, dass die isolierte Übertragung von Entscheidungen im Erhebungsverfahren auf eine Familienkasse, die den Kindergelderstattungsanspruch nicht festgesetzt hat, unzulässig sei.

Für Betroffene, welche sich Kindergeldrückforderungen ausgesetzt sehen, bedeutet die aktuelle Rechtsprechungslage:

(1) Für Klagen gegen Widerspruchsentscheidungen des Regionalen Inkasso Services der Familienkasse NRW-Nord, mit denen eine Stundung oder der Erlass einer Kindergeldrückforderung abgewiesen wurde, wird derzeit im Regelfall Prozesskostenhilfe für ein gerichtliches Verfahren bewilligt.

(2) Das FG Kiel regt die Ruhendstellung der Verfahren bis zu einer Entscheidung des BFH in den Verfahren III R 36/19 und III R 21/18 an, was vernünftig ist.

(3) FG, die von einer Unzuständigkeit der Familienkasse NRW-Nord ausgehen, können die Ablehnungsentscheidungen des Inkasso Service der Familienkasse NRW-Nord lediglich aufheben. Denn da der ablehnende Bescheid nach dieser Rechtsauffassung von einer unzuständigen Behörde erlassen wurde, können diese FG die Familienkasse NRW-Nord weder gemäß § 101 Satz 1 FGO verpflichten, die von den jeweiligen Klägern begehrte Stundung oder den begehrten Erlass vorzunehmen, noch gemäß § 101 Satz 2 FGO die Verpflichtung der Familienkasse NRW-Nord aussprechen, den jeweiligen Stundungs- oder Erlassantrag unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden. Das bedeutet für Kläger, dass über ihr eigentliches Begehren – Stundung oder Erlass einer Kindergeldrückforderung – von diesen Gerichten aktuell nicht entschieden wird.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Hartz IV: Doppelmieten können Unterkunftskosten sein

(c) Gerd Altmann / pixelio.de

In der Rechtsprechung ist seit langem anerkannt, dass Jobcenter bei einem Umzug anfallende doppelte Mietaufwendungen übernehmen müssen. Solche Überschneidungskosten können etwa entstehen, wenn ein Umzug – etwa zur Senkung der Unterkunftskosten – erforderlich ist, die neue Wohnung in zwei Monaten angemietet werden muss, für die bisherige Wohnung aber die gesetzliche Kündigungsfrist von 3 Monaten einzuhalten ist. Höchstrichterlich noch nicht geklärt war, ob es sich bei derartigen Doppelmieten um Kosten der Unterkunft nach § 22 Abs. 1 SGB II oder um Umzugskosten nach § 22 Abs. 6 SGB II handelt. Diese Frage ist deswegen von Relevanz, weil Umzugskosten nur nach vorheriger Zusicherung durch das bis zum Umzug zuständige Jobcenter anerkannt werden können, also ein Antrag auf Zusicherung beim zuständigen Jobcenter gestellt werden muss, bevor die Kosten – in der Regel durch Vertragsschluss – ausgelöst werden. Zudem kann die Qualifizierung als Unterkunftskosten bzw. Umzugskosten unterschiedliche Zuständigkeiten zur Folge haben: So ist für die Kosten der neuen Unterkunft an einen anderen Ort das Jobcenter zuständig, in dessen Zuständigkeitsbereich die neue Wohnung gelegen ist, während für Umzugskosten das Jobcenter am bisherigen Wohnort zuständig ist.

Das Bundessozialgericht hat nun entschieden, dass Doppelmieten als Unterkunftskosten angesehen werden können. Denn die Regelungen nach § 22 Abs. 1 und Abs. 6 SGB II stünden nicht in einem „Entweder-Oder-Verhältnis“. Dies dürfte so zu verstehen sein, dass Doppelmieten sowohl als Mietkosten als auch als Umzugskosten geltend gemacht werden können. Für Betroffene bedeutet dieses Urteil, dass doppelte Mietaufwendungen für eine neue Wohnung auch beantragt werden können, wenn zu deren Übernahme nicht vor Abschluss des neuen Mietvertrages die Zusicherung beantragt worden ist.

BSG, Urteil vom 30.10.2019, B 14 AS 2/19 R

Erstveröffentlichung in HEMPELS 12/2019

Nachtrag: Aus der zwischenzeitlich vorliegenden Urteilsbegründung ergibt sich, dass eine Übernahme doppelter Mietaufwendung als Unterkunftskosten nach § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II nur in Betracht kommt, wenn beide Unterkünfte tatsächlich genutzt werden. Das ist etwa der Fall, wenn die alte Wohnung noch bewohnt und die neue Wohnung vor einem Einzug noch renoviert werden muss. Die Übernahme der vertraglich noch geschuldeten Mietkosten einer nicht mehr oder noch nicht genutzten Wohnung kommt nach vorheriger Zusicherung bzw. vorherigem Antrag auf Zusicherungserteilung und rechtswidriger Ablehnung der Zusicherung nur als Umzugskosten nach § 22 Abs. 6 Satz 1 SGB II in Betracht.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Arbeitsplatzaufgabe im Ausland vor Rückzug nach Deutschland nicht sozialwidrig

(c) Kurt F. Domnik / pixelio.de

Gemäß § 34 SGB II ist derjenige, der vorsätzlich oder grob fahrlässig die Voraussetzungen für einen ALG-II-Anspruch ohne wichtigen Grund herbeiführt, zum Ersatz des deswegen gezahlten ALG II verpflichtet. In dem vom BSG entschiedenen Fall war eine Familie mit deutscher Staatsbürgerschaft unter Kündigung ihrer Arbeitsverhältnisse in Polen nach Deutschland gezogen. Das Jobcenter stellte mit sogenannten Grundlagenbescheiden fest, die Eheleute hätten durch die Aufgabe ihrer Arbeitsplätze zum Zwecke der Einreise nach Deutschland „sozialwidrig“ gehandelt und sie zum Ersatz des an sie ausgezahlten ALG II verpflichtet. Denn sie hätten sich von Polen aus um neue Arbeitsstellen in Deutschland bemühen können. Mit darauffolgenden sogenannten Leistungsbescheiden setzte das Jobcenter Ersatzansprüche in Höhe von rund 32.000 Euro gegen die Familie fest.

Hatte das SG die Klage der Familie gegen die Grundlagenbescheide noch abgewiesen, gab das LSG der Familie Recht: Ihr Verhalten sei vom Grundrecht auf Freizügigkeit nach Art. 11 Abs. 1 GG gedeckt. Das BSG bestätigte diese Entscheidung. Die Familie habe bereits nicht „sozialwidrig“ gehandelt. § 34 SGB II erfordere eine nach den Wertungen des SGB II besonders zu missbilligende Verhaltensweise. Eine solche liege nicht vor, wenn deutsche Staatsangehörige eine im Ausland ausgeübte Beschäftigung aufgeben und mit ihren Kindern nach Deutschland ziehen, ohne sich zuvor um eine Existenzgrundlage im Bundesgebiet bemüht zu haben.

(BSG, Urteil vom 29.08.2019, B 14 AS 50/18 R)

Erstveröffentlichung in HEMPELS 11/2019

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


80.000 Kinder waren Ende 2018 von Hartz-IV-Sanktionen betroffen

(c) Günter Havlena / pixelio.de

Wie aus einer Antwort des Bundesarbeitsministeriums vom 13.11.2019 auf eine Anfrage der Fraktion Die Linke im Deutschen Bundestag hervorgeht, gab es im Dezember 2018 rund 123.600 Bedarfsgemeinschaften, in denen mindestens ein erwerbsfähiger Leistungsberechtigter mit mindestens einer Sanktion belegt war. Rund 79.900 minderjährige Kinder waren in ihrem Familien von den Sanktionen mit betroffen. Bei 5.300 minderjährigen Kindern war ein Elternteil voll sanktioniert, d.h. einer der Eltern bekam gar keine Regelleistungen.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Keine Beratungshilfe für die Vertretung in einem Mietsenkungsverfahren – manchmal

Amtsgericht Kiel (Photo: Helge Hildebrandt)

Mit Beschluss vom 18.11.2019, Aktenzeichen 7 UR II 2226/19, hat das Amtsgericht Kiel in einem Richterbeschluss die nachträgliche Beratungshilfegewährung für die anwaltliche Beratung und Vertretung im Rahmen eines laufenden Mietsenkungsverfahren abgelehnt. Zur Begründung führt das Gericht aus, es fehle in diesen Fällen noch an einer rechtlichen Betroffenheit der Rechtsuchenden, weil eine „belastende Entscheidung“ der Behörde – in diesen Fällen der Bewilligungsbescheid, mit dem nur noch die abgesenkte Miete anerkannt wird – noch nicht vorliegt. Eine kostenbewusste Rechtsuchende hätte in dieser Situation die Entscheidung des Sozialleistungsträgers abgewartet, um sodann Widerspruch gegen die Entscheidung einzulegen und im Erfolgsfall ihre Kosten gegenüber dem Sozialleistungsträger geltend machen zu können, § 64 SGB X (so etwa BVerfG, Beschluss vom 07.02.2012, 1 BvR 804/11, Rn. 13).

Diese Entscheidung verwundert, weil es in dem vorliegenden Fall (anders als in der vom AG Kiel zitierten Entscheidung BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 09.01.2012, 1 BvR 2852/11, wo zudem die Prüfung behördenseitig noch gar nicht abgeschlossen war) um relativ schwierige rechtliche Fragen gegangen ist, die ohne fachkundigen juristischen Rat von den Rechtsuchenden nicht hätten beantwortet werden können (siehe das hiesige Schreiben an das Jobcenter Kiel in den Kommentaren). Zudem verkennt das Gericht, dass anwaltliche Beratung auch in einem laufenden Mietsenkungsverfahren erforderlich sein kann, um später nicht mehr zu reparierende Fehler – etwa bei der Dokumentation von Suchbemühungen – zu vermeiden. Zudem ließe sich füglich darüber streiten, ob Beratungshilfe schon immer dann abgelehnt werden sollte, wenn deren Ablehnung gerade noch keine Grundrechtsverletzung ist (Grundrecht auf Rechtswahrnehmungsgleichheit, Art. 3 Abs. 1 i.V. mit Art. 20 Abs. 1 und 3 GG) – und nichts anderes prüft das BVerfG ja.

Für die anwaltliche Praxis bedeutet diese Entscheidung, dass der Anwalt Rechtsuchenden in Mietsenkungsverfahren raten muss, bei dem zuständigen Amtsgericht vor dem Aufsuchen eines Rechtsanwalts einen Berechtigungsschein zu beantragen (§ 6 Abs. 1 BerHi). Wird dieser erteilt, was durchaus vorkommt, kann das Amtsgericht im Rahmen der Kostenfestsetzung später die Festsetzung von Beratungshilfe nicht mehr ablehnen (OLG Stuttgart, Beschluss vom 22.5.2007, 8 W 169/07). Wird der Berechtigungsschein nicht erteilt, hat der Rechtsuchende die Wahl, entweder den Anwalt selbst zu bezahlen oder den Bewilligungsbescheid, mit dem nur noch die Mietobergrenze anerkannt wird, abzuwarten, und alsdann einen Anwalt aufzusuchen. Im Sinne einer vernünftigen Rechtspflege ist das alles nicht, aber offenbar so gewollt.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Beratungshilfe: Erledigungsgebühr für einen erfolgreichen Überprüfungsantrag?

Amtsgericht Kiel (Photo: Helge Hildebrandt)

Zu einer umstrittenen Frage im anwaltlichen Gebührenrecht gehört, ob die Erledigungsgebühr nach Nr. 1002 VV RVG (hier bei Beratungshilfe nach Nr. 2508 (1) VV RVG) zur Entstehung gelangt, wenn die Behörde aufgrund anwaltlicher Tätigkeit einen zuvor abgelehnten Bescheid erlässt. Vielfach wird dies – mit nie überzeugenden Begründungen, siehe dazu meinen Kommentar in den Kommentaren mit der Begründung meiner Erinnerung im konkreten Fall – abgelehnt.

Das AG Kiel hat mit Beschluss vom 12.11.2019, 7 UR II 2126/17 nun entschieden, dass in diesen Fällen die Erledigungsgebühr festzusetzen ist. Zur Begründung führt das Gericht eher knapp aus:

Dem Bevollmächtigten steht die geltend gemachte Erledigungsgebühr zu. Nr. 1002 VV-RVG ist jedenfalls entsprechend anwendbar, da die Voraussetzungen für eine analoge Anwendung dieser Vorschrift, nämlich eine planwidrigen Regelungslücke und eine vergleichbare Interessenlage, vor­liegen. Hierzu findet sich in der Kommentarliteratur (BeckOk RVG/Hofmann, 45. Ed. 1.12.2018, RVG W 1002 Rn. 10-8) Folgendes:

„Dennoch ist entgegen des Gesetzeswortlautes VV 1002 ergänzend auch auf die Fälle anwendbar, in denen es außerhalb des sonst üblichen Widerspruchsverfahrens gelingt, vor Einreichung der Klage die Behörde zur Aufhebung oder Änderung ihres Verwaltungsaktes zu bewegen.

VV 1002 soll iErg den Anwendungsbereich der Erfolgsgebühr des VV 1000 ergänzen, sodass auch dort, wo kein Vertrag geschlossen werden kann, für die Vermeidung eines Gerichtsverfahrens oder die Erledigung eines Gerichtsverfahrens de Belohnungsgebühr gezahlt werden kann. Daher muss hier ei­ne Auslegung erfolgen: dem Gesetzgeber kam es auf das Ergebnis der Erledigung ohne die Durchfüh­rung eines Gerichtsverfahrens an. Wenn dieses Ergebnis erreicht wird, soll umfassend eine Beloh­nungsgebühr anfallen.

Der Gesetzgeber hat, wie die beratenden Gremien zuvor, das Problem schlicht übersehen.“

Dem schließt sich das Gericht an. Der erkennbare Zweck der Honorierung in Form der Einigungs- und Erledigungsgebühren liegt in der vorgerichtlichen Klärung der Rechtsverhältnisse.

Um der Landeskasse die Möglichkeit zu geben, die Reichweite des Gebührentatbestandes der Nr. 1002 VV RVG zu klären, hat das Amtsgericht die Beschwerde zum Landgericht zugelassen. Mit Schriftsatz vom 21.11.2019 ist Landeskasse gegen den Beschluss des AG Kiel in die Beschwerde gegangen.

Nachtrag 29.01.2020: Das LG Kiel hat mit Beschluss vom 24.01.2020 zum Aktenzeichen 5 T 53/19 die Entscheidung des AK Kiel bestätigt, wonach für ein erfolgreiches Überprüfungsverfahren nach § 44 SGB X die Erledigungsgebühr nach Nr. 1002 VV RVG i.V.m. Nr. 2508 (1) VV RVG zur Entstehung gelangt.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Kostenfreiheit nach § 64 SGB X für die Beurkundung eines Erbauseinandersetzungsvertrages

Gemäß § 64 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X besteht für Geschäfte und Verhandlungen, die aus Anlass der Beantragung, Erbringung oder der Erstattung einer Sozialleistung nötig werden, Kostenfreiheit. Dies gilt auch für die im Gerichts- und Notarkostengesetz bestimmten Gerichtskosten. Von Beurkundungs- und Beglaubigungskosten bei einem Notar sind unter anderem Urkunden befreit, die im Sozialhilferecht, im Recht der Grundsicherung für Arbeitsuchende, im Recht der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung, im Kinder- und Jugendhilferecht sowie im Recht der Kriegsopferfürsorge aus Anlass der Beantragung, Erbringung oder Erstattung einer nach dem SGB XII, dem SGB II und dem SGB IIX oder dem Bundesversorgungsgesetz vorgesehenen Leistung benötigt werden.

Zu dieser Vorschrift hat das LG Kiel, Beschluss vom 14.10.2019, 3 OH 65/18 entschieden:

1. „Benötigt“ im Sinne von § 64 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X wird eine Erbauseinandersetzungsurkunde dann, wenn ein Sozialleistungsträger seine Ansprüche aufgrund darlehensweise erbrachter Sozialleistungen nach § 91 SGB XII dinglich sichern will und hierfür zunächst eine Erbauseinandersetzung erforderlich ist, um nicht (auch) das Vermögen des Miterben zu belasten.

2. Der Betroffene kann nicht auf die Durchführung einer Erbauseinandersetzung nach §§ 2042 ff. i.V.m. 753 BGB durch eine Zwangsversteigerung verwiesen werden, weil durch den zu erwartenden erheblichen Zeitablauf die Regelung des § 91 SGB XII unterlaufen würde.

3. Die Regelung des § 64 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X befreit nur von Beurkundungs- und Beglaubigungskosten. Dem­nach können andere als die Beurkundungs- und Beglaubigungskosten, die nach dem Kostenver­zeichnis des GNotKG anfallen, vom Notar verlangt werden, so z.B. Vollzugskosten, Auslagen wie die Dokumentenpauschale und die Post- und Telekommunikationspauschale.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Sanktionen zur Durchsetzung von Mitwirkungspflichten bei Bezug von Arbeitslosengeld II teilweise verfassungswidrig

Pressemitteilung Nr. 74/2019 vom 5. November 2019

Urteil vom 05. November 2019
1 BvL 7/16

Der Gesetzgeber kann die Inanspruchnahme existenzsichernder Leistungen an den Nachranggrundsatz binden, solche Leistungen also nur dann gewähren, wenn Menschen ihre Existenz nicht selbst sichern können. Er kann erwerbsfähigen Bezieherinnen und Beziehern von Arbeitslosengeld II auch zumutbare Mitwirkungspflichten zur Überwindung der eigenen Bedürftigkeit auferlegen, und darf die Verletzung solcher Pflichten sanktionieren, indem er vorübergehend staatliche Leistungen entzieht. Aufgrund der dadurch entstehenden außerordentlichen Belastung gelten hierfür allerdings strenge Anforderungen der Verhältnismäßigkeit; der sonst weite Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers ist hier beschränkt. Je länger die Regelungen in Kraft sind und der Gesetzgeber damit deren Wirkungen fundiert einschätzen kann, desto weniger darf er sich allein auf Annahmen stützen. Auch muss es den Betroffenen möglich sein, in zumutbarer Weise die Voraussetzungen dafür zu schaffen, die Leistung nach einer Minderung wieder zu erhalten.

Mit dieser Begründung hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts mit heute verkündetem Urteil zwar die Höhe einer Leistungsminderung von 30 % des maßgebenden Regelbedarfs bei Verletzung bestimmter Mitwirkungspflichten nicht beanstandet. Allerdings hat er auf Grundlage der derzeitigen Erkenntnisse die Sanktionen für mit dem Grundgesetz unvereinbar erklärt, soweit die Minderung nach wiederholten Pflichtverletzungen innerhalb eines Jahres die Höhe von 30 % des maßgebenden Regelbedarfs übersteigt oder gar zu einem vollständigen Wegfall der Leistungen führt. Mit dem Grundgesetz unvereinbar sind die Sanktionen zudem, soweit der Regelbedarf bei einer Pflichtverletzung auch im Fall außergewöhnlicher Härten zwingend zu mindern ist und  soweit für alle Leistungsminderungen eine starre Dauer von drei Monaten vorgegeben wird. Der Senat hat die Vorschriften mit entsprechenden Maßgaben bis zu einer Neuregelung für weiter anwendbar erklärt. Den Rest des Beitrags lesen »


379 € vom Jobcenter für die Anschaffung eines Notebooks

(c) Dr. Klaus-Uwe Gerhardt / pixelio.de

Erneut hat das SG Kiel einem Schüler Leistungen für die Anschaffung eines Computers nach § 21 Abs. 6 Satz 1 SGB II zugesprochen, diesmal in Höhe der geltend gemachten 379 €. In seinem Urteil setzt sich die 38. Kammer insbesondere mit der Frage auseinander, ob es es sich um einen laufenden, nicht nur einmaligen Bedarf handeln muss und kommt zu dem Schluss, dass dies nach der Rechtsprechung des BSG zur Kostenübernahme von Schulbüchern (BSG, Urteil vom 08.05.2019, B 14 AS 13/18 R) offenbar nicht der Fall ist, sondern der im Regelsatz unberücksichtigte Bedarf genügt.

SG Kiel, Urteil vom 25.10.2019, S 38 AS 348/18

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Kein grundsätzlich höherer Unterkunftsbedarf des umgangsberechtigten Elternteils

(c) Dr. Klaus-Uwe Gerhardt / pixelio.de

Im Regelungsbereich des SGB II (Hartz IV) wird immer wieder darum gestritten, ob Eltern, die ihre Kinder zeitweise bei sich wohnen haben, deswegen einen Anspruch auf eine größere Wohnung haben.

In dem vom Bundessozialgericht entschiedenen Fall bewohnte ein Leistungsberechtigter allein eine 70 qm großen Wohnung. Nach einer Kostensenkungsaufforderung bewilligte das beklagte Jobcenter dem Hartz IV Empfänger nur noch die Mietobergrenze für eine 50 qm große Wohnung. Hiergegen wehrte sich der Leistungsberechtigte mit der Begründung, dass er an jedem zweiten Wochenende seine 4 Jahre alte Tochter bei sich wohnen habe, die in seiner Wohnung über einen eigenen Wohnbereich verfügen müsse, damit sie sich bei ihm nicht lediglich als Besuch fühle.

Mit seinem Anliegen bliebt der Hartz IV Empfänger in allen Instanzen erfolglos. Denn bei der Ermittlung des konkreten Unterkunftsbedarfes sind trotz des durch Art. 6 Abs. 1, 2 GG geschützten Umgangsrechts von Eltern und Kindern nicht grundsätzlich höhere Unterkunftskosten oder Flächenbedarfe des umgangsberechtigten Elternteils anzuerkennen. Vielmehr ist stets eine Einzelfallentscheidung unter Berücksichtigung unter anderem der Häufigkeit und Dauer der Umgangsrechtswahrnehmung, des Alters des Kindes, der Lebenssituation und der Wohnverhältnisse des umgangsberechtigten Elternteils erforderlich. Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe war die Entscheidung der Vorinstanzen, das Umgangsrecht des alleinstehenden Vaters mit seiner damals vierjährigen Tochter werde auch in einer maximal 50 qm großen Wohnung ermöglicht, nicht zu beanstanden.

BSG, Urteil vom 29.08.2019, B 14 AS 43/18 R

Erstveröffentlichung in HEMPELS 10/2019

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Geld vom Jobcenter für die Anschaffung eines Computers – nur wie viel?

(c) Kurt F. Domnik / pixelio.de

Im Mai 2019 hatte ich in diesem Blog berichtet, dass das Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht (SH LSG) einem Schüler in seinem Beschluss vom 11.01.2019, L 6 AS 238/18 B ER Leistungen nach § 21 Abs. 6 SGB II für die Anschaffung eines internetfähigen Laptops einschließlich Software und Drucker in Höhe von 600,00 € zugesprochen hat.

Die 40. Kammer am SG Kiel hat in ihrem (rechtskräftigen) Beschluss vom 21.10.2019 zum Aktenzeichen S 40 AS 260/19 ER den Anspruch der dortigen 20jähigen Klägerin nach einer „vorgenommenen eigenen Internetrecherche“ nun auf 350,00 € bestimmt.

Betroffenen, die einen Anspruch auf Kosten für einen internetfähigen Rechner gerichtlich durchsetzen wollen, ist zu raten, den Betrag entweder in das Ermessen des Gerichts zu stellen oder Anschaffungskosten von über 750,- € (z.B. 751,- €) geltend zu machen, um in die Berufung bzw. Beschwerde zum SH LSG gehen zu können (§ 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG i.V.m. § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG) – wo es dann wohl weiterhin 600,00 € geben dürfte.

Zu dem Beschluss der 40. Kammer ist für den aufmerksamen Leser anzumerken, dass es in diesem Verfahren weder einen „Antragsteller zu 2)“ gab noch die Antragstellerin im Alter zwischen 6 und 14 Jahren war (so dass der für Datenverarbeitungsgeräte und Software im Rahmen des Regelbedarfsermittlungsgesetzes 2017 [RBEG 2017] für Erwachsene veranschlage Wert von 2,52 € monatlich vom Gericht zu benennen gewesen wäre, der sich dann auch nicht auf Seite 66, sondern auf Seite 44 der BT-Drucksache 18/9984 findet). Das Sozialgericht hat hier offenbar in weiten Teilen einfach die Entscheidung des SH LSG vom 11.01.2019 kopiert. Man lerne daraus: Es gibt nicht nur Copy-and-paste-Verwaltungsakte von Behörden, sondern auch Copy-and-paste-Beschlüsse von Gerichten.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


ALG II Antragstellung: Auch auf den letzten Drücker möglich!

(c) Kurt F. Domnik / pixelio.de

Ein Antrag auf ALG II (Hartz IV) wirkt nach § 37 Abs. 2 Satz 2 SGB II grundsätzlich auf den ersten Tag in dem Monat zurück, in dem der Antrag gestellt wurde. Das bedeutet, dass ein ALG II-Antrag auch am letzten Tag des Monats bis 24.00 Uhr noch für den gesamten Monat gestellt werden kann. Dabei kommt es nicht darauf an, ob das Jobcenter am Tag des Antragseinganges die Möglichkeit zur Kenntnisnahme hatte oder – etwa, weil der letzte Tag des Monats auf ein Wochenende fiel – erst am ersten Tag der Dienstbereitschaft im Folgemonat. Entscheidend ist, dass der Antrag in dem betreffenden Monat in den sog. „Macht- und Willensbereich“ des Jobcenters gelangt. Für den rechtzeitigen Zugang trägt im Regelfall der Antragsteller die Beweislast. Hat das Jobcenter den Zugang für eine Antragstellung per E-Mail eröffnet, kann der Antrag auch per E-Mail gestellt werden. In diesem Fall sollte die E-Mail, mit der der Antrag gestellt wurde, auf keinen Fall gelöscht werden. Zur Sicherheit sollte auch ein Bildschirmausdruck von der E-Mail aus dem Ordner „gesendete Objekte“ angefertigt und ausgedruckt werden. Für eine fristwahrende Antragstellung „auf den letzten Drücker“ eignet sich auch immer ein Telefax. Hier sollte in jedem Fall der vollständige Sendebericht mit der Seite des Antrages ausgedruckt werden. Auf keinen Fall sollte der Antrag in den Hausbriefkasten des Jobcenters eingeworfen werden. Denn dieser wird erst geleert, wenn die Behörde wieder Dienstbereitschaft hat. Regelmäßig wird als Eingangsdatum dann auch – frühestens – dieser Tag vermerkt und der Antragsteller kann einen früheren Zugang nicht nachweisen. Zudem geht bei den Jobcentern auch immer wieder Post ganz verloren.

BSG, Urteil vom 12.07.2019, B 14 AS 51/18 R

Erstveröffentlichung in HEMPELS 9/2019

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Sperrzeit beim ALG I nach Arbeitsaufgabe wegen Umzugs

Schleswig-Holsteinisches LSG

Wer sein Beschäftigungsverhältnis kündigt, hat dafür in aller Regel irgendeinen Grund – sei es eine Erkrankung, die Unzumutbarkeit der Tätigkeit, Unzufriedenheit mit dem Arbeitgeber, fehlende Aufstiegsmöglichkeiten, den Umzug zum Lebenspartner oder irgendeine andere Veränderung. Liegt für die Lösung des Arbeitsverhältnisses kein „wichtiger Grund“ im Sinne der Rechtsprechung vor, führt diese zu einer „Sperrzeit“ von in der Regel 3 Monaten, in der die Bundesagentur für Arbeit kein ALG I zahlt.

Wer sein Arbeitsverhältnis kündigt, weil er den gemeinsamen Wohnsitz mit seinem Ehepartner an einen anderen Ort verlegt, löst eine Sperrzeit nach § 159 SGB III aus. Die vermieterseitige Kündigung der bisherigen Wohnung reicht für die Annahme eines „wichtigen Grundes“ für die Arbeitsaufgabe nicht aus. Die Sperrzeit dient dem Schutz der Versichertengemeinschaft vor einer Manipulation des versicherten Risikos der Arbeitslosigkeit. Nicht versichert ist demgegenüber das Risiko der Wohnungslosigkeit, der Vermeidung von Doppelumzügen, Doppelmieten und gegebenenfalls Einlagerungskosten. Ein gewünschter Ortswechsel kann nur Ausnahmsweise als „wichtiger Grund“ anerkannt werden, etwa um mit dem Lebenspartner zusammen zu ziehen, der außerhalb des zumutbaren Pendelbereiches lebt. In vorliegendem Fall hätte es allenfalls einen wichtigen Grund darstellen können, wenn die Klägerin unverschuldet wohnungslos geworden und objektiv kein Wohnraum in zumutbarer Pendelzeit anmietbar gewesen wäre.

Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, Urteil vom 15.02.2019, L 3 AL 5/17

Erstveröffentlichung in HEMPELS 8/2019

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Hartz IV: Aus Erbschaft kann Vermögen werden

(c) Gerd Altmann / pixelio.de

Bezieht ein Erbe zum Zeitpunkt des Erbfalles Leistungen nach dem SGB II, fließen ihm die Mittel aus der Erbschaft aber erst nach einer Unterbrechung der Hilfebedürftigkeit (hier durch Bezug von Arbeitslosengeld I und Wohngeld ) während eines erneuten Leistungsbezuges zu, so ist der aus der Erbschaft zufließende Betrag nicht als Einkommen, sondern als Vermögen anzusehen.

Im Regelungsbereich des SGB II (Hartz IV) wird als Einkommen berücksichtigt, was jemand im laufenden ALG II-Bezug wertmäßig dazu erhält. Vermögen ist demgegenüber all das, was er vor der ALG II-Antragstellung bereits hatte. Beim Vermögen gelten Freigrenzen, während Einkommen aus Erbschaften als einmalige Einnahme voll auf den Leistungsanspruch anzurechnen ist.

In dem vom BSG entschiedenen Fall hatten ALG II-Bezieher im Juni 2009 ein Haus geerbt. Von Oktober 2009 bis November 2010 lebten sie sodann von ALG I und Wohngeld. Ab November 2010 mussten sie wieder ALG II beantragen. Im Februar 2012 flossen ihnen dann aus dem Verkauf des geerbten Grundstückes als Miterben 5.330 € zu. Diese 5.330 € waren nicht auf den ALG II Anspruch anzurechnen. Denn das Erbe war als Vermögen – wenn auch nicht als „bare Mittel“, also Geld – bereits seit Juni 2009 und damit vor Beginn des erneuten Leistungsbezuges im November 2010 vorhanden. Da der Betrag von 5.330 € innerhalb ihrer individuellen Vermögensfreigrenze lag, mussten die ALG II-Bezieher auch nicht einen Teil ihres Erbes zunächst verbrauchen, um erneut ALG II zu erhalten.

BSG, Urteil vom 08.05.2019, B 14 AS 15/18 R

Erstveröffentlichung in HEMPELS 7/2019

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Hartz IV für den Monat der Heizölbestellung

(c) Kurt F. Domnik / pixelio.de

Auch Menschen, die keine laufenden Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II (Hartz IV) beziehen, können für den Monat ihrer Heizmaterialbestellung einen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II für ihre Heizkosten haben.

Geklagt hatte eine fünfköpfige Familie, die ein Eigenheim bewohnt und von zwei Einkommen sowie Kindergeld lebt. Im September 2013 kauften sie Briketts und Heizöl für nicht ganz 1.400 € und beantragten beim Jobcenter einen Heizkostenzuschuss. Das beklagte Jobcenter lehnte den Antrag ab, weil der Betrag aus eigenen Mitteln bestritten werden könne, wenn er auf ein Jahr umgelegt werde.

Das Sozialgericht verurteilte das Jobcenter, der Familie für den Monat September 2013 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in Höhe von circa 1.000 € zu zahlen, weil der Bedarf in diesem Monat angefallen und zu befriedigen, ihm jedoch das zu berücksichtigende Einkommen gegenüber zu stellen sei. Das Bundessozialgericht hat dieser Entscheidung nun letztinstanzlich bestätigt.

Als Bedarf der Familie war für den Monat September 2013 auch das von ihnen in diesem Monat gekaufte Heizmaterial anzuerkennen, selbst wenn es nicht nur für diesen Monat bestimmt war. Denn prägend für die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II ist die Ermittlung der Bedarfe und des zu berücksichtigenden Einkommens und Vermögens im jeweiligen Kalendermonat. Eine Abweichung von diesem Monatsprinzip enthält das SGB II zwar etwa für Instandhaltungsaufwendungen bei selbstgenutztem Wohneigentum (§ 22 Abs. 2 SGB II). Eine Rechtsgrundlage für die Verteilung eines in einem bestimmten Monat anfallenden Bedarfs für Heizmaterial, das für einen längeren Zeitraum gekauft worden ist, enthält das SGB II indessen nicht.

(BSG, Urteil vom 08.05.2019, B 14 AS 20/18 R)

Erstveröffentlichung in HEMPELS 6/2019

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Leitfaden ALG II / Sozialhilfe von A – Z

Leitfaden Alg II/Sozialhilfe von A-Z / 30. Auflage des Nachschlagewerks für Leistungsbeziehende, Berater/-innen und Mitarbeiter/-innen in sozialen Berufen
Rechtsstand: Januar 2019 

Die 30. Auflage des bekannten „Standardwerks für Arbeitslosengeld II-Empfänger“ (Spiegel 43/2005) ist  im Februar 2019 erschienen. Der Leitfaden wird vom Autorenteam rund um Harald Thomé vom Erwerbslosen- und Sozialhilfeverein Tacheles e.V. in Wuppertal herausgegeben. Der Verein Tacheles hat das Ratgeberprojekt für Leistungsbeziehende, Berater/-innen und Mitarbeiter/-innen in sozialen Berufen aufgrund der Pensionierung von Prof. Rainer Roth von der AG TuWas übernommen.

Der Ratgeber beruht auf vielen Jahren Beratungs- und Schulungspraxis und einem bewährten Konzept, das im Laufe von 38 Jahren „Leitfadenarbeit“ entwickelt wurde.

Er stellt zugleich mit den Regelungen des Arbeitslosengelds II auch die Regelungen der Sozialhilfe und der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung dar. Als einziger umfassender Ratgeber für das SGB II (Grundsicherung für Arbeitsuchende) und das SGB XII (Sozialhilfe) ist er deswegen für Beratungszwecke und als Nachschlagewerk sowohl für Rechtsanwender als auch für Laien besonders geeignet.

Im ersten Teil werden in 91 Stichworten alle Leistungen ausführlich in übersichtlicher und bewährt verständlicher Form erläutert. Der zweite Teil behandelt in 34 Stichworten, wie Betroffene ihre Ansprüche durchsetzen und sich erfolgreich gegen die Behörde wehren können.

Die Rechtsprechung und Gesetzgebung sind mit Stand vom Anfang Januar 2019 eingearbeitet und kritisch kommentiert. Auch der Blick auf die Entwicklung der Arbeitslosigkeit, ihre sozialen und wirtschaftlichen Ursachen und die Zielsetzung aktueller Sozialgesetzgebung fehlt nicht.

Die Autoren wollen mit diesem Leitfaden BezieherInnen von Sozialleistungen dazu ermutigen, ihre Rechte offensiv durchzusetzen und sich gegen die fortschreitende Entrechtung und die Zumutungen der Alg II-Behörden zu wehren. Sie wollen dazu beitragen, dass sie bei SozialberaterInnen, MitarbeiterInnen der Sozial- und Wohlfahrtsverbände sowie Anwältinnen und Anwälten fachliche und parteiische Unterstützung für die rechtliche Gegenwehr erhalten, die dringend benötigt wird. Die Autoren um Thomé empfehlen Erwerbslosen, sich lokal zu organisieren und gemeinsam ihre Interessen zu vertreten. Um dem zunehmenden Abbau der sozialen Sicherung und der damit einhergehenden Ausweitung von Niedriglohn und schlechten Arbeitsbedingungen zu begegnen, treten sie dafür ein, dass solidarische Bündnisse zwischen Erwerbslosen, Beschäftigten und anderen vom Sozialabbau betroffenen Gruppen geschmiedet werden, die dem Sozialabbau und Lohndumping den Kampf ansagen.

Die Autoren üben detaillierte Kritik an der Höhe des Existenzminimums oder der rechtswidrigen Ausdehnung von Unterhaltsverpflichtungen. Sie decken die leeren Versprechungen der Politik auf, die vorgeben, die Verschärfung des Sozialrechts würde Langzeitarbeitslosen bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt verschaffen.

Gerade weil sich die Behörden immer rigider über geltendes Recht hinwegsetzen, ist dieser Leitfaden nötiger denn je.

Versand des neuen Leitfaden ab März 2019

Autorinnen und Autoren vom Leitfaden 2019:

Matthias Butenob, LAG Schuldnerberatung Hamburg e.V. u. Rechtsanwalt, Hamburg
Georg Classen, Flüchtlingsrat Berlin, Berlin
Volker Gerloff, Rechtsanwalt, Berlin
Helge Hildebrandt, Rechtsanwalt, Kiel
Annette Höpfner, Rechtsanwältin, Fachanwältin für Sozialrecht, Halle
Frank Jäger, Tacheles e.V. und Dozent für Sozialrecht, Wuppertal
Lars Johann, Rechtsanwalt,  Fachanwalt für Sozialrecht, Wuppertal
Uwe Klerks, Rechtsanwalt, Fachanwalt für Sozial- und Versicherungsrecht,  Duisburg
Claudia Mehlhorn, Dozentin für Krankenversicherungsrecht, Berlin
Volker Mundt, Rechtsanwalt, Fachanwalt für Sozialrecht, Berlin
Sylvia Pfeiffer, Dozentin für Sozialrecht, Berlin
Joachim Schaller, Rechtsanwalt Hamburg
Sven Schumann, Rechtsanwalt, Stein bei Nürnberg
Harald Thomé, Tacheles e.V. und Dozent für Sozialrecht, Wuppertal
Claudius Voigt, Sozialarbeiter, Gemeinnützige Gesellschaft zur Unterstützung Asylsuchender e.V. (GGUA Flüchtlingshilfe), Münster

Leitfaden Alg II / Sozialhilfe von A-Z

Herausgeber:  Harald Thomé
Umfang:         ca. 800 Seiten
Stand:            30. Auflage, Januar 2019
ISBN:             978-3-932246-67-8
Preis:             16,50 €  inkl. Versand innerhalb Deutschlands

Bestellung:

online:      www.dvs-buch.de
per Fax:    069 / 74 01 69
per Brief:   DVS, Schumannstr. 51, 60325 Frankfurt

Der Leitfaden Alg II / Sozialhilfe von A-Z kann auch vor Ort im
Café Tacheles, Rudolfstraße 125, 42285 Wuppertal (Unterbarmen)
bezogen werden.

Meine – auch persönlichen – Anmerkungen zur 28. Auflage 2015 finden sich hier.


Anspruch behinderter Studierender auf Zuschuss zur Miete

(c) Thommy Weiss / pixelio.de

Behinderte Studierende, die wegen des Bezugs von Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) keinen Anspruch auf laufende Leistungen nach dem SGB II (Hartz IV) oder Sozialhilfe (SGB XII) haben, können zuschussweise Eingliederungshilfeleistungen zur Deckung laufender Unterkunftskosten als Leistung zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft erhalten.

Die Klägerin ist wesentlich körperlich behindert und auf einen Rollstuhl angewiesen. Sie lebt in einer behindertengerecht ausgestatteten Wohnung außerhalb ihres Elternhauses. Für die Dauer ihres Hochschulstudiums erhielt sie BAföG, das unter anderem anteilige Unterkunftskosten in Höhe von 224 € umfasste. Ihren Antrag auf zuschussweise Übernahme der Differenz zu ihren tatsächlichen Unterkunftskosten lehnte zunächst das beigeladene Jobcenter und für Folgezeiträume der beklagte Sozialhilfeträger ab. Ihre hiergegen gerichtete Klage ist vor dem Sozialgericht und dem Landessozialgericht ohne Erfolg geblieben. Das Bundessozialgericht (BSG) gab der Studentin schließlich Recht.

Zwar war dem BSG eine abschließende Entscheidung wegen der fehlenden Beiladung der Bundesagentur für Arbeit als zuständig gewordenem Rehabilitationsträger nicht möglich. Das BSG hat aber darauf hingewiesen, dass eine Wohnung nicht nur dem Schutz vor Witterungseinflüssen und der Sicherung des „Grundbedürfnisses des Wohnens“ dient, sondern grundsätzlich auch der sozialen Teilhabe, weil so eine gesellschaftliche Ausgrenzung vermieden wird. Verbleibt ein nicht gedeckter Unterkunftsbedarf, weil allein behinderungsbedingt weitere Kosten für Wohnbedarf entstehen, sind diese zur Sicherstellung einer gleichberechtigten Teilhabe behinderter Menschen zu erbringen. Der Anspruch besteht in Höhe der Differenz zwischen den nach dem SGB II und SGB XII (abstrakt) „angemessenen“ Kosten der Unterkunft (sog. Mietobergrenzen) und den behinderungsbedingt konkret angemessenen Kosten.

(BSG, Urteil vom 04.04.2019, B 8 SO 12/17 R)

Erstveröffentlichung in HEMPELS 5/2019

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Die Selbstzerstörung der CDU

Wenn die Vorsitzende der größten Partei Deutschlands (CDU) wissentlich die Unwahrheit über einen Youtuber verbreitet, also die Öffentlichkeit belügt, sollten auch Blogger dazu nicht schweigen – selbst wenn ein Beitrag dazu thematisch eigentlich gar nicht in ihren Blog passt. Die Parteivorsitzende der CDU hat auf ihrem Twitter-Account behauptet:

Wenn einflussreiche Journalisten oder #Youtuber zum Nichtwählen oder gar zur Zerstörung demokratischer Parteien der Mitte aufrufen, ist das eine Frage der politischen Kultur. Es sind gerade die Parteien der Mitte, die demokratische Werte jeden Tag verteidigen. #Rezo

— A. Kramp-Karrenbauer (@akk) 27. Mai 2019

Tatsächlich hat der Youtuber Rezo keinesfalls zur Zerstörung der CDU oder einer anderen „demokratischern Partei der Mitte“ aufgerufen, sondern der CDU ihre Selbstzerstörung attestiert (ab 1:16 min), und zwar in „klaren, deutschen Hauptsätzen“ (um mal ein Bonmot des amtierenden EU-Kommissionspräsidenten aufzugreifen), von denen angenommen werden sollte, dass sie sogar die CDU-Parteivorsitzende versteht:

„Das wird diesmal wirklich ein Zerstörungsvideo. Nicht, weil ich aktiv versuche, jemanden zu zerstören, sondern weil die Fakten und Tatsachen einfach dafür sprechen, dass die CDU sich selbst, ihren Ruf und ihr Wahlergebnis, damit selbst zerstört.“

Und auch zum Nichtwählen wird in dem Video von Rezo nicht aufgerufen, wie die Parteivorsitzende der CDU behauptet. Ab 52:42 folgt vielmehr ein Appell, an der EU-Wahl teilzunehmen:

„Welche Partei man dafür am besten wählt, kann ich nicht beantworten, will ich nicht beantworten. Diese Initiative [gemeint ist die BPK der „Scientists for Future“ zu den Protesten für mehr Klimaschutz vom 12. März 2019] hat gesagt, dass am ehesten noch Grüne und Linke eine Option ist, aber selbst die müssen noch viel krasser in ihren Forderungen werden […] Aber eins kann ich beantworten: Wählt man CDU, CSU oder SPD, gibt es keinen Grund für irgendwen, was zu verändern. Wählt man die AfD, trägt man sogar noch mehr zur Zerstörung unseres Planten bei […]“

Da sich das Rezo-Video bei youtube mittlerweile – warum auch immer – an 45. Stelle nach allein 16 voranstehenden Youtube-Beiträgen der konservativen WELT findet, verlinke ich es mal hier:

Als Leser mehrerer sog. Qualitätszeitschriften erlaube ich mir mal das Urteil: So gut mit Quellen belegt wie dieses Video ist keine einziger Bericht in einer deutschen Tages- oder Wochenzeitung. Ich erinnere mich als Abonnent etwa der ZEIT nicht, dort jemals einen Quellennachweis oder gar einen Fußnotensatz gefunden zu haben. Die sog. Qualitätsjournalisten wären also gut beraten, den Ball ganz flach zu halten und sich weniger herablassend zu den Meinungsäußerungen eines 26jährigen Youtubers zu äußern.

Guter Beitrag zum Thema: https://www.tagesschau.de/faktenfinder/akk-rezo-101.html?utm_source=pocket-newtab

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


AG Kiel: In Beratungshilfeangelegenheiten muss Termin vereinbart werden

Amtsgericht Kiel (Photo: Helge Hildebrandt)

Seit dem 02.05.2019 muss beim Amtsgericht Kiel in Beratungshilfeangelegenheiten vorab telefonisch ein Termin vereinbart werden. Der Berechtigungsschein wird nach wie vor im Termin direkt mitgegeben. Der Termin ist beim Servicepoint unter der Durchwahl 604 – 2001 oder 604 – 2005 zu vereinbaren (Link zur Info). Als Grund für diese Änderung nennt das Amtsgericht die gestiegene Anfrage nach Berechtigungsscheinen für die anwaltliche Beratung und/oder Vertretung durch Bürger mit geringem Einkommen.

Zum vereinbarten Termin sind folgende Unterlagen mitzubringen (Link zur Info):

1. Vollständig ausgefüllter und vom Antragsteller persönlich unterschriebener Antragsvordruck „Antrag auf Bewilligung von Beratungshilfe“ (Das Antragsformular kann hier heruntergeladen werden). Alternativ ist das Antragsformular auch am Servicepoint des Amtsgerichts erhältlich. Bitte planen Sie zum Ausfüllen des Formulars vor Ort genügend Zeit ein, andernfalls kann der vergebene Termin nicht eingehalten werden.

2. Gültiges amtliches Ausweisdokument (z.B. Personalausweis oder Reisepass)

3. Unterlagen/Schriftverkehr, aus denen sich die Angelegenheit ergibt, für die Beratungshilfe beantragt wird (Schriftwechsel etc.).

4. Belege über aktuelles, laufendes Einkommen (Lohnabrechnungen, Renten- oder sonstige Bescheide, Mieteinnahmen, Kindergeld, Bafög, Unterhaltszahlungen, Arbeitslosengeldbescheid, Wohngeldbescheid).

5. Zahlungsbelege/Kontoauszüge oder Online-Banking auf Ihrem Mobiltelefon zu laufenden Ausgaben (Miete, Nebenkosten, Heizkosten, Versicherungen, Zahlungsverpflichtungen etc.) Bitte Kontoauszüge oder Online-Banking der letzten 6 Wochen vorlegen!

6. Unterlagen, aus denen sich der Wert vorhandener Vermögenswerte ergibt (Sparbuch, Lebensversicherung etc.).

7. Ggf. eine Vollmacht, falls ein Dritter den Antrag stellt (Der Gegenstand der Vollmacht ist zu bezeichnen und vom Vollmachtgeber zu unterzeichnen und mit Datum zu versehen). Bitte beachten Sie, dass der Antragsvordruck für die Bewilligung von Beratungshilfe trotz Bevollmächtigung von dem Antragsteller persönlich zu unterzeichnen ist!

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Jobcenter muss Kosten für Schulbücher tragen

(c) Gerd Altmann / pixelio.de

Die Kosten für Schulbücher sind vom Jobcenter als Härtefall-Mehrbedarf nach § 21 Absatz 6 SGB II zu übernehmen, wenn Schüler mangels Lernmittelfreiheit ihre Schulbücher selbst kaufen müssen.

Die Kosten für Schulbücher sind zwar dem Grunde nach vom Regelbedarf erfasst, nicht aber in der richtigen Höhe, wenn keine Lernmittelfreiheit besteht. Denn der Ermittlung des Regelbedarfs liegt eine bundesweite Einkommens- und Verbrauchsstichprobe zugrunde. Deren Ergebnis für Schulbücher ist folglich nicht auf Schüler übertragbar, für die anders als in den meisten Bundesländern keine Lernmittelfreiheit in der Oberstufe gilt (BSG, Urteile vom 08.05.2019, B 14 AS 6/18 R und B 14 AS 13/18 R – 180 € bzw. 200 € Kosten für Schulbücher im Schuljahr).

Was bedeutet die Entscheidung für Leistungsberechtigte in Schleswig-Holstein?

Zwar gibt es in Schleswig-Holstein wie in sieben weiteren Bundesländern bereits Lernmittelfreiheit. Diese umfasst in Schleswig-Holstein aber lediglich die Gegenstände, die ausschließlich im Unterricht eingesetzt werden. Konkret regelt § 13 des Schleswig-Holsteinischen Schulgesetzes:

(1) Schülerinnen und Schüler erhalten unentgeltlich, in der Regel leihweise,

  1. Schulbücher,
  2. Gegenstände, die ausschließlich im Unterricht eingesetzt werden und in der Schule verbleiben,
  3. zur Unfallverhütung vorgesehene Schutzkleidung.

(2) Schulbücher sind alle Bücher und Druckschriften, die überwiegend im Unterricht und bei der häuslichen Vor- und Nachbereitung des Unterrichts durch Schülerinnen und Schüler verwendet werden. Nicht zur Verfügung gestellt werden müssen Bücher und Druckschriften, die zwar im Unterricht eingesetzt werden, daneben aber erhebliche Bedeutung für den persönlichen Gebrauch haben können.

(3) Von der Schülerin und vom Schüler können Kostenbeiträge verlangt werden für

  1. Sachen, die im Unterricht bestimmter Fächer verarbeitet werden und danach von der Schülerin und vom Schüler verbraucht werden oder ihnen verbleiben,

  2. Verpflegung in der Schule.

Damit fallen etwa Taschenrechner, Computer, Atlanten, Literatur für den Deutschunterricht, Hefte und Schreibmaterial in Schleswig-Holstein nicht unter die Lernmittelfreiheit.

Für welchen Schulbedarf kann in Schleswig-Holstein ein Mehrbedarfsantrag gestellt werden?

Ein Antrag kann z.B. gestellt werden für die Anschaffung eines Computers (vgl. dazu Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, Beschluss vom 11.01.2019, L 6 AS 238/18 B ER), Atlanten und Literatur für den Deutschunterricht sowie für Schulbücher, die eine Schule trotz Lernmittelfreiheit tatsächlich nicht zur Verfügung stellt und die deswegen von den Schülern gekauft werden müssen. Ein Antrag ist auch möglich, wenn eine Schule etwa einen höheren Kostenbeitrag für Materialien für den Werkunterricht fordert (vgl. § 13 Abs. 3 Nr. 1 SchulG SH).

Ein Mehrbedarfsantrag wird demgegenüber keinen Erfolg haben bei Schulmaterial, das aus dem Schulbedarf nach § 28 Abs. 3 Satz 1 SGB II (insgesamt 100 € im Jahr) angeschafft werden soll. Hierzu gehören nach BT-Drucks. 17/3404, Seite 105 „neben Schulranzen, Schulrucksack und Sportzeug insbesondere die für den persönlichen Ge- und Verbrauch bestimmten Schreib-, Rechen und Zeichenmaterialien (Füller, Kugelschreiber, Blei- und Malstifte, Taschenrechner, Geodreieck, Hefte und Mappen, Tinte, Radiergummis, Bastelmaterial, Knetmasse)“.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Geld vom Jobcenter für die Anschaffung eines Computers

(c) Kurt F. Domnik / pixelio.de

Schüler im Leistungsbezug nach dem SGB II haben unter bestimmten Voraussetzungen einen Anspruch gegenüber ihrem Jobcenter auf Gewährung eines einmaligen Mehrbedarfes für die Anschaffung eines Computers aus § 21 Abs. 6 SGB II. Nach dieser Vorschrift wird bei Leistungsberechtigten ein Mehrbedarf anerkannt, soweit ein im Einzelfall unabweisbarer, laufender, nicht nur einmaliger besonderer Bedarf besteht.

Die Anschaffung eines Computers – hier eines Laptops – war „unabweisbar“, weil dieser ausweislich einer entsprechenden Schulbescheinigung von dem Antragsteller, der in die 8. Klasse geht, für Recherchen und das Anfertigen von Texten im Unterricht benötigt wird sowie die Präsentation mittels Laptops sogar fester Bestandteil der Schulabschlussprüfung ist. Die Anschaffungskosten konnten auch nicht durch die Zuwendung Dritter gedeckt oder durch Ansparungen aus dem Regelsatz bestritten werden, da für PC und Software nur 2,28 € im Monat im Regelsatz von Kindern zwischen 6 und 14 Jahren berücksichtigt sind. Auch ein Ratenkauf hat das Gericht ausgeschlossen, da ein solcher – vorliegend auch wegen weiterer Abzahlungsverpflichtungen – zu einer Unterschreitung des Existenzminimums geführt hätte. Der Laptop war auch nicht aus der Schulbedarfspauschale finanzierbar. Seine Anschaffung stellte zuletzt auch einen „laufenden Bedarf“, da er über einen längeren Zeitraum benötigt wird, auch wenn die Kosten nur einmalig beim Kauf entstehen. Die maximalen anerkennungsfähigen Anschaffungskosten hat das Gericht mit 600,00 € bestimmt.

(Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, Beschluss vom 11.01.2019, L 6 AS 238/18 B ER)

Erstveröffentlichung in HEMPELS 4/2019

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Jobcenter Kreis Rendsburg-Eckernförde: Urteilsumsetzung erst nach Vollstreckung

(c) Kurt F. Domnik / pixelio.de

Von Leistungsberechtigten nach dem SGB II werden – gelegentlich unter knappster Fristsetzung und Androhung der vollständigen Leistungseinstellung – Mitwirkungshandlungen verlangt. Die Jobcenter hingegen lassen sich – was ihre „Mitwirkungspflichten“ anbelangt – gern sehr lange Zeit. So lange, dass selbst aus Urteilen, die nach eigenem Rechtsmittelverzicht ergangen sind, vollstreckt werden muss, um die Jobcenter zu einem Tätigwerden zu bewegen. So geschehen jüngst beim Jobcenter Rendsburg-Eckernförde.

Am 11.07.2018 wurde das Jobcenter in drei Verfahren zu höheren Leistungen für die Unterkunft verurteilt. Ende August 2018 erklärte das Jobcenter in Parallelverfahren vor dem Schleswig-Holsteinischen Landessozialgericht einen Rechtsmittelverzicht hinsichtlich dieser Urteile. Am 28.09.2018 wurden die Urteile mit Urteilsgründen zugestellt. Mit anwaltlichen Schreiben vom 11.10.2018 und 05.11.2018 wurde das Jobcenter unter Ankündigung der Zwangsvollstreckung zur Umsetzung der Urteile aufgefordert. Das Jobcenter Rendsburg-Eckernförde erachtete es rund 2 Monate lang nicht für nötig, auf die anwaltlichen Schreiben auch nur zu reagieren, so dass am 20.11.2018 die Vollstreckung eingeleitet werden musste. Die Kosten auch für die Vollstreckungsverfahren trägt nun das Jobcenter (SG Schleswig, Beschluss vom 05.04.2019, S 1 SF 41/19 AS usw.).

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt   


Haftungsbeschränkung Minderjähriger auch bei Eintritt der Volljährigkeit im Klageverfahren

(c) Dr. Klaus-Uwe Gerhardt / pixelio.de

Ein junger Volljähriger muss Leistungen nach dem SGB II (Hartz IV), welche er als Minderjähriger zu Unrecht erhalten hat, nur bis zur Höhe des bei Eintritt seiner Volljährigkeit vorhandenen Vermögens an das Jobcenter erstatten. Diese Regelung findet sich in § 1629a BGB, die verhindern soll, dass Kinder mit Schulden, die ihre Eltern verursacht haben, in die Volljährigkeit starten.

Das Bundessozialgericht hat nun entschieden, dass junge Volljährige sich auf die Beschränkung der Minderjährigenhaftung auch dann berufen können, wenn sie erst im Laufe eines Gerichtsverfahrens gegen den Erstattungsbescheid volljährig geworden sind. Minderjährigen, die in nächster Zeit volljährig werden, ist deswegen zur raten, den an sie gerichteten Aufhebungs- und Erstattungsbescheiden auch dann zu widersprechen, wenn diese „an sich“ gerechtfertig sind. Denn werden sie im sich anschließenden Widerspruchs- oder Klageverfahren volljährig, können sie sich auf ihre beschränkte Haftung berufen.

Weiter hat das Bundessozialgericht entschieden, dass die Haftungsbeschränkung kein Verschulden der Eltern voraussetzt. Deswegen gilt die Haftungsbeschränkung auch bei einer abschließenden Leistungsfestsetzung, bei der die Erstattungsforderung nicht auf einem schuldhaften Verhalten der Eltern beruht, sondern auf einer abschließenden Entscheidung nach einer vorläufigen Bewilligung wegen der Höhe des zu berücksichtigenden Einkommens.

(Bundessozialgericht, Urteile vom 28.11.2018, B 4 AS 43/17 R und B 14 AS 34/17 R)

Erstveröffentlichung in HEMPELS 2/2019

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


(Wieder) Neue Mietobergrenzen für Kiel ab 01.01.2019

Das gewohnt unprofessionelle Agieren der Landeshauptstadt Kiel bei der Bestimmung neuer Mietobergrenzen setzt sich auch im Jahre 2019 fort. Hatte die Stadt Kiel durch Stadtrat Gerwin Stöcken noch am 24.01.2019 in einer geschäftlichen Mitteilung im Ausschuss für Soziales, Wohnen und Gesundheit (vorläufig) neue Mietobergrenzen bekannt gegeben, welche angeblich „ab Januar 2019 in der Sozialverwaltung und im Jobcenter umgesetzt“ würden (Geschäftliche Mitteilung vom 24.01.2019, Drucks. 0020/2019), werden nunmehr in der Beschlussvorlage Drs. 0153/2019, die dem Sozialausschuss am 28.02.2019 und der Ratsversammlung am 21.03.2019 zur Entscheidung vorgelegt werden soll, wiederum neue Höchstgrenzen (bruttokalt) genannt, welche ebenfalls ab dem 01.01.2019 gelten sollen:

Personen im Haushalt Anzuerkennende Wohnungsgröße (in qm) Mietobergrenze in Euro
1-Personenhaushalt < 50 374,50
2-Personenhaushalt > 50 – < 60 421,50
3-Personenhaushalt > 60 – < 75 553,00
4-Personenhaushalt > 75 – < 85 665,50
5-Personenhaushalt > 85 – < 95 755,00
6-Personenhaushalt > 95 – < 105 831,50
7-Personenhaushalt > 105 – < 115 908,00
Mehrbetrag für jedes weitere Familienmitglied 10 76,50

Selbst der geneigte Beobachter fragt sich, ob im Derzernat IV nur noch gewürfelt wird.

Das Jobcenter Kiel weist im Übrigen auf seiner aktuelle Homepage bis heute (Stand 25.02.2019) noch die alten Mietobergrenzen aus (ganz nach unten scrollen).

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Beratungshilfe: Zur Erhöhungsgebühr bei der Vertretung von Bedarfsgemeinschaften im SGB II

(c) Thorben Wengert / pixelio.de

Die Erhöhungsgebühr nach Nr. 1008 VV RVG ist auch im Bereich der Beratungshilfe anzuwenden.

Vertritt ein Rechtsanwalt mehrere Mitglieder einer SGB II-Bedarfsgemeinschaft, die alle – hier von einer Kürzung der Unterkunftskosten – betroffen und damit beschwert sind, kommt die Erhöhungsgebühr nach Nr. 1008 VV RVG zur Entstehung.

Dies gilt auch, wenn nur ein Mitglied der Bedarfsgemeinschaft Beratungshilfe beantragt und nur diesem durch die Ausstellung eines Berechtigungsscheines Beratungshilfe bewilligt worden ist. Denn der Antragsteller kann sich in diesen Fällen von einem Anwalt nicht sinnvoll in einer Weise vertreten lassen, die nicht zugleich eine Vertretung der Interessen seiner Familienangehörigen mit umfasst. Unter diesen Umständen kann es keine Rolle spielen, dass die weiteren Familienmitglieder, die der Antragsteller mit vertreten hat, keinen eigenen Beratungshilfeanspruch geltend gemacht haben. Es ist zudem auch sachgerecht, dass in Fällen wie diesem nur ein Beratungshilfeantrag gestellt wird, da die Stellung etwa einzelner Beratungshilfeanträge für jedes Mitglied einer Bedarfsgemeinschaft als mutwillig im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 3 BerHiG anzusehen wäre, weil dadurch höhere Kosten als erforderlich verursacht würden (vgl. dazu auch BVerfG, Beschluss vom 08.02.2012, 1 BvR 1120/11).

Landgericht Kiel, Beschluss vom 05.07.2018, 7 T 8/18

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Beratungshilfe: Keine Vertretungsgebühr, wenn der Widerspruch vom Anwalt nicht begründet wird

(c) Thorben Wengert / pixelio.de

Beratungshilfe ist auch im Rahmen eines Widerspruchsverfahrens für die Vertretung durch einen Rechtsanwalt nicht „erforderlich“ im Sinne von § 2 Abs. 1 BerHG, wenn der Rechtsanwalt den Widerspruch lediglich erhebt, anschließend aber nicht begründet. Denn einen unbegründeten Widerspruch kann ein Rechtsuchender auch ohne anwaltliche Hilfe einlegen.

Landgericht Kiel, Beschluss vom 02.07.2018, 7 T 12/18

Anmerkung: Offenbar lassen die Amtsgericht in Schleswig-Holstein jetzt vermehrt die Beschwerde gegen ihre Beschlüsse in Beratungshilfesachen wegen „grundsätzlicher Bedeutung“ zu (vgl. § 56 Abs. 2 Satz 1 RVG i.V.m. § 33 Abs. 3 Satz 2 RVG). Das ist im Interesse einer Vereinheitlichung der Rechtsprechung in Beratungshilfesachen ausdrücklich zu begrüßen.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Hartz IV: Betriebskostennachforderungen sind vom Jobcenter unbefristet zu übernehmen

(c) Kurt F. Domnik / pixelio.de

Es schmeckt schon nach selektiver Rechtsanwendung vom feinsten: Ein ALG II-Bezieher wird im Jahr 2018 vom Jobcenter Kiel aufgefordert, seine Betriebskostenabrechnungen für die Jahre 2015 und 2016 zu übersenden. Die Abrechnung für 2015 schließt mit einer Nachforderung, jene für das Jahr 2016 mit einem Guthaben. Das Guthaben fordert das Jobcenter Kiel von seinem Kunden zurück, die Übernahme der Nachforderung wird indessen mit dem Hinweis abgelehnt, der „Antrag“ auf Übernahme der Nachzahlung sei als Überprüfungsantrag gemäß § 40 Abs. 1 SGB II i.V.m. § 44 SGB X zu werten, der aufgrund des Ablaufs der Überprüfungsfrist von einem Jahr abzulehnen sei.

Derartige Ablehnungen sind klar rechtswidrig. Bei der Einreichung einer Betriebskostenabrechnung, die mit einer Nachzahlung schließt, handelt es sich bereits um keinen Überprüfungsantrag. Anspruchsgrundlage für die Übernahme ist vielmehr § 40 Abs. 1 Satz 1 SGB II i.V.m. § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB X i.V.m. § 330 Abs. 3 SGB III (vgl. etwa BSG, Urteil vom 06.04.2011, B 4 AS 12/10 R).

Zudem ist im Sinne des Meistbegünstigungsgrundsatzes davon auszugehen, dass ein bereits gestellter Antrag auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts all diejenigen Leistungen umfasst, die nach Lage des Falls ernsthaft in Betracht kommen (BSG, Urteil vom 02.07.2009, B 14 AS 75/08 R, Rn. 11: sog. „Türöffner-Funktion“ des Antrages). Der Antrag auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts umfasste deswegen auch die angemessenen Kosten für Unterkunft und Heizung. Eine sachliche und zeitliche Konkretisierung der von der Antragstellung umfassten Bedarfe kann deswegen auch zu einem späteren Zeitpunkt insbesondere dann vorgenommen werden, wenn sich weitere Bedarfe erst während des laufenden Leistungsbezugs ergeben, also etwa eine Heiz- oder Betriebskostennachforderung erst nach Antragstellung fällig wird. Mit der Vorlage einer Heiz- und Betriebskostennachforderung  wird die Höhe des unterkunftsbezogenen Bedarfs insofern lediglich weiter konkretisiert, jedoch keine zusätzliche, vom Antrag nicht erfasste Leistung beantragt. Nachforderungen sind deswegen grundsätzlich unbefristet zu übernehmen (grundlegend BSG, Urteil vom 22.03.2010, B 4 AS 62/09 R).

Erstveröffentlichung in HEMPELS 01/2019

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Zur Nichtanrechnung weitergeleiteten Kindergeldes

(c) Gerd Altmann / pixelio.de

Leitet ein Elternteil Kindergeld zeitnah an das nicht im gemeinsamen Haushalt lebende Kind weiter, ist dieses bei dem weiterleitenden Elternteil nicht auf den ALG II-Anspruch anzurechnen, vgl. § 1 Abs. 1 Nr. 8 ALG II-VO.

Der Wortlaut von § 1 Abs. 1 Nr. 8 der ALG II-VO trifft keine Aussage darüber, bis wann das Kindergeld weitergeleitet worden sein muss. Eine Anrechnung scheidet jedenfalls bei zeitnaher Weiterleitung aus.

Die Weiterleitung muss nicht noch im Monat der Überweisung durch die Familienkasse, also im Zuflussmonat, erfolgen.

Einer Weiterleitung an das Kind steht eine Weiterleitung an den Träger der Jugendhilfe aufgrund eines Heranziehungsbescheides gleich.

Rechtliche Hinweise SG Kiel, Sitzungsprotokoll vom 23.01.2019, S 38 AS 638/17.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Vorläufige neue Mietobergrenzen für Kiel ab 01.01.2019

In Kiel gelten ab 01.01.2019 vorläufig die nachfolgenden neuen Mietobergrenzen (bruttokalt):

Personen im Haushalt Anzuerkennende Wohnungsgröße (in qm) Mietobergrenze in Euro
1-Personenhaushalt < 50 374,00
2-Personenhaushalt > 50 – < 60 426,00
3-Personenhaushalt > 60 – < 75 553,00
4-Personenhaushalt > 75 – < 85 665,50
5-Personenhaushalt > 85 – < 95 754,50
6-Personenhaushalt > 95 – < 105 831,50
7-Personenhaushalt > 105 – < 115 908,00
Mehrbetrag für jedes weitere Familienmitglied 10 76,50

Weitergehende Informationen finden sich hier:

Geschäftliche Mitteilung zu den neuen Kieler Mietobergrenzen 2019

Geschäftliche Mitteilung zum neuen Kieler Mietspiegel 2019

Das Jobcenter Kiel weist auf seiner aktuelle Homepage bis heute (Stand 22.02.2019) noch die alten Mietobergrenzen aus (ganz nach unten scrollen).

Zu den abschließenden Kieler Mietobergrenzen ab 01.01.2019 siehe hier:

(Wieder) Neue Mietobergrenzen für Kiel ab 01.01.2019

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Faktencheck Jobcenter Kiel: Doppelmieten

Neues Jahr, neues Format auf Sozialberatung Kiel: „Faktenscheck Jobcenter Kiel“. Das muss wohl sein, denn auch im 13. Jahr „Hartz IV“- dem verflixten – werden die alten Fehler vom Jobcenter Kiel konsequent fortgeführt, als sei zum Regelungsbereich SGB II seit 2005 keine Rechtsprechung ergangen. Heute also: Doppelmieten.

In einem Schreiben vom 14.01.2019 teilt das Jobcenter einer Mandantin mit: „Das Jobcenter übernimmt keine Doppelmieten.“ Wir prüfen das mal nur auf dieser Seite nach. Der Befund ist eindeutig, das stimmt so nicht. Unvermeidbare Doppelmieten sind vom Jobcenter zu übernehmen: SG Kiel, Urteil vom 04.04.2017, S 30 AS 407/15; SG Kiel, Urteil vom 27.09.2016, S 40 AS 500/15; SG Kiel, Urteil vom 09.05.2014, S 33 AS 613/11; SG Schleswig, Urteil vom 26.08.2010, S 25 AS 185/08).

Warum für einem Umzugswagen kein Angebot der Firma Sixt vorgelegt werden darf, ist noch das Geheimnis des Jobcenters Kiel. Vielleicht wird das ja noch gelüftet.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Rechtsmittelbelehrung muss auf elektronische Form hinweisen

(c) GesaD / pixelio.de

Seit dem 01.01.2018 muss die Rechtsbehelfsbelehrung unter Bescheiden der Jobcenter, die einen Zugang für den elektronischem Empfang von Dokumenten eröffnet haben, darauf hinweisen, dass der Widerspruch auch in elektronischer Form eingelegt werden kann. Fehlt der Hinweis auf die elektronische Einreichungsform, kann der Widerspruch noch innerhalb der Frist von einem Jahr nach Zugang eingelegt werden (LSG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 20.12.2018, L 6 AS 202/18 B ER).

Alle hier vorliegenden Bescheide des Jobcenters Kiel enthalten bisher noch eine Rechtsbehelfsbelehrung, die lediglich darauf hinweist, dass der Widerspruch „schriftliche oder zur Niederschrift“ bei der im Briefkopf genannten Stelle einzulegen ist, obwohl auch das Jobcenter Kiel den Zugang für den elektronischem Empfang von Dokumenten (EGVP) eröffnet hat. Betroffene, welche die Widerspruchsfrist versäumt haben, können deswegen derzeit noch alle Bescheide des Jobcenters Kiel aus dem Jahr 2018 mit einem Widerspruch angreifen.

Gleiches gilt im Übrigen für die Klagefrist gegen Widerspruchsbescheide, bei denen in der Rechtsmittelbelehrung der Widerspruchsbescheide nicht auch auf die elektronische Einreichungsform hingewiesen worden ist.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Auch Mietkautionsdarlehen können aufgerechnet werden

(c) Gerd Altmann / pixelio.de

Mietkautionsdarlehen nach § 22 Abs 6 SGB II sind nicht von der Aufrechnung nach § 42a Abs 2 SGB II ausgenommen.

Nach Wortlaut, Systematik, Entstehungsgeschichte und Regelungszweck umfasst die Aufrechnungsvorschrift des § 42a Abs 2 SGB II alle nach dem SGB II zu gewährenden Darlehen, soweit keine Ausnahme angeordnet ist. Das belegt für Mietkautionsdarlehen nicht zuletzt die differenzierte Vorschrift zu deren Tilgung bei der Kautionsrückzahlung durch den Vermieter in § 42a Abs 3 SGB II. Eine allgemeine Ausnahme für Mietkautionsdarlehen enthält die Vorschrift nicht.

Durchgreifende verfassungsrechtliche Bedenken wegen des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs 1 i.V.m. Art 20 Abs. 1 GG stehen einer Aufrechnung nicht grundsätzlich entgegen (vgl. BSG vom 09.03.2016, B 14 AS 20/15 R). Allerdings ist die Unterdeckung existenznotwendiger Bedarfe zu vermeiden (vgl. BVerfG vom 23.7.2014, 1 BvL 10/12), zumal die Mietkaution nicht in die Bemessung des Regelbedarfs eingeflossen ist und ihre Tilgung längere Zeit dauern kann. Zur Vermeidung einer solchen Unterdeckung im Einzelfall stehen im SGB II indes mehrere Instrumente zur Verfügung, wie die abweichend von der Soll-Regelung in § 22 Abs. 6 Satz 3 SGB II mögliche Erbringung der Mietkaution als Zuschuss, die zeitliche Aufrechnungsbegrenzung auf drei Jahre in entsprechender Anwendung von § 43 Abs 4 SGB II oder ein Erlass oder Teilerlass des Darlehens nach § 44 SGB II (Bundessozialgericht, Urteil vom 28.11.2018, B 14 AS 31/17 R).

Gut, dass das BSG diese leidige Rechtsfrage nun endlich entschieden hat. Zu bedenken ist bei aller Bedarfsunterdeckung bei denjenigen Leistungsbeziehern, die kein teilweise anrechnungsfreies Erwerbseinkommen haben, dass nach Tilgung des Darlehens der Anspruch gegen den Vermieter auf Auskehrung der Mietkaution auf sie übergeht.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Hartz IV: Vermögen immer vollständig angeben!

(c) Kurt F. Domnik / pixelio.de

Anspruch auf ALG II hat nur, wer hilfebedürftig ist, also nicht von eigenem Einkommen oder Vermögen leben kann. Von seinem Barvermögen – also Bargeld, Geld auf Konten oder etwa vermögensbildenden Lebensversicherungen – muss zunächst leben, wer über mehr als 150 € pro Lebensjahr zuzüglich 750 € verfügt (§ 12 Abs. 2 SGB II). Wird dieser Betrag überschritten, besteht kein Leistungsanspruch, bis der Vermögensfreibetrag – etwa durch Verbrauch – unterschritten ist. Wird Vermögen nicht vollständig angegeben und dies dem Jobcenter später bekannt, kann dies zu Rückforderungsansprüchen führen, die das tatsächliche Vermögen um ein Vielfaches überschreiten können.

Diese Rechtsfolge wurde von vielen Sozialgerichten, Landessozialgerichten und Kommentatoren des SGB II als unbillig angesehen und die Rückforderung auf das zu Beginn des Bewilligungszeitraumes zu berücksichtigende – also über dem Vermögensfreibetrag liegende – Vermögen beschränkt. Argumentiert wurde, dass eine Rückforderung der gesamten Leistungen für den Betroffenen eine besondere Härte entsprechend § 12 Abs. 3 Satz 1 Nr. 6 SGB II bedeuten würde.

Dem ist das BSG in zwei Entscheidungen entgegen getreten. Die Rückforderung von 31.000 € bzw. 18.000 € sei rechtmäßig, auch wenn die zu erstattenden Beträge das jeweilige Gesamtvermögen der Leistungsberechtigten überstiegen hat. Auf Vertrauensschutz könne sich nicht berufen, wer Vermögen verschweigt. Auch eine besondere Härte liege nicht vor, denn alle Betroffenen – so das BSG in seiner wenig überzeugenden Begründen – würden in einer vergleichbaren Situation gleich behandelt, so das die Härte nicht „besonders“ sei.

Allerdings könne das Jobcenter seine Erstattungsansprüche auf entsprechenden Antrag des Betroffenen nach § 44 SGB II erlassen, wenn deren Einziehung nach Lage des Einzelfalles unbillig wäre. § 44 SGB II vermittelt indessen lediglich einen – gerichtlich nur sehr eingeschränkt überprüfbaren – Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über einen Forderungserlass.

(BSG, Urteile vom 25.04.2018, B 4 AS 29/17 R und B 14 AS 15/17 R)

Erstveröffentlichung in HEMPELS 12/2018

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Bürgerbeauftragte informiert über wichtige Änderungen im Sozialrecht im Jahr 2019

Bürgerbeauftragte informiert über wichtige Änderungen im Sozialrecht im Jahr 2019. Zahlreiche Änderungen im Sozialrecht werden zu Beginn des Jahres 2019 für die Bürger von großer Bedeutung sein. Die Bürgerbeauftragte für soziale Angelegenheiten des Landes Schleswig-Holstein, Samiah El Samadoni, gibt einen Überblick:

Änderungen bei der Grundsicherung für Arbeitssuchende („Hartz IV“):

Erhöhung der Regelsätze: Zum 1. Januar 2019 erhöht sich der Regelsatz für alleinstehende und alleinerziehende Personen von 416 Euro auf 424 Euro im Monat. Ehegatten und Lebenspartner erhalten statt 374 Euro künftig 382 Euro. Der Regelsatz für Jugendliche (vom 14. bis zum 18. Geburtstag) erhöht sich um 6 Euro auf 322 Euro. Für Kinder vom 6. bis zum 14. Geburtstag werden statt 296 Euro ab Januar 302 Euro geleistet. Kleinkinder bis zum 6. Geburtstag bekommen 5 Euro mehr als bisher und damit 245 Euro. Erwachsene mit einer Behinderung, die in einer stationären Einrichtung leben, sowie nichterwerbsfähige Erwachsene unter 25 Jahren, die im elterlichen Haushalt wohnen, erhalten weiter einen geringeren Regelsatz. Statt 332 Euro beträgt dieser ab Januar aber 339 Euro.

Unterstützung von Langzeitarbeitslosen: Zum 1. Januar 2019 werden durch das sog. „Teilhabechancengesetz“ zwei neue Möglichkeiten zur Förderung von Langzeitarbeitslosen auf dem allgemeinen und sozialen Arbeitsmarkt geschaffen. Für Personen, die sechs Jahre lang Arbeitslosengeld II („Hartz IV“) bezogen haben, erhalten künftige Arbeitgeber in den ersten beiden Jahren einer Anstellung einen Lohnkostenzuschuss von 100 Prozent. In jedem weiteren Jahr wird dieser Zuschuss um 10 Prozentpunkte gekürzt. Die Dauer der Förderung soll maximal fünf Jahre betragen und sieht zusätzlich ein begleitendes Coaching für die Beschäftigten und Arbeitgeber vor. Für Personen, die Arbeitslosengeld II beziehen und seit mindestens zwei Jahren arbeitssuchend sind, kann künftig für sozialversicherungspflichtige Beschäftigungen ebenfalls ein Lohnkostenzuschuss gewährt werden. Dieser beträgt im ersten Jahr der Anstellung 75 Prozent, im zweiten Jahr sind es 50 Prozent.

Änderungen in der Arbeitsförderung:

Beitrag zur Arbeitslosenversicherung: Der Beitragssatz sinkt zum 1. Januar 2019 von 3 Prozent auf 2,5 Prozent des Bruttoeinkommens.

Bessere Förderung: Beschäftigte erhalten künftig eine bessere Weiterbildungsförderung unabhängig von Qualifikation, Lebensalter und Betriebsgröße, wenn sie infolge des digitalen Strukturwandels Weiterbildungsbedarf haben oder in sonstiger Weise vom Strukturwandel betroffen sind. Darüber hinaus werden einzelne Förderleistungen verbessert: Neben der Zahlung von Weiterbildungskosten werden die Möglichkeiten für Zuschüsse zum Arbeitsentgelt bei einer Weiterbildung erweitert. Beides ist jedoch grundsätzlich an eine Kofinanzierung durch den Arbeitgeber gebunden und in der Höhe abhängig von der Unternehmensgröße.

Änderungen in der Sozialhilfe (SGB XII):

Erhöhung der Regelsätze: Auch in der Sozialhilfe gelten ab Januar 2019 die erhöhten Regelsätze, die den Beträgen bei der Grundsicherung für Arbeitssuchende entsprechen. So erhalten zum Beispiel auch Menschen im Rentenalter oder Personen mit einer vollen Erwerbsminderung künftig einen Regelsatz von 424 Euro statt 416 Euro, wenn sie alleinstehend oder alleinerziehend sind.

Änderungen in der gesetzlichen Krankenversicherung:

Paritätische Beiträge: Ab Januar 2019 werden die Beiträge zur Krankenversicherung wieder in gleichem Maße von Arbeitgebern und Beschäftigten geleistet. Der kassenabhängige Zusatzbeitrag wird damit künftig ebenfalls paritätisch finanziert.

Beitragsentlastung für Selbständige: Selbstständige, die in der gesetzlichen Krankenkasse freiwillig versichert sind, werden ab dem kommenden Jahr bei den Mindestbeiträgen den übrigen freiwillig Versicherten gleichgestellt. Es gilt dann eine einheitliche Mindestbemessungsgrundlage von 1.038,33 Euro. Bislang wird hauptberuflich Selbständigen ein fiktives Mindesteinkommen von 2.283,50 Euro unterstellt. Künftig wird deren Mindestbeitrag damit mehr als halbiert, auf rund 160 Euro im Monat. Zudem ist es für die Beitragsbemessung dann nicht mehr erforderlich, zwischen haupt- und nebenberuflich Selbstständigen zu unterscheiden.

Erweitertes Angebot bei den Terminservicestellen: Voraussichtlich ab April 2019 können sich Versicherte auch zur Terminvermittlung zu Haus- und Kinderärzten und wegen einer Unterstützung bei der Suche nach dauerhaft versorgenden Haus-, Kinder- und Jugendärzten an die Servicestellen wenden. Die Terminservicestellen sollen dafür neben der Telefonzentrale auch ein Online-Angebot einrichten.

HIV-Prophylaxe: Versicherte mit einem substantiellen HIV-Infektionsrisiko sollen ab Frühjahr 2019 einen Anspruch auf die sogenannten „Präexpositionsprophylaxe“ (PrEP) erhalten. Erforderliche ärztliche Beratungen, Untersuchungen und Arzneimittel werden von den Kassen dann erstattet.

Künstliche Befruchtung: Ebenfalls ab Frühjahr 2019 soll der Anspruch auf eine künstliche Befruchtung um die Kryokonservierung von Keimzellgewebe, Ei- und Samenzellen erweitert werden, wenn eine keimzellschädigende Behandlung (z. B. bei einer Krebserkrankung) zu Fertilitätsverlust führen könnte und die Kryokonservierung erforderlich ist, um eine künstliche Befruchtung zu ermöglichen.

Änderungen in der gesetzlichen Rentenversicherung:

Verbesserung bei der Erwerbsminderungsrente: Die sogenannte „Zurechnungszeit“ wird für künftige Renten wegen Erwerbsminderung ab dem Jahr 2019 auf 65 Jahre und acht Monate angehoben. Anschließend wird sie entsprechend der Anhebung der Regelaltersgrenze auf 67 Jahre verlängert. Bislang müssen Betroffene Rentenabschläge von häufig über 10,00 Prozent in Kauf nehmen – vergleichbar mit Menschen, die freiwillig eine vorzeitige Rente beanspruchen.

Anpassung der „Mütterrente“: Mütter – in seltenen Fällen stattdessen auch Väter – von Kindern, die vor 1992 geboren sind, erhalten bislang nur zwei Jahre statt drei Jahren Erziehungszeit für ihre Rentenansprüche angerechnet. Künftig wird es einen halben weiteren Rentenpunkt geben – entgegen den ursprünglichen Plänen im Koalitionsvertrag zwischen Union und SPD, die noch einen ganzen Rentenpunkt vorgesehen hatten.

Änderungen in der sozialen Pflegeversicherung:

Erhöhung der Beiträge: Zum 1. Januar 2019 werden die Beiträge zur Pflegeversicherung um 0,5 Prozentpunkte angehoben. Kinderlose Versicherte zahlen dann 3,30 Prozent des Bruttoeinkommens in die Pflegeversicherung, für Beitragszahler mit Kindern sind es 3,05 Prozent. 4

Änderungen in der Kinder- und Jugendhilfe:

Erhöhung der Pflegepauschale: Die monatliche Pauschale für den Unterhalt von Pflegekindern erhöht sich in Schleswig-Holstein für Kinder vom 12. bis zum 18. Geburtstag um 33 Euro auf 954 Euro. Vom 6. bis zum 12. Geburtstag werden künftig 889 Euro gezahlt; bislang sind es 837 Euro. Für kleinere Kinder sind ab Januar 2019 805 Euro statt 762 Euro vorgesehen.

Änderungen beim Kindergeld:

Höheres Kindergeld: Ab dem 1. Juli 2019 steigt das Kindergeld in der um 10,00 € monatlich. Eltern bekommen dann 204 Euro statt 194 Euro für das erste und zweite Kind. Beim dritten Kind werden es künftig 210 Euro, für jedes weitere Kind werden 235 Euro gezahlt. Bereits zum 1. Januar 2019 erhöht sich der Kinderfreibetrag von 7.428 Euro auf 7.620 Euro im Jahr. Auf diese Summe wird für Eltern keine Einkommenssteuer fällig.

Quelle: Pressemitteilung Nr. 204 / 13. Dezember 2018


Selbständige aufgepasst!

(c) Bernd Kasper / pixelio.de

Selbständige und auch Beschäftigte mit schwankendem Einkommen, die ihr Einkommen mit ALG II (Hartz IV) aufstocken, müssen seit einer Rechtsänderung zum 01.08.2016 aufpassen: Wurde ihnen für den Bewilligungszeitraum ALG II vorläufig bewilligt und kommen sie der Aufforderung des Jobcenters, die Höhe ihrer tatsächlichen Einkünfte innerhalb einer angemessenen Frist (bei Selbständigen mindestens 2 Monate) nachzuweisen nicht nach, kann das Jobcenter feststellen, dass ein Leistungsanspruch nicht bestanden hat. Diese Regelung, die sich eher versteckt in § 41a Abs. 3 Satz 4 SGB II findet und den meisten Leistungsberechtigten nicht bekannt ist, hat zur Folge, dass die ALG II-Leistungen für den gesamten Bewilligungsabschnitt zurückzuzahlen sind, und zwar unabhängig davon, ob überhaupt Einkommen erzielt wurde und wie hoch dieses tatsächlich war.

Das Bundessozialgericht (BSG) hat nun entschieden, dass zumindest im Rahmen eines Widerspruchsverfahrens gegen die abschließende Leistungsfestsetzung auf Null eine Prüfung der tatsächlichen Einkommenshöhe unter Berücksichtigung der erst im Widerspruchsverfahren eingereichten Einkommensnachweise zu erfolgen hat. Betroffenen, bei denen der Leistungsanspruch nachträglich auf Null festgesetzt wurde, sollten deswegen Widerspruch gegen diese Festsetzung erheben. Wer die Widerspruchsfrist von einem Monat unverschuldet nicht einhalten konnte, kann die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragen. Bei Wegfall des Hindernisses ist der Widerspruch innerhalb eines Monats nachzuholen und der Antrag auf Wiedereinsetzung zu begründen (§ 67 SGG).

(BSG, Urteil vom 12.09.2018, B 14 AS 39/17 R)

Erstveröffentlichung in HEMPELS 11/2018

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Wie Jobcenter gerichtliche Eilverfahren vermeiden können – und wie nicht!

Vor der Inanspruchnahme gerichtlichen Eilrechtsschutzes ist Behörden die Möglichkeit zu geben, ihr Verwaltungshandeln zu überprüfen und gegebenenfalls zu korrigieren. Hierzu ist den Sozialbehörden eine angemessene Frist zu gewähren, die – je nach Sachverhalt und Eilbedürftigkeit – zwischen einem halben Werktag (Sozialgericht Schleswig, Beschluss vom 07.11.2007, S 7 AS 770/07 ER) und zwei Wochen liegen kann.

Möchten Behörden Eilverfahren vermeiden, empfiehlt es sich für diese, sich innerhalb der gesetzten Frist wenigstens bei den Bevollmächtigten zu melden – und sei es nur, um eine Fristverlängerung zu erwirken. Das sollten die Sachbearbeiter der Grundsicherungsträger – wenn sie denn schon das Telefon benutzen möchten – sinnvoller Weise aber nicht mit unterdrücken Rufnummern und ohne eine Nachricht auf etwaigen Anrufbeantwortern machen. Denn dann – oh Wunder – erreicht die Nachricht die Bevollmächtigten nicht mit der Folge, dass die Grundsicherungsträger die Kosten sozialgerichtlicher Eilverfahren zu tragen haben:

„Die offenbar zuvor an diesem Tag mit unterdrückter Rufnummer und ohne das Hinterlassen einer Nachricht auf dem Anrufbeantworter des Prozessbevollmächtigten unternommenen telefonischen Kontaktversuche des Antragsgegners haben den Prozessbevollmächtigten nach seinem nachvollziehbaren Vortrag nicht erreicht. Die Kammer geht davon aus, dass es bei diesem Hergang nach dem Veranlassungsprinzip der Antragsgegner allein zu vertreten hat, dass ein gerichtliches Eilverfahren angestrengt wurde.“ (SG Kiel, Kostenbeschluss vom 05.11.2018, S 41 AS 276/18 ER)

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Schadensersatzzahlungen nicht auf ALG II anzurechnen

(c) Gerd Altmann / pixelio.de

Auf den ALG II-Anspruch anzurechnendes Einkommen im Sinne des § 11 Abs. 1 Satz 1 SGB II ist nach der ständigen Rechtsprechung des BSG grundsätzlich alles, was ein ALG II-Empfänger nach der Antragstellung wertmäßig dazu erhält, und Vermögen im Sinne von § 12 Abs. 1 SGB II, für das die Vermögensfreigrenzen gelten, das, was jemand vor der Antragstellung bereits hatte. Aus diesem Grunde sind etwa die Auszahlung eines eigenen Sparguthabens auf das eigene Girokonto oder Geldzuflüsse aus dem Verkauf eigener Sachen als bloße Umschichtungen bereits vorhandener Werte kein Einkommen, welches auf ALG II-Leistungen anzurechnen ist.

Genauso verhält es sich bei dem vom Schädiger an einen ALG II-Empfänger in monatlichen Raten von 150 € zu zahlenden Wertersatz für die Entziehung  oder Beschädigung eines eigenen Vermögensgegenstandes – hier wegen der Unterschlagung von Baumaschinen und Baumaterial im Wert von 30.000 DM -, denn durch den Wertersatz erhält der ALG II-Empfänger keinen Wert hinzu, den er nicht vorher schon hatte. Dass zwischen dem Wertverlust und den Zahlungen an den ALG II-Empfänger ein Zeitraum von über zehn Jahren lag, steht dem Regelungskonzept des SGB II, nur Wertzuwächse als zur Bedarfsdeckung einzusetzendes Einkommen zu qualifizieren, nicht entgegen.

(BSG, Urteil vom 09.08.2018, B 14 AS 20/17 R)

Erstveröffentlichung in HEMPELS 10/2018

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Das Anwaltspostfach kommt mit Sicherheitslücken

Das besondere elektronische Anwaltspostfach (BeA) ist am 01.09.2018 wieder an den Start gegangen. Es war seit Dezember vergangenen Jahres aufgrund zahlreicher Sicherheitslücken offline. Nach wie vor sind viele Fragen in Sachen Sicherheit ungeklärt. Ein Beitrag von Hanno Böck auf golem.de:

https://www.golem.de/news/bea-das-anwaltspostfach-kommt-mit-sicherheitsluecken-1809-136346.html


Zur Notwendigkeit eines Umzuges i.S.v. § 22 Abs. 6 Satz 2 SGB II

Der Umzug aus einer Wohnung, die nicht den Vorgaben des § 48 LBO SH entspricht, ist notwendig im Sinne von § 22 Abs. 6 Satz 2 SGB II (SG Kiel, Beschluss vom 31.08.2018, S 31 AS 241/18 ER).

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Mietobergrenzen im Kreis Segeberg teilweise falsch berechnet

Schleswig-Holsteinisches LSG

Nach einer aktuellen Entscheidung des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts hat die Firma empirica und dem folgend auch das Jobcenter im Kreis Segeberg die Mietobergrenze im Vergleichsraum IV-Ost für einen 3-Personenaushalt (75 qm große Mietwohnungen) aufgrund eines Rundungsfehlers falsch bestimmt. Anstatt 490,00 € beträgt die Mietobergrenze für einen 3-Personenaushalt demnach 500,00 € inklusive kalter Betriebskosten. Eine Abschließende Prüfung, ob das Berechnungskonzept des Kreises Segeberg den Anforderungen an ein sog. „schlüssiges Konzept“ im Sinne der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts genügt, wird das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht in einem Hauptsacheverfahren prüfen.

Weiter hat das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht entschieden, dass ein Umzug nach § 22 Abs. 6 Satz 2 SGB II auch dann „notwendig“ ist, wenn alleinerziehende Leistungsberechtigte – hier aufgrund des unerwarteten Todes der Mutter, die zuvor Betreuungsaufgaben übernommen hatte – in die Nähe von Verwandten ziehen wollen. Denn die – hier glaubhafte gemachte – Möglichkeit und Bereitschaft der Schwester, sich mit um die Kinder zu kümmern, erhöht auch die Eingliederungschancen alleinerziehender Leistungsberechtigter in den Arbeitsmarkt.

Schleswig-Holsteinischen Landessozialgericht, Beschluss vom 09.08.2018, L 3 AS 144/18 B ER

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Leistungen für die Unterkunft für unter 25jährige auch ohne Zustimmung des Jobcenters

Bundessozialgericht in Kassel

Wollen unter 25jährige ALG II-Bezieher umziehen, werden Bedarfe für Unterkunft und Heizung für die neue Unterkunft bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres nur anerkannt, wenn das Jobcenter eine Kostenübernahme vor Abschluss des Vertrages über die neue Unterkunft zugesichert hat. Der kommunale Träger ist zur Zusicherung verpflichtet und macht dies in der Regel auch nur dann, wenn der junge Leistungsberechtigte aus schwerwiegenden sozialen Gründen nicht auf die Wohnung der Eltern oder eines Elternteils verwiesen werden kann, der Bezug der Unterkunft zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt erforderlich ist oder ein sonstiger, ähnlich schwerwiegender Grund vorliegt (§ 22 Abs. 5 SGB II).

Das Bundessozialgericht (BSG) hat nun entschieden, dass eine Ablehnung der Übernahme von Unterkunftskosten nach einem Umzug ohne vorherige Zusicherung durch das Jobcenter aufgrund von wichtigen Umzugsgründen voraussetzt, dass der unter 25jährige ALG II-Bezieher überhaupt einen Vertrag über eine neue Unterkunft abgeschlossen hat. Dies ist beispielsweise dann nicht der Fall, wenn ein junger Leistungsberechtigter in die Wohnung von Freunden, Bekannten oder etwa – wie in dem dem BSG zur Entscheidung vorliegenden Fall – zur Familie der Freundin zieht, ohne einen Mietvertrag abzuschließen.  In diesen Fällen hat der unter 25jährige ALG II-Bezieher Anspruch auf Leistungen für Unterkunft und Heizung in Höhe des auf ihn entfallenden sog. Kopfteils der Gesamtmiete.

(BSG, Urteil vom 25.04.2018, B 14 AS 21/17 R)

Erstveröffentlichung in HEMPELS 07/2018

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


BGH: Sozialleistungsträger müssen umfassend über alle in Frage kommenden Leistungsansprüche beraten

(c) GesaD / pixelio.de

Der Bundesgerichtshofs hat sich heute in einer Entscheidung mit der Frage befasst, welche Anforderungen an die Beratungspflicht eines Sozialhilfeträgers nach § 14 Satz 1 SGB I zu stellen sind, wenn bei Beantragung von laufenden Leistungen der Grundsicherung wegen Erwerbsminderung (§§ 41 ff SGB XII) ein dringender rentenversicherungsrechtlicher Beratungsbedarf erkennbar ist.

Geklagt hatte ein Mann, der mit seiner Behinderung eigentlich eine Erwerbsminderungsrente hätte bekommen müssen. Die Rente hatte er wegen lückenhafter Beratung beim Sozialamt aber nicht beantragt. Stattdessen beantragte er nur die deutlich niedrigere Grundsicherung. Seit dem Jahre 2004 seien ihm dadurch mehr als 50.000 € entgangen. Der Bundesgerichtshof sprach dem Kläger nun gemäß § 839 BGB i.V.m. Art 34 GG (Amtshaftungsanspruch) Schadensersatz zu und führt zur Begründung aus (Presseerklärung):

„Im Sozialrecht bestehen für die Sozialleistungsträger besondere Beratungs- und Betreuungspflichten. Eine umfassende Beratung des Versicherten ist die Grundlage für das Funktionieren des immer komplizierter werdenden sozialen Leistungssystems. Im Vordergrund steht dabei nicht mehr nur die Beantwortung von Fragen oder Bitten um Beratung, sondern die verständnisvolle Förderung des Versicherten, das heißt die aufmerksame Prüfung durch den Sachbearbeiter, ob Anlass besteht, den Versicherten auch von Amts wegen auf Gestaltungsmöglichkeiten oder Nachteile hinzuweisen, die sich mit seinem Anliegen verbinden; denn schon gezielte Fragen setzen Sachkunde voraus, über die der Versicherte oft nicht verfügt. Die Kompliziertheit des Sozialrechts liegt gerade in der Verzahnung seiner Sicherungsformen bei den verschiedenen versicherten Risiken, aber auch in der Verknüpfung mit anderen Sicherungssystemen. Die Beratungspflicht ist deshalb nicht auf die Normen beschränkt, die der betreffende Sozialleistungsträger anzuwenden hat.

Ist anlässlich eines Kontakts des Bürgers mit einem anderen Sozialleistungsträger für diesen ein zwingender rentenversicherungsrechtlicher Beratungsbedarf eindeutig erkennbar, so besteht für den aktuell angegangenen Leistungsträger auch ohne ein entsprechendes Beratungsbegehren zumindest die Pflicht, dem Bürger nahezulegen, sich (auch) von dem Rentenversicherungsträger beraten zu lassen (vgl. § 2 Abs. 2 Halbsatz 2, § 17 Abs. 1 SGB I).

Auf der Grundlage der von den Vorinstanzen getroffenen Feststellungen bestand im vorliegenden Fall ein dringender Beratungsbedarf in einer wichtigen rentenversicherungsrechtlichen Frage. Dies war für die Grundsicherungsbehörde beziehungsweise das Sozialamt des Beklagten ohne weitere Ermittlungen eindeutig erkennbar. Der zu 100 % schwerbehinderte Kläger hatte nach dem Besuch einer Förderschule für geistig Behinderte berufsbildende Maßnahmen erfolgreich absolviert und war anschließend in einer Werkstatt für behinderte Menschen tätig (versicherungspflichtige Beschäftigung). Er war jedoch auf Grund seiner Behinderung außerstande, seinen notwendigen Lebensunterhalt aus eigenen Mitteln (Einkommen, Vermögen) zu bestreiten. In einer solchen Situation musste ein mit Fragen der Grundsicherung bei Erwerbsminderung befasster Sachbearbeiter des Sozialamts mit Blick auf die Verzahnung und Verknüpfung der Sozialleistungssysteme in Erwägung ziehen, dass bereits vor Erreichen der Regelaltersgrenze ein gesetzlicher Rentenanspruch wegen Erwerbsunfähigkeit bestehen konnte. Es war deshalb ein Hinweis auf die Notwendigkeit einer Beratung durch den zuständigen Rentenversicherungsträger geboten.“

BGH, Urteil vom 2. August 2018 – III ZR 466/16, Presseerklärung Nr. 130/2018

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Zur Privilegierung von Schülereinkommen

(c) Dr. Klaus-Uwe Gerhardt / pixelio.de

Einkommen von Schülern unter 25 Jahren aus einer Erwerbstätigkeit, welche in den Schulferien für höchstens vier Wochen im Jahr ausgeübt wird, ist bis zu einem Betrag von 1.200 € pro Kalenderjahr nicht auf Leistungen nach dem SGB II (ALG II, Sozialgeld) anzurechnen (§ 1 Abs. 4 ALG II-VO). In einem Klageverfahren war nun streitig, ob auch das Erwerbseinkommen eines Leistungsberechtigten unter 25 Jahre für den Monat August 2015 anrechnungsfrei bleibt, in dem dieser bereits einen Schulplatz sicher zugesagt bekommen und das Schuljahr auch begonnen hatte, dieser aber noch nicht eingeschult war.

Das Sozialgericht Schleswig hat diese Frage verneint. Der Kläger war nach Auffassung des Sozialgerichts im Monat August 2015 bereits noch kein „Schüler“, da die Schülereigenschaft erst mit der Aufnahme in ein öffentlich-rechtliches Schulverhältnis mit der Einschulung erfolge, nicht aber mit Beginn des Schuljahres. Zudem habe der Kläger seine Tätigkeit im August 2015 auch nicht „in den Schulferien“ ausgeübt. Das Gericht versteht diesen Begriff als die Zeit zwischen zwei Schulabschnitten. Daher könne die Zeit vor der erstmaligen Begründung eines öffentlich rechtlichen Schulverhältnisses nicht als „Ferien“ bezeichnet werden. Gründe für eine erweiternde Auslegung der Ausnahmevorschrift des  § 1 Abs. 4 ALG II-VO hat das Sozialgericht nicht gesehen.

(SG Schleswig, Urteil vom 25.04.2018, S 16 AS 128/16)

Erstveröffentlichung in HEMPELS 08/2018

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Hartz IV: Ein Umzug muss auch für Alleinerziehende zumutbar sein

(c) Gerd Altmann / pixelio.de

Leben Bezieher von ALG II in einer nach den Vorgaben ihrer Stadt oder Gemeinde zu teuren Wohnung, sind sie verpflichtet, ihre Unterkunftskosten – in der Regel durch Umzug – auf ein angemessenes Maß zu senken. Allerdings sind auch „abstrakt“ zu hohe Mietkosten so lange anzuerkennen, wie es den Leistungsberechtigten nicht möglich oder nicht zumutbar ist, ihre Unterkunftskosten zu senken. Das regelt § 22 Abs. 1 Satz 3 SGB II.

Unmöglichkeit oder Unzumutbarkeit eines Umzuges

„Unmöglich“ ist eine Senkung der Unterkunftskosten durch Umzug, wenn die Leistungsberechtigten Wohnraum innerhalb der jeweiligen Mietobergrenzen in ihrem örtlichen Suchumfeld (in der Regel die Stadt oder die Gemeinde, in der die betroffenen Personen wohnen) nicht finden können. Ihre erfolglosen Suchbemühungen müssen die Betroffenen gegenüber den Jobcentern und Gerichten dabei sehr genau nachweisen (Suchhilfen finden sich hier: Vordruck Wohnungssuche Telefonate, Vordruck Wohnungssuche Vorsprache). So lange eine Senkung der Unterkunftskosten nachweislich unmöglich ist, sind vom Jobcenter die tatsächlichen Mietkosten weiter zu übernehmen.

„Unzumutbar“ kann ein Umzug auch dann sein, wenn Leistungsberechtigte nach dem SGB II (Hartz IV) ihr „soziales Umfeld“ aufgeben müssten, um eine kostenangemessene Wohnung zu finden. Für erwachsene Leistungsberechtigte bedeutet das vereinfacht gesagt, dass sie zur Kostensenkung ihr Stadt oder Gemeinde nicht verlassen müssen. Gibt es kostenangemessenen Wohnraum nur außerhalb ihres bisherigen sozialen Umfeldes, müssen Leistungsberechtigte dorthin nicht umziehen und das Jobcenter muss die tatsächlichen – „abstrakt“ zu hohen – Mietkosten der bewohnten Wohnung weiter anerkennen.

Näheres soziales Umfeld Alleinerziehender, Kinder und kranker Menschen zu beachten

Allerdings können Umstände vorliegen, die eine besondere Bindung an ein „näheres soziales Umfeld“ begründen, das kleiner ist als die ganze Stadt oder Gemeinde. Dies kann die Obliegenheiten von Leistungsempfängern einschränken, die Kosten der Unterkunft durch einen Umzug in weiter entfernt liegende Stadtteile zu senken. Bei der Bestimmung des maßgeblichen Suchumfeldes, innerhalb dessen ein Umzug noch zumutbar ist, sind persönliche Umstände wie etwa das nähere soziale und schulische Umfeld minderjähriger schulpflichtige Kinder, Alleinerziehender oder gesundheitlich eingeschränkter Menschen zu beachten. Aus diesen persönlichen Umständen können Gründe resultieren, die zu einer Einschränkung der Obliegenheit zur Senkung unangemessener Kosten der Unterkunft im Sinne einer „subjektiver Unzumutbarkeit“ führen (BSG, Urteil vom 20.08.2012, B 14 AS 13/12 R, Rn. 21 im Zusammenhang mit der Situation einer alleinerziehenden Mutter mit einem 10-jährigen Kind in der Stadt Kiel).

Näheres soziales Umfeld kann Stadtteil und „Nahbereich“ hierzu sein

In einer aktuellen Entscheidung hat das Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht nun entschieden, dass eine alleinerziehende Mutter mit drei Kindern derzeit auf eine Wohnung im Stadtteil Friedrichsort oder im Nahbereich dazu angewiesen ist, welche der Bindung an ihr persönliches Umfeld Rechnung trägt. Bei einem Wohnungswechsel in entferntere Stadtteile würde ein Rückgriff auf die bestehende Infrastruktur verloren gehen. Hierdurch würde sich die Situation der Familie deutlich verschlechtern. Die Mutter absolviert seit Ende Februar 2018 eine Umschulung. Sie hat dort eine werktägliche Anwesenheitspflicht von 8.00 bis 15.00 Uhr. Als alleinerziehende Mutter ist sie vor allen in dieser Zeit auf die Unterstützung Dritter angewiesen. Dies ist durch die gut vernetzte Nachbarschaft – in der die Familie seit circa zehn Jahren leben – gewährleistet. So werden die Kinder regelmäßig ein paar Mal im Monat morgens von den Nachbarn betreut. Die Nachbarn springen ein, wenn die Antragstellerin zu 1) Hilfe braucht. Es bestehen bei schlechtem Wetter Fahrgemeinschaften zur Schule der Kinder oder zum Fußballverein eines der Kinder. Zudem besuchen zwei Kinder nach dem Unterricht die betreute Grundschule ihrer Schule. Die meisten der ohnehin nicht zahlreichen Wohnungen, die das Jobcenter Kiel benannt hat oder die die Familie im Rahmen ihrer Suche ermitteln konnten, liegen in den Stadtteilen Kiel-Gaarden oder Kiel-Mettenhof. Bei einem Umzug in eine solche Wohnung wäre der Familie aufgrund der Entfernung ein Rückgriff auf ihr soziales Umfeld nicht mehr möglich. Die derzeitige Nachbarschaft wäre nur durch lange Busfahrten mit mehrmaligen Umsteigen zu erreichen. Die einzigen zwei Wohnungen im näheren Umfeld der Antragsteller sind zumindest nicht größenangemessen.

Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, Beschluss vom 04.07.2018, L 6 AS 105/18 B ER

Zum Thema siehe auch: Hartz IV: Ein Umzug muss auch für Kinder zumutbar sein

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Rundfunkbeitrag für Zweitwohnungen verfassungswidrig

Die Rundfunkbeitragspflicht ist im privaten und im nicht privaten Bereich im Wesentlichen mit der Verfassung vereinbar. Mit dem allgemeinen Gleichheitssatz nicht vereinbar ist allerdings, dass auch für Zweitwohnungen ein Rundfunkbeitrag zu leisten ist. Dies hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts mit Urteil vom heutigen Tage auf die Verfassungsbeschwerden dreier beitragspflichtiger Bürger und eines Unternehmens hin entschieden und die gesetzlichen Bestimmungen zur Beitragspflicht für Zweitwohnungen für mit dem Grundgesetz unvereinbar erklärt. Er hat den zuständigen Landesgesetzgebern aufgegeben, insofern bis zum 30. Juni 2020 eine Neuregelung zu treffen. Nach dem Urteil steht das Grundgesetz der Erhebung von Beiträgen nicht entgegen, die diejenigen an den Kosten einer öffentlichen Einrichtung beteiligen, die von ihr – potentiell – einen Nutzen haben. Beim Rundfunkbeitrag liegt dieser Vorteil in der Möglichkeit, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk nutzen zu können. Auf das Vorhandensein von Empfangsgeräten oder einen Nutzungswillen kommt es nicht an. Die Rundfunkbeitragspflicht darf im privaten Bereich an das Innehaben von Wohnungen anknüpfen, da Rundfunk typischerweise dort genutzt wird. Inhaber mehrerer Wohnungen dürfen für die Möglichkeit privater Rundfunknutzung allerdings nicht mit insgesamt mehr als einem vollen Rundfunkbeitrag belastet werden.

Eine Neuregelung durch die Gesetzgeber hat spätestens bis zum 30. Juni 2020 zu erfolgen. Ab dem Tag der Verkündung dieses Urteils sind bis zu einer Neuregelung Personen, die Ihrer Rundfunkbeitragspflicht bezüglich der Erstwohnung nachkommen, auf Antrag von einer Beitragspflicht für weitere Wohnungen zu befreien. Wer bereits Rechtsbehelfe anhängig gemacht hat, über die noch nicht abschließend entschieden ist, kann einen solchen Antrag rückwirkend stellen. Bereits bestandskräftige Festsetzungsbescheide vor der Verkündung dieses Urteils bleiben hingegen unberührt.

Quelle: Pressemitteilung Nr. 59/2018 vom 18. Juli 2018

BVerfG, Urteile vom 18. Juli 2018, 1 BvR 1675/16, 1 BvR 981/17, 1 BvR 836/17, 1 BvR 745/17


Alleinerziehende: Leistungen für die Unterkunft wie Alleinstehende

Bundessozialgericht in Kassel

In einem aktuellen Urteil hat das Bundessozialgericht (BSG) klargestellt, dass alleinerziehende Eltern im ALG II-Bezug, deren Kinder aufgrund von eigenem bedarfsdeckenden Einkommen nicht hilfebedürftig sind, einen Anspruch auf Leistungen für die Unterkunft für eine Ein-Personen-Bedarfsgemeinschaft (in Kiel derzeit: 361 € bruttokalt) haben.

Bei alleinerziehenden Eltern im ALG II-Bezug kann es vorkommen, dass die Kinder aufgrund von eigenen Einkünften wie etwa Unterhalt, Kindergeld und Kinderwohngeld keinen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II (Hartz IV) haben. In diesem Fall bilden die Kinder mit ihrem Elternteil, bei dem sie leben, keine so genannte „Bedarfsgemeinschaft“ (§ 7 Abs. 3 Nr. 4 SGB II). Dies wiederum hat zur Folge, dass das Jobcenter Leistungen für die Unterkunft nur dem alleinerziehenden Elternteil erbringt und sich folglich die Angemessenheitsgrenze an der Mietobergrenze für einen Ein-Personen-Haushalt zu orientieren hat. Bei einer alleinerziehenden Mutter sind in Kiel deswegen für die Mutter bis zu 361 € bruttokalt anstatt lediglich die Hälfte der Mietobergrenze für eine Zwei-Personen-Bedarfsgemeinschaft in Höhe von 411,00 € bruttokalt (also 205,50 € bruttokalt) anzuerkennen. Dem Argument der Vorinstanz, die Einkommensverhältnisse des Kindes könnten sich jederzeit ändern und die tatsächlichen Wohnverhältnisse entsprächen nicht zwei Ein-Personenhaushalten, ist das BSG nicht gefolgt.

(BSG, Urteil vom 25.04.2018, B 14 AS 14/17 R; so schon SG Kiel, Beschlüsse vom 11.08.2016, S 43 AS 185/16 ER und 30.11.2016, S 39 AS 289/16 ER, siehe Hempels 2/2017)

Erstveröffentlichung in HEMPELS 06/2018

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Neue Mietobergrenzen im Kreis Plön ab 01.04.2018

Seit dem 01.04.2018 gelten im Kreis Plön neue Miet­ober­grenzen. Bei der Be­rechnung wird die Brutto­kalt­miete (Netto­kalt­miete inklusive der kalten Betriebs­kosten) zugrunde gelegt. Die Mietobergrenzentabelle findet sich hier.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Hartz IV: Ein Umzug muss auch für Kinder zumutbar sein

(c) Gerd Altmann / pixelio.de

Leben Bezieher von ALG II in einer nach den Vorgaben ihrer Stadt oder Gemeinde zu teuren Wohnung, sind sie verpflichtet, ihre Unterkunftskosten – in der Regel durch Umzug – auf ein angemessenes Maß zu senken. Allerdings sind auch „abstrakt“ zu hohe Mietkosten so lange anzuerkennen, wie es den Leistungsberechtigten nicht möglich oder nicht zumutbar ist, ihre Unterkunftskosten zu senken. Das regelt § 22 Abs. 1 Satz 3 SGB II.

„Unmöglich“ ist eine Senkung der Unterkunftskosten durch Umzug, wenn die Leistungsberechtigten Wohnraum innerhalb der jeweiligen Mietobergrenzen in ihrem örtlichen Suchumfeld (in der Regel die Stadt oder die Gemeinde, in der die betroffenen Personen wohnen) nicht finden können. Ihre erfolglosen Suchbemühungen müssen die Betroffenen gegenüber den Jobcentern und Gerichten dabei sehr genau nachweisen (Suchhilfen finden sich hier: Vordruck Wohnungssuche Telefonate, Vordruck Wohnungssuche Vorsprache). So lange eine Senkung der Unterkunftskosten nachweislich unmöglich ist, sind vom Jobcenter die tatsächlichen Mietkosten weiter zu übernehmen.

„Unzumutbar“ kann ein Umzug auch dann sein, wenn Leistungsberechtigte nach dem SGB II (Hartz IV) ihr „soziales Umfeld“ aufgeben müssten, um eine kostenangemessene Wohnung zu finden. Für erwachsene Leistungsberechtigte bedeutet das vereinfacht gesagt, dass sie zur Kostensenkung ihr Stadt oder Gemeinde nicht verlassen müssen. Gibt es kostenangemessenen Wohnraum nur außerhalb ihres bisherigen sozialen Umfeldes, müssen Leistungsberechtigte dorthin nicht umziehen und das Jobcenter muss die tatsächlichen – „abstrakt“ zu hohen – Mietkosten der bewohnten Wohnung weiter anerkennen.

Näheres soziales Umfeld von Kindern zu beachten

Allerdings können Umstände vorliegen, die eine besondere Bindung an ein „näheres soziales Umfeld“ begründen, das kleiner ist als die ganze Stadt oder Gemeinde. Dies kann die Obliegenheiten von Leistungsempfängern einschränken, die Kosten der Unterkunft durch einen Umzug in weiter entfernt liegende Stadtteile zu senken. Bei der Bestimmung des maßgeblichen Suchumfeldes, innerhalb dessen ein Umzug noch zumutbar ist, sind persönliche Umstände wie etwa das nähere soziale und schulische Umfeld minderjähriger schulpflichtige Kinder, Alleinerziehender oder gesundheitlich eingeschränkter Menschen zu beachten. Aus diesen persönlichen Umständen können Gründe resultieren, die zu einer Einschränkung der Obliegenheit zur Senkung unangemessener Kosten der Unterkunft im Sinne einer „subjektiver Unzumutbarkeit“ führen (BSG, Urteil vom 20.08.2012, B 14 AS 13/12 R, Rn. 21 im Zusammenhang mit der Situation einer alleinerziehenden Mutter mit einem 10-jährigen Kind in der Stadt Kiel).

Erneuter Schulwechsel unzumutbar

In einer aktuellen Entscheidung hat das Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht nun entschieden, dass es einem 14-Jährigen, der die Schule gerade erst zum Schuljahr 2017/2018 wegen Lernschwierigkeiten gewechselt hat, nicht zuzumuten ist, allein zur Senkung der Kosten der Unterkunft ein weiteres Mal die Schule zu wechseln.

Weite Busfahrt mit Umsteigen nicht zumutbar

Entgegen der Auffassung des Sozi­algerichts Kiel ist es für den 14-jährigen auch nicht zumutbar, in einen von seiner nördlich des Kanals gelegenen Schule weiter entfernt liegenden Stadtteil wie etwa Gaarden zu ziehen. Denn ein Umzug in eine dortige Wohnung würde für den 14-jährigen Schüler nicht nur einen langen Schulweg, sondern vor allem auch ein mehrfaches Umsteigen und Wechseln der Verkehrsmittel bedeuten. Außerdem würde der 14-jähige Schüler nicht mit den Kin­dern und Jugendlichen in seinem räumlichen Wohnumfeld gemeinsam die Schule besuchen. Insofern unterscheide sich ein solche Situation auch von den zahlreichen Fahrschülern mit zum Teil langen Schulwegen, die gemeinsam in dünner besiedel­ten Regionen Schleswig-Holsteins eine weiterführende Schule in einem Mittelzent­rum besuchen und oft nur ein einziges Verkehrsmittel verwenden können.

Keine Zusicherung der Buskosten durch Jobcenter

Hinzu komme, dass das Jobcenter Kiel auch keine Erklärung dahingehend abgegeben habe, die zusätzlichen Kosten, die mit dem Besuch einer weiter entfernten Schule für den 14-jähigen Schüler verbunden wären, zu übernehmen. Zu Recht sei nämlich darauf hingewiesen worden, dass im Rahmen der gesetzlichen Rege­lungen über Bildung und Teilhabe nur die Kosten für eine Anreise zu der „nächstgele­genen Schule“ erstattungsfähig seien (siehe § 28 Abs. 4 SGB II).

(Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, Beschluss vom 01.06.2018, L 6 AS 86/18 B ER)

Der Beschluss ist jetzt auch auf sozialgerichtsbarkeit.de hier veröffentlicht.

Zum Thema siehe auch: Hartz IV: Ein Umzug muss auch für Alleinerziehende zumutbar sein

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Geld für Schulbücher vom Jobcenter

(c) Dr. Klaus-Uwe Gerhardt / pixelio.de

Das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen (LSG) hat erstmals obergerichtlich entschieden, dass Kosten für Schulbücher als Mehrbedarfsleistungen vom Jobcenter zu übernehmen sind.

Geklagt hat eine Schülerin der gymnasialen Oberstufe, die im Bezug von Leistungen nach dem SGB II (Hartz IV) stand. Sie hatte Kosten für die Anschaffung von Schulbüchern (135,65 €) sowie eines grafikfähigen Taschenrechners (76,94 €) als Zusatzleistungen zum Regelbedarf beim Jobcenter geltend gemacht. Das Jobcenter bewilligte ihr mit dem sog. Schulbedarfspaket pauschal 100,00 € pro Schuljahr. Für eine konkrete Bedarfsermittlung fehle eine Rechtsgrundlage.

Das LSG hat die Schulbuchkosten als Mehrbedarfsleistungen in entsprechender Anwendung des § 21 Abs. 6 SGB II anerkannt. Bücher würden nach der Gesetzesbegründung nicht von der Schulbedarfspauschale nach § 28 Abs. 3 SGB II umfasst, sondern müssten grundsätzlich aus dem Regelbedarf bestritten werden. Da dieser jedoch für Bücher jeglicher Art lediglich etwa 3 € im Monat vorsehe, seien hierdurch die Schulbuchkosten nicht gedeckt. Dies stelle eine unbeabsichtigte Regelungslücke dar, die über eine verfassungskonforme Auslegung des § 21 Abs. 6 SGB II durch die Gerichte zu schließen sei.

Demgegenüber seien die Kosten für grafikfähige Taschenrechner von der Schulbedarfspauschale abgedeckt, denn ein solcher Taschenrechner müsse nicht für jedes Schuljahr erneut angeschafft werden.

(LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 11. Dezember 2017, L 11 AS 349/17)

Erstveröffentlichung in HEMPELS 05/2018

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Hartz IV: Vermieterbescheinigung ohne weitere Voraussetzungen

(c) Gerd Altmann / pixelio.de

Ein Bezieher von ALG II (Hartz IV) hat einen Anspruch auf Aushändigung einer Vermieterbescheinigung,  die nicht an weitere Voraussetzungen geknüpft werden darf.

Nach § 22 Abs. 4 Satz 2 SGB II hat ein ALG II-Empfänger gegenüber dem Jobcenter einen Anspruch auf Zusicherung der Übernahme der Aufwendung für eine neue Unterkunft sowie die Ausstellung einer entsprechenden Bescheinigung für den zukünftigen Vermieter, wenn deren Kosten angemessen sind. Das Jobcenter Kiel hatte die Ausstellung einer solchen Vermieterbescheinigung an vier Voraussetzungen geknüpft: Den Antrag auf Gewährung eines Darlehens zur Finanzierung der Mietsicherheit, die Abtretung des Rückzahlungsanspruches hinsichtlich der Mietsicherheit, die Abtretung der Ansprüche auf Auszahlung etwaiger Guthaben aus Betriebs- Heiz- oder Wasserkostenabrechnungen und eine Zustimmungserklärung zur Direktzahlung der Miete an den künftigen Vermieter.

Rechtswidrig, entschied das Sozialgericht Kiel. Hinsichtlich aller geforderten Erklärungen bestehe schon kein Zusammenhang mit der beantragten Zusicherung der Übernahme der Kosten der neuen Wohnung. Das Jobcenter verkenne zudem, dass Direktzahlungen nur ausnahmsweise in Betracht kommen, wenn der Leistungsberechtigte dies beantragt habe oder die Zahlung der Miete anders nicht sichergestellt werden kann. Hinsichtlich des Abtretungsverlangens betreffend künftige Guthaben aus Heiz-, Neben- und Wasserkosten „fehlt dem Gericht jegliche Phantasie, auf welche Rechtsgrundlage diese Anforderung gestützt werden könnte.“ Erfreulich deutliche Worte an ein bisweilen von Rechtsgrundlagen völlig losgelöst agierendes Jobcenter.

(SG Kiel, Beschluss vom 25.01.2018, S 36 AS 11/18 ER)

Erstveröffentlichung in HEMPELS 04/2018

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Auch die 33. Kammer am SG Kiel bestätigt die neuen Mietobergrenze der Stadt Kiel

(c) GesaD / pixelio.de

Mit Beschluss vom 17.04.2018 zum Aktenzeichen S 33 AS 53/18 ER hat nun auch die 33. Kammer am SG Kiel die neuen Kieler Mietobergrenzen mit einer eigenständigen Begründung bestätigt. Anders als der Beschluss der 31. Kammer am SG Kiel vom 06.04.2018 zum Aktenzeichen S 31 AS 21/18 ER war in diesem Verfahren weder die Frage des individuellen Suchumfeldes noch die Frage stattgehabter und nachgewiesener Suchbemühungen strittig, so dass es allein um die sog. „abstrakte Angemessenheit“ der neuen Kieler Mietobergrenzen ging. Interessant ist folgender Hinweis des Gerichts auf Seite 8:

„Die einbezogenen Daten sind ferner hinreichend valide und repräsentativ, denn auch nach Ausscheidung von 485 Datensätzen verbleiben statistisch ausreichend viele Sätze, die eine genügende Grundlage für die Ermitt­lung der kalten Betriebskosten bilden. Soweit die Antragstellerseite Bedenken hegt, dass der Antragsgegner rund 40% der Daten (von zunächst 1.053 Datensätzen werden schließlich 568 zur Ermittlung herangezogen) vor einer Auswertung aussortiert hat, kann die Kammer dem nicht folgen. Die Kammer führt dies auf ein zutreffendes statistisches Vorgehen zurück, nämlich insbesondere all jene Datensätze nicht der Auswertung zuzuführen, bei denen be­reits Angaben zu einer der wesentlichen Betriebskostenarten fehlen bzw. Angaben sich nicht genau zuordnen lassen oder keine Einzelangaben vorhanden sind (siehe die vom befragten Mieter / Vermieter zu beantwortende, sehr ausdifferenzierte Frage 12 zu den kalten Brutto­kosten auf S. 44 der Dokumentation zum Qualifizierten Mietspiegel 2017). Es ist demnach nicht so, dass in Mietverhältnissen diese Betriebskostenarten gar nicht anfielen, sondern dass es lediglich an genauen / ausdifferenzierten Angaben zu den einzelnen Positionen fehl­te, wobei bereits eine Betriebskostenabrechnung von der Berücksichtigung ausgeschlossen wurde wenn sich nur eine der als wesentlich definierten Betriebskostenpositionen nicht (ein­deutig) aus der Abrechnung ergab. Hatte der Antragsgegner hingegen all jene Datensätze in die Berechnung mit eingestellt, in denen ungenaue oder fehlende Angaben bei den wesentli­chen Betriebskosten vorliegen, wäre dies vielmehr statistisch zu bemängeln und Anlass ge­wesen, an der korrekten Ermittlung der Hohe der angemessenen kalten Betriebskosten zu zweifeln.“

Alles richtig. Niemand hat allerdings behauptet oder könnte auch nur ernsthaft davon ausgehen, dass Grundsteuern/laufende öffentlich Lasten, Angaben zu Wasserversorgung, Entwässerung und Niederschlagswasser oder einen Gesamtbetrag dieser Positionen, Müllbeseitigungskosten, Hausbeleuchtungskosten und Sach- und Haftpflichtversicherungskosten „gar nicht anfielen“. Es verwundert vielmehr gerade, dass sich bei rund 40 % der Datensätze diese „wesentlichen Betriebskostenarten“ nicht eindeutig aus den Abrechnungen ergeben sollen. Das erstaunt um so mehr deswegen, weil ein nicht unerheblicher Teil der Daten im Rahmen von Mieter- und Vermieterbefragungen erhoben worden sind (vgl. S. 19 der Dokumentation). Es sollte angenommen werden dürfen, dass im Rahmen der geführten Interviews von dem extra hierfür geschulten Personal (vgl. S. 17 der Dokumentation) auf eine genaue Zuordnung und Vollständigkeit der Betriebskostenpositionen geachtet worden ist. Auch im Rahmen der Fragebogenerhebung waren Rückfragen von GEWOS jedenfalls dann möglich, wenn Mieter „zu Nachfragezwecken“ (siehe Fragebogen Seite 1 oben auf Seite 40 der Dokumentation) ihre Telefonnummer angegeben haben. Die Bereinigung der Datensätze um 40 % aufgrund fehlender oder ungenauer Angaben zu den „wesentlichen Betriebskostenarten“ bleibt nach alledem schwer nachvollziehbar.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Sozialgericht Kiel bestätigt neue Kieler Mietobergrenzen

(c) Dr. Klaus-Uwe Gerhardt / Pixelio.de

Mit Beschluss vom 06.04.2018 zum Aktenzeichen S 31 AS 21/18 ER hat die 31. Kammer am SG Kiel die neuen Kieler Mietobergrenzen bestätigt. Nach der in einem Eilverfahren nur summarisch möglichen Prüfung sollen danach die seit dem 01.01.2017 gültigen Mietobergrenzen auf einem schlüssigen Konzept im Sinne der Rechtsprechung des BSG beruhen. Die Antragsteller – eine alleinerziehende Mutter mit ihrem 13jährigen Sohn – seien gehalten, im gesamten Stadtgebiet nach Ersatzwohnraum zu suchen. Aufgrund der Höhe der Überschreitung der Mietobergrenze für einen Zweipersonenhaushalt in Höhe von 411,00 € bruttokalt um 127,41 € sei dem Sohn, welcher gerade erst die Schule gewechselt hat, auch ein weiterer – durch den Umzug gegebenenfalls notwendig werdender – Schulwechsel zumutbar.

Berechnung der durchschnittlichen Betriebskosten unplausibel

Das Gericht konnte die hiesigen Zweifel an einer schlüssigen Darlegung der Berechnung der kalten Betriebskosten nicht ausräumen. Dem Unternehmen ALP, welches das „schlüssige Konzept“ für die Stadt Kiel erstellt hat, wurden nach eigenen Angaben 1.053 Datensätze zu den kalten Betriebskosten übermittelt. Nur 639 Datensätze hiervon sollen „jedenfalls auch“ die Betriebskostenpositionen

[1] Grundsteuern/laufende öffentlich Lasten,

[2] Angaben zu Wasserversorgung, Entwässerung und Niederschlagswasser oder einen Gesamtbetrag dieser Positionen,

[3] Müllbeseitigungskosten,

[4] Hausbeleuchtungskosten und

[5] Sach- und Haftpflichtversicherungskosten

enthalten haben. Folglich müssen 414 Datensätze (rund 40 %) zu diesen Betriebskostenpositionen keine Angaben enthalten haben. Da nun aber davon ausgegangen werden kann, dass es (praktisch) keine Mietwohnungen gibt, bei denen diese kalten Betriebskosten nicht entstehen ([1] bis [3] sind gesetzlich vorgeschrieben, ein Miethaus ohne Hausbeleuchtung ist schwer vorstellbar und „Sach- und Haftpflichtversicherungen – gemeint sein dürfte vor allem die sog. „Gebäudeversicherung“ –  sind zwar in Deutschland nicht gesetzlich verpflichtend [auch die Feuerversicherung ist es nicht mehr], dürften aber aufgrund des hohen Verlustrisikos der Eigentümer sowie der Umlagefähigkeit [auch] dieser Kosten auf den Mieter bei Miethäusern ebenfalls der absolute Regelfall sein), muss die Qualität der erhobenen Daten angezweifelt werden. Diese Zweifel vermag das Gericht auch nicht mit dem Hinweis auszuräumen, dass es für einen Datenausschluss genügt hat, dass sich „nur eine“ der genannten wesentlichen Betriebskostenarten aus der Betriebskostenabrechnung nicht ergab. Denn es ist schlicht nicht nachvollziehbar, in welcher Wohnung auch „nur eine“ der genannten wesentlichen Betriebskostenspositionen nicht entstehen sollte. Soweit das Gericht keine „Anhaltspunkte für eine tendenziöse Bereinigung“ zu erkennen vermag, verkennt es die Maßstäbe. Das Konzept der Stadt muss – auch im Hinblick auf die Betriebskostenberechnung – schlüssig, also plausibel sein. Das ist es nicht. Warum es das nicht ist – weil die Datenerhebung nicht in der gebotenen Sorgfalt durchgeführt worden ist oder warum auch immer -, ist für die Beurteilung der Schlüssigkeit nicht relevant. Das Konzept ist jedenfalls nicht erst dann unplausibel, wenn es offensichtlich „tendenziös“ ist.

Mathematische Nachvollziehbarkeit der Berechnung der Mietobergrenzen

Das Gericht hat sich im Ergebnis mit einer exemplarischen Darstellung der Berechnungsweise der durchschnittlichen Betriebskosten sowie der durchschnittlichen Nettokaltmieten des unteren Drittels (Terzils) zufrieden gegeben. Im Rahmen eines Eilverfahrens, welches über zwei Monate geführt worden ist, wäre – eine entsprechende Verfahrensförderung vorausgesetzt – allerdings auch eine Darlegung der Berechnung der konkreten Mietobergrenze von 406,50 € (411,00 € ist die alte Mietobergrenze, die weiter anerkannt wird, um niemanden schlechter zu stellen) möglich und leistbar gewesen.

Örtliches Suchumfeld: Belange von Kindern spielen praktisch keine Rolle

Als besonders betrüblich hervorzuheben ist, dass in der Verwaltungspraxis Kieler Sozialbehörden die Belange von Kindern so wenig Beachtung finden wie in der Rechtsprechung der schleswig-holsteinischen Sozialgerichtsbarkeit. Im Fall einer Kieler Mandantin hatte das Bundessozialgericht mit seinem Urteil vom 22.08.2012 im Verfahren B 14 AS 13/12 R dem Jobcenter Kiel wie auch dem Schleswig-Holsteinischen Landessozialgericht ins Stammbuch geschrieben:

„Entgegen den Ausführungen des LSG kommen nicht nur gesundheitliche Gründe in Betracht, wenn es um die Gründe für die „Unzumutbarkeit“ von Kostensenkungsmaßnahmen (insbesondere durch Umzug) geht. Es können auch die besonderen Belange von Eltern und Kindern (vor dem Hintergrund des Art 6 Grundgesetz) solche beachtenswerte Gründe darstellen. Wie bereits dargestellt, ist auf das soziale und schulische Umfeld minderjähriger schulpflichtiger Kinder Rücksicht zu nehmen. Ebenso ist die Situation von Alleinerziehenden dahin zu überprüfen, ob sie zur Betreuung ihrer Kinder auf eine besondere Infrastruktur angewiesen sind, die bei einem Wohnungswechsel in entferntere Ortsteile möglicherweise verlorenginge und im neuen Wohnumfeld nicht ersetzt werden könnte (BSG Urteil vom 19.2.2009 – B 4 AS 30/08 RBSGE 102, 263 = SozR 4-4200 § 22 Nr 19 RdNr 35). Auch Angehörige unterer Einkommensschichten, die nicht auf Transferleistungen angewiesen sind, werden sich bei der Frage nach Kosteneinsparungen von diesen Gedanken leiten lassen. Aus solchen Umständen folgt allerdings im Regelfall kein Schutz der kostenunangemessenen Wohnung als solcher. Entsprechende Umstände schränken allenfalls die Obliegenheiten der Leistungsempfänger, die Kosten der Unterkunft zu senken, auf Bemühungen im näheren örtlichen Umfeld ein. Die Frage, ob einem Kind ein Schulwechsel zugemutet werden kann, lässt sich dabei nicht schematisch beantworten. Vor allem der im Einzelfall nach einem Umzug zumutbare Schulweg orientiert sich daran, was das Kind schon von der bisherigen Wohnung aus bewältigen musste, ob es etwa mit der Nutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln bereits vertraut ist bzw bereits einen Schulweg in bestimmter Länge zu Fuß (oder in fortgeschrittenem Alter mit dem Fahrrad) zurücklegen muss.“

Es lässt sich nur resigniert feststellen: Das BSG hat in den rauen schleswig-holsteinischen Wind gesprochen. Obwohl der 13jährige Sohn gerade erst die Schule wechseln musste, ist von dem Kind nach Meinung der 31. Kammer am SG Kiel – wie es im schönsten Juristendeutsch heißt – „nach summarischer Prüfung der Kammer in diesem Einzelfall in letzter Konsequenz“ auch ein erneuter Schulwechsel „hinzunehmen“. Grund: Die Höhe der monatlichen Überschreitung der Mietobergrenze von 127,41 €. Man ahnt in etwa, was Kinder und Bildungsabschlüsse Verwaltung und Gerichten in diesem Lande tatsächlich „Wert“ sind. Fast schon erschrecken muss der Hinweis des Gerichts, der Sohn besuche eine Gemeinschaftsschule, die es auch in anderen Stadtteilen gebe – deswegen sei ein Schulwechsel zumutbar. Auf die Schwierigkeiten, die es für einen Schüler bedeutet, in einer neuen Klasse Anschluss zu finden, die Lehrer kennen zu lernen usw. – was alles rein gar nichts mit der gewählten Schulart zu tun hat – scheint das Gericht nicht zu verfallen. Das ist nur in homöopathischen Dosen sensibler als die vom Jobcenter Kiel im Verfahren geäußerte Auffassung, der Sohn habe bereits einmal die Schule gewechselt und könne das dann auch noch einmal machen – wobei im Subtext mitschwingt: Er ist ja in Übung.

Suchbemühungen dokumentieren!

Wo viel Schatten ist, muss auch irgendwo ein Licht stehen. Das steht in diesem schattigen Beschluss auf Seite acht, zweiter Absatz. Den „Anscheinsbeweis“, dass aufgrund der „schlüssigen“ Mietobergrenzen der Stadt Kiel auch ausreichend Wohnraum zur Neuanmietung zur Verfügung steht (was ständige Rechtsprechung des BSG und dennoch Unsinn ist: Der Kieler Mietspiegel und die neuen MOG hätten genau so ausgesehen, wie sie aussehen, auch wenn keine einzige Wohnung in Kiel zur Vermietung stünde, denn ein Mietspiegel sagt schlicht gar nicht darüber aus, ob und in welchem Umfange Wohnungen zur Vermietung angeboten werden), könne von zum Umzug aufgeforderten Leistungsbeziehern dadurch widerlegt werden, dass diese ihre erfolglosen Suchbemühungen über einen Suchzeitraum von 6 Monaten nachprüfbar dokumentieren. Den rund 1.500 Kielern, die erfolglos nach kostengünstigerem Ersatzwohnraum suchen müssen (den es derzeit nicht gibt), kann nur geraten werden, dies gewissenhaft zu tun und Behörden und Gerichte mit ihren Erfahrungen auf der Wohnungssuche zu konfrontieren. Suchhilfen finden sich hier: Vordruck Wohnungssuche Telefonate, Vordruck Wohnungssuche Vorsprache.

Nachtrag 01.06.2018: Der Beschluss des SG Kiel vom 06.04.2018 zum Aktenzeichen S 31 AS 21/18 ER wurde mit Beschluss des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgrichts vom 01.06.2018, L 6 AS 86/18 B ER, aufgehoben und das Jobcenter verpflichtet, ab Antragseingang der Beschwerde beim LSG vorläufig die tatsächlichen Unterkunfskosten der Antragsteller zu übernehmen, da diesen derzeit ein Wohnungswechsel konkret nicht möglich ist.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Neue Mietobergrenzen im Kreis Rendsburg-Eckernförde ab 01.03.2018

(c) Gerd Altmann / pixelio.de

Der Kreis Rendsburg-Eckernförde hat im Jahr 2017 eine komplette Neuerstellung seines schlüssigen Konzepts vorgenommen, um die Richtwerte der Mietpreisentwicklung auf dem Wohnungsmarkt des Kreises Rendsburg-Eckernförde „tiefgründiger“ anzupassen. Die erhobenen und ausgewerteten Daten unter Berücksichtigung der Struktur  des örtlichen Wohnungsmarktes ergeben für das Gebiet des Kreises Rendsburg-Eckernförde nunmehr fünf Vergleichsräume (Mietkategorien) mit  Richtwerten für die Prüfung der abstrakten Angemessenheit von Unterkunftskosten (Bruttokaltmiete ohne Heizkosten). Nach dem Beschluss des Sozial- und Gesundheitsausschusses des Kreistages Rendsburg-Eckernförde vom 08.02.2018 sollen diese neuen Richtwerte ab 01.03.2018 zur Anwendung kommen. Die Mietobergrenzentabelle findet sich hier.

Quelle: https://www.kreis-rendsburg-eckernfoerde.de/verwaltungsportal/soziales-arbeit-und-gesundheit/kosten-der-unterkunft/

Die Fachlichen Weisungen und Hinweise zu den Kosten der Unterkunft des Kreises Rendsburg – Eckernförde finden sich hier:

KdU-Richtlinie des Kreises Rendsburg – Eckernförde

Heizkosten-Richtline des Kreises Rendsburg-Eckernförde

Merkblatt „Umzug“

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Beratungshilfe: Ein neues Mieterhöhungsverlangen ist eine neue Angelegenheit

Amtsgericht Kiel (Photo: Helge Hildebrandt)

Die „Begründung“ im Richterbeschluss fällt – vorsichtig gesagt – knapp aus (AG Kiel, Beschluss vom 26.02.2018, 7 UR II 6453/17): „Es handelt sich um eine neue Angelegenheit.“ Für alle Kollegen, die sich mit ähnlichen Selbstverständlichkeiten herumärgern müssen, hier der Hinweis auf ein Beschluss des AG Halle zum Thema:

1. Bei Mieterhöhungsverlangen wird wegen der Schwierigkeit der rechtlichen Probleme – auch unter dem Gesichtspunkt der Rechtswahrnehmungsgleichheit von Bemittelten und Unbemittelten – regelmäßig Beratungshilfe zu gewähren sein.

2. Zur Frage, wann eine Angelegenheit oder mehrere Angelegenheiten i.S.d. § 2 Abs. 2 BerHG vorliegen.

AG Halle, Beschluss vom 18.01.2011, 103 II 6570/10

Aus den Gründen Den Rest des Beitrags lesen »


Volle Mietkostenübernahme, wenn Wohnraum fehlt

(c) Kurt F. Domnik / pixelio.de

Das Sozialgericht Kiel hat entschieden, dass das Jobcenter Kiel im Jahre 2013 die über der damaligen Mietobergrenze liegenden Unterkunftskosten einer sechsköpfigen Familie in voller Höhe übernehmen musste, weil es der Familie aufgrund fehlenden Wohnraumes auf dem Kieler Wohnungsmarkt objektiv unmöglich war, ihre Mietaufwendungen durch Umzug in eine kostengünstiger Wohnung zu senken.

Zwar ist die Mietobergrenze auf der Grundlage des Mietspiegels 2012 zutreffend berechnet worden. Die tatsächlich zu hohen Unterkunftskosten müssen indessen dann übernommen werden, wenn es den Hilfebedürftigen im konkreten Fall nicht möglich war, ihre Unterkunftskosten insbesondere durch Umzug auf ein angemessenes Maß zu senken. Hiervon ist das Gericht aufgrund des Wohnraumberichtes der Stadt Kiel ausgegangen, wonach insbesondere für größere Familien ausreichender freier Wohnraum nicht mehr zur Verfügung steht.

Unerheblich ist, ob die Unmöglichkeit zur Kostensenkung bereits bei Beginn der Hilfebedürftigkeit, der Leistungsgewährung oder des Kostensenkungsverfahrens vorgelegene hat. Das bedeutet: Auch Hilfebedürftige, die schon länger zu ihrer Miete dazubezahlen, können wieder einen Anspruch auf Übernahme ihrer tatsächlichen Miete haben, wenn eine Kostensenkung durch Umzug nachträglich unmöglich wird, etwa weil sich die Situation auf dem Wohnungsmarkt verschlechtert.

SG Kiel, Urteil vom 24.04.2017, S 31 AS 461/14 (rechtskräftig)

Erstveröffentlichung in HEMPELS 02/2018

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


„Kieler Kostenkästchen“ eine „zu pauschale Betrachtungsweise“

(c) Thorben Wengert / pixelio.de

Der Kostenprüfungsbeamte am Schleswig-Holsteinschen Landessozialgericht hat die auf dem sog. „Kieler Kostenkästchen“ fußende Kostenfestsetzung der Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle am Sozialgericht Kiel erneut beanstandet und dabei grundsätzliche Kritik an der „Kieler Kostenkästchen-Rechtsprechung“ der 21. Kammer am SG Kiel geübt. Wörtlich heißt es in der Stellungnahme:

„Die Anwendung des von der 21. Kammer des Sozialgerichts Kiel entwickelten „Kieler Kostenkästchens“ halte ich aus der Sicht der Landeskasse für nicht geboten, da die darin enthaltenen Einzelbewertungen eine zu pauschale Betrachtungsweise bietet und insoweit der nach § 14 RVG vorzunehmenden Bewertung nicht gerecht wird.“

Klare Worte, die hoffentlich auch das Schleswig-Holsteinsche Landessozialgericht irgendwann einmal dazu bewegen werden, einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit der „Kieler Kostenkästchen-Rechtsprechung“ der 21. Kammer am SG Kiel nicht weiter auszuweichen.

Mehr zum Thema:

„Kieler Kostenkästchen“ ade?

Anwaltsgebühren: Selbst der Kostenprüfungsbeamte am Schleswig-Holsteinischen Landessozialgericht folgt der Kostenrechtsprechung der 21. Kammer am SG Kiel nicht mehr

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Jobcenter muss nahtlosen Übergang in die Grundsicherung sicherstellen

(c) Gerd Altmann / pixelio.de

Jobcenter müssen vor einer Ablehnung von ALG II (Hartz IV) sicherstellen, dass der zukünftig zuständige Sozialleistungsträger die Leistungsgewährung nahtlose ab den Tage seiner Zuständigkeit aufnimmt.

Der Antragsteller stand im laufenden ALG II-Bezug beim Jobcenter Kiel. Aufgrund einer Erkrankung prüfte das Jobcenter, ob die Landeshauptstadt Kiel als Träger der Grundsicherung bei Erwerbsminderung für den Antragsteller zuständig ist. Den Weiterbewilligungsantrag des Antragstellers vom 21.08.2017 auf ALG II für den Zeitraum ab 01.10.2017 lehnte das Jobcenter erst mit Bescheid vom 21.09.2017 ab und verwies diesen auf Grundsicherungsleistungen, ohne sich hierüber zuvor ins Benehmen mit der Stadt Kiel zu setzen und dieser die Möglichkeit zu geben, ihre eigene Zuständigkeit zu prüfen.

Hierzu war das Jobcenter Kiel nicht berechtigt. Denn aus § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB I und § 44a SGB II folgt, dass der zuerst angegangene Sozialleistungsträger vorläufig so lange Leistungen zu erbringen hat, bis der eigentlich zuständige Träger die Leistungsgewährung tatsächlich aufnimmt. Die Verpflichtung, die lückenlose Gewährung existenzsichernder Leistungen sicherzustellen, traf damit das bisher zuständige Jobcenter Kiel. Etwas anders galt auch nicht deswegen, weil der Hilfebedürftige um die Feststellung seiner Erwerbsunfähigkeit durch den Rentenversicherungsträger wusste, denn das Jobcenter Kiel traf die Verpflichtung, den lückenlosen Übergang der Leistungsgewährung sicherzustellen und die Stadt Kiel hätte die Beurteilung der Erwerbsfähigkeit auch anzweifeln können.

SG Kiel, Kostenbeschluss vom 26.10.2017, S 37 AS 254/17 ER

Erstveröffentlichung in HEMPELS 01/2018

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Kieler Mietobergrenzen in der Ratsversammlung

Am 18.01.2018 hat die Kieler Ratsversammlung die neuen Mietobergrenzen debattiert und mehrheitlich beschlossen. Für Interessierte habe ich die Aufzeichnung des Tagesordnungspunktes 13.7, Anpassung der Regel-Höchstbeträge für anzuerkennende Mieten (Mietobergrenzen) nach dem Sozialgesetzbuch II (SGB II) und dem Sozialgesetzbuch XII (SGB XII), Drucksache: 1223/2017, hier einmal verlinkt:


Kieler Ratsversammlung beschließt neue Mietobergrenzen

In der heutigen Ratsversammlung hat eine Mehrheit aus SPD, CDU und SSW die neuen Mietobergrenzen beschlossen. Da der Sozialausschuss zuvor nicht beteiligt worden ist, hat die Fraktion Bündnis90/DIE GRÜNEN richtigerweise einen Antrag auf Überweisung zur Beratung in den Sozialausschuss gestellt, dem sich die Fraktion DIE LINKE angeschlossen hat, der aber von einer Mehrheit aus SPD, CDU und SSW abgelehnt wurde.

Das von der Stadt vorgelegte – mit knapp 12 Seiten ungewöhnlich kurze – Konzept dürfte einer sozialgerichtlichen Prüfung absehbar nicht standhalten, da in ihm weder die Berechnungen der Nettokaltmieten noch der Betriebskosten nachvollziehbar dargelegt worden sind. Auffällig ist auch, dass die durchschnittlichen Betriebskosten (arithmetisches Mittel) im MOG-Konzept bei 1,55 €/qm liegen sollen, der Kieler Mietspiegel 2016/2017 hingegen einen Durchschnittswert von 1,91 €/qm nennt. Eine Erklärung auch hierfür findet sich im Konzept nicht.

Zum Schluss ein wenig Lokalkolorit aus der Kieler Ratsversammlung: Der Vertreter der Fraktion DIE LINKE  musste sich vom Sozialdezernenten der Stadt, Gerwin Stöcken (SPD), den eigenwilligen Anwurf gefallen lassen, „da habe ich keinen bösartigeren Grund als zu sagen, dass das hier Wahlkampf ist“. Dass DIE LINKE in Kiel Sozialpolitik macht, das geht aber auch wirklich nicht. Das macht die SPD doch auch nicht! Das ist wirklich ganz und gar ungehörig von den Linken und da muss der SPD-Sozialdezernent – was sonst ja gar nicht seine Art ist – doch ausnahmsweise mal ganz bösartig werden.

Presseerklärung der Ratsfraktion DIE LINKE zum Thema: Mietobergrenze: Pleiten, Pech und Pannen auf Kosten der Betroffenen

Kieler Nachrichten vom 23.01.2018: Streit um neue Mietobergrenzen in Kiel

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Konzept zur Berechnung der ab 01.01.2017 geltenden Kieler Mietobergrenzen

Die Stadt Kiel hat heute – zwei Tage vor der Sitzung der Ratsversammlung am 18.01.2018, auf der die neuen Mietobergrenzen (MOG) beschlossen werden sollen – den Ratsherren und Ratsfrauen ihr Konzept zu Bestimmung der neuen, ab 01.01.2017 geltenden Mietobergrenzen übersandt. Das Konzept findet sich hier. Dass die Ratsmitglieder aufgrund der Kürze der ihnen eingeräumnten Einarbeitungszeit über das Konzept sachkompetent beraten und beschließen können, ist nicht anzunehmen. Nach hiesigen Informationen sollen zudem die Grundlagendaten zum Mietspiegel 2017 und damit auch zum MOG-Konzept nicht mehr verfügbar sein. Sollte sich dies bewahrheiten, dürfte das Konzept und damit auch die neuen MOG vor Gericht keinen Bestand haben.

Nachtrag 20.01.2018: Die Kritik von Teilen der Ratsversammlung entzündet sich offenbar daran, dass die Fragebögen zum Kieler Mietspiegel 2017 vernichtet wurden (siehe dazu Seite 20 in der Dokumentation zum qualifizierten Kieler Mietspiegel 2017). Soweit die Grundlagendaten selbst noch verfügbar sind, dürfte dies allerdings unproblematisch sein.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt 


Neue Mietobergrenzen der Stadt Kiel derzeit nicht anzuwenden

Das Sozialgericht Kiel hat in einem Beschluss vom heutigen Tage entschieden, dass die neuen Mietobergrenzen (MOG) der Stadt Kiel zur Bestimmung der grundsicherungsrechtlichen „Angemessenheit“ der Unterkunftskosten von Beziehern von Leistungen nach dem SGB II (Hartz IV) und SGB XII (u.a. Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung) derzeit nicht heranzuziehen sind, weil für das Gericht nicht überprüfbar ist, ob die neuen – von der Ratsversammlung noch nicht beschlossenen – MOG auf einem „schlüssigen Konzept“ im Sinne der Rechtsprechung des BSG beruhen (SG Kiel, Beschluss vom 11.01.2018, S 31 AS 1/18 ER). Denn das angeblich „schlüssige Konzept“ der Stadt Kiel wurde bisher nicht veröffentlicht und auch dem Gericht nicht bekannt gegeben.

Hinzuweisen ist darauf, dass nach § 45 GO SH i.V.m. § 8 Abs. 1 Nr. 7, Abs. 5 der Hauptsatzung der Stadt Kiel i.V.m. § 1, § 2 g) der dieser Satzung als Anlage beigefügten Zuständigkeitsverordnung neue MOG zunächst vom Sozialausschuss sachverständig vorzubereiten sind. Eine Befassung des Sozialausschuss der Stadt Kiel mit den neuen MOG ist indessen bisher nicht erfolgt und der Sozialausschuss hat den MOG bislang auch nicht zugestimmt (§ 1 der Zuständigkeitsverordnung spricht von „entscheiden“). Allerdings ist die Vorbereitung durch die Fachausschüsse entgegen einer hier zunächst vertretenen Auffassung kein rechtliches Erfordernis für das wirksame Zustandekommen von Beschlüssen (Bracker/Dehn, GO SH, § 45 Nr. 6).

Ernsthafte Zweifel sind an der neuen MOG für Zweipersonenhaushalte angezeigt. Nach Angaben der Stadt sollen die Mietkosten bruttokalt (Grundmiete zuzüglich kalter Betriebskosten) zwischen 2014 und 2017 von 411,00 € auf 406,50 € gesunken sein (siehe Gegenüberstellung der Mietobergrenzen 2014 / 2017). Dies widerspricht allen Berichten zu den in diesem Zeitraum erheblich gestiegenen Grundmieten und Betriebskosten in Kiel.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Neue Mietobergrenzen für Kiel ab 01.01.2018

Das Jobcenter Kiel hat heute auf seiner Homepage die neuen Mietobergrenzen veröffentlicht. Die neuen Obergrenzen sollen erst ab dem 01.01.2018 gelten. Unklar bleibt, welche Mietobergrenzen in der Zeit vom 01.12.2016 bis 31.12.2017 Gültigkeit haben sollen. Die alten Mietobergrenzen aus dem Jahre 2014 hatte das Sozialgericht Kiel in dieser Zeit als nicht mehr aktuell verworfen und Antragstellern in Eilverfahren Leistungen für die Unterkunft bis zur Höhe der alten Mietobergrenzen zuzüglich 10 % zugesprochen. Ungewöhnlich ist auch, dass weder der Sozialausschuss noch die Ratsversammung der Landeshaupstadt Kiel für die Stadt Kiel als anteilige Kostenträgerin den neuen Mietobergrenzen vor deren Veröffentlichung zugestimmt haben. Dass Wohnraum zwischen 50 und 60 Qudartmetern in Kiel seit 2014 nicht teurer geworden sein soll, erscheint wenigstens kontraintuitiv.

Nachtrag 03.01.2018: Das Jobcenter Kiel hat die Angaben auf seiner Homepage korrigiert. Die neuen MOG sollen rückwirkend ab dem 01.01.2017 gelten. Die rückwirkende Anpassung soll von Amts wegen erfolgen, so dass Betroffene keinen Überprüfungsantrag stellen müssen. Für den Monat Dezember 2016 soll offenbar nicht nachgezahlt werden.

Nachtrag 05.01.2018: Das Jobcenter Kiel lehnt in Überprüfungsverfahren, die noch im Jahre 2017 anhängig gemacht worden sind, eine Anerkennung der neuen MOG für den Monat Dezember 2016 ab.

Nachtrag 12.01.2018Neue Mietobergrenzen der Stadt Kiel derzeit nicht anzuwenden

Nachtrag 16.01.2018: Konzept zur Berechnung der MOG 2017/2018

Personenzahl qm MOG seit 01.12.2014 MOG ab 01.01.2017 Differenz
1 bis 50 342,50 Euro 361,00 Euro + 18,50 Euro
2 50-60 411,00 Euro 411,00 Euro +/- 0,00 Euro
3 60-75 510,00 Euro 533,50 Euro + 23,50 Euro
4 75-85 628,50 Euro 642,00 Euro + 13,50 Euro
5 85-95 702,50 Euro 728,00 Euro + 26,00 Euro
6 95-105 776,00 Euro 802,00 Euro + 26,00 Euro
7 105-115 850,00 Euro 876,00 Euro + 26,00 Euro
je weitere Pers. + 10m² 74,00 Euro

Jobcenter muss Kosten einer Brillenreparatur übernehmen

(c) Kurt F. Domnik / pixelio.de

Bezieher von ALG II (Hartz IV) haben einen Anspruch auf Übernahme der Kosten der Reparatur ihrer Brille.

Nach § 24 Abs. 3 Nr. 3 SGB II haben ALG II-Bezieher gegenüber dem Jobcenter einen Anspruch auf Übernahme ihrer Kosten für die „Anschaffung und Reparaturen von orthopädischen Schuhen, Reparaturen von therapeutischen Geräten und Ausrüstungen sowie die Miete von therapeutischen Geräten“. Auf dieser Grundlage beantragte der Kläger beim beklagten Jobcenter die Übernahme der Kosten für die Einarbeitung eines Brillenglases (Einarbeiten: 10 Euro, 1 Glas links: 65,50 Euro, Entspiegelung: 44 Euro, abzüglich 9,50 Euro, Gesamtpreis: 110 Euro). Das Jobcenter lehnte diesen Antrag ab. Das Landessozialgericht (LSG) verurteilte das Jobcenter, dem Kläger die Kosten in Höhe von 66 Euro zu erstatten, weil die Brille ein therapeutisches Gerät sei. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen, weil medizinische Gründe für die Entspiegelung nicht ersichtlich seien. Mit der vom LSG zugelassen Revision rügte das Jobcenter, eine Brille sei kein therapeutisches Gerät.

Das BSG hat die Berufung des Jobcenters zurückgewiesen. Zur Begründung hat das Gericht ausgeführt, die Sonderbedarfe nach § 24 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 SGB II seien eingeführt worden, um Bedarfe abzudecken, die nicht in die Ermittlung des Regelbedarfs eingeflossen sind. Nach den Ausfüllhinweisen des Statistischen Bundesamts zur EVS 2008 fielen unter die Wendung „therapeutische Geräte und Ausrüstungen“ auch Brillen. Demgemäß wurde die Reparatur von Brillen im Rahmen der EVS 2008 in eine Rubrik eingetragen, die nicht in die Regelbedarfsermittlung eingeflossen ist und deren Bedarfe durch den Sonderbedarf nach § 24 Abs. 3 SGB II abgedeckt werden sollen.

(BSG, Urteil vom 25.10.2017, B 14 AS 4/17 R)

Erstveröffentlichung in HEMPELS 12/2017

Siehe auch: Hartz IV: Brille als Sonderbedarf

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


34C3: Das besondere Anwaltspostfach beA als besondere Stümperei

Darmstädter Hacker zeigen, dass das besondere elektronische Anwaltspostfach, kurz beA, mit veralteter Software und einem veralteten Anwendungskonzept entwickelt wurde. Hier weiterlesen.


1.461 Kieler Hartz IV Familien müssen zu ihrer Miete zuzahlen

Auf eine kleine Anfrage des Ratsherrn Arne Langniß (Ratsfraktion Bündnis90/DIE GRÜNEN) hat die Stadt Kiel erstmals konkrete Angaben zu der Zahl der Bedarfsgemeinschaften im ALG II Bezug gemacht, die aus ihrem Regelsatz zu ihrer Miete dazuzahlen müssen, weil das Jobcenter Kiel ihre Unterkunftskosten nicht in voller Höhe anerkennt. Im Leistungsbereich des Jobcenters Kiel sind danach bei 1.461 von 18.778 Bedarfsgemeinschaften (= 7,78 %) die tatsächlichen Kosten der Unterkunft höher als die angemessenen Kosten der Unterkunft.

Im Bereich von Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung sowie der Hilfe zum Lebensunterhalt kann nach Angaben des Sozialdezernenten keine belastbare Aussage getroffen werden. Von 6.977 Bedarfsgemeinschaften wohnen 200 bis 400 Bedarfsgemeinschaften in Wohnraum, dessen Kosten über den städtischen Mietobergrenzen liegen. Wegen der besonderen persönlichen Voraussetzungen würden im Einzelfall aber erhöhte Unterkunftskosten anerkannt, so dass weniger Haushalte betroffen seien, die derzeit die Differenz von der Mietobergrenze zur tatsächlichen Miete selbst tragen müssten.

Moratorium bei Mietsenkungsverfahren und 10 % Aufschlag bei Neuanmietungen

Die Landeshauptstadt Kiel als Träger der Sozialhilfe sowie der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung hat mit dem Jobcenter abgestimmt, bis zur Vorlage neuer Mietobergrenzen keine neuen Mietsenkungsverfahren einzuleiten. Da die Stadt Kiel davon ausgeht, dass die angemessenen Kosten der Unterkunft ansteigen, folgt sie der Empfehlung des Sozialgerichts Kiel und erkennt bei Neuanmietungen „weitestgehend“ die Werte der alten Mietobergrenzen zuzüglich 10 % an.

Überprüfungsanträge stellen!

Keine Aussagen trifft die Stadt Kiel hingegen zu ihrem Umgang mit Bestandsmietverhältnissen, in denen Leistungsberechtigte schon jetzt zu ihrer Miete dazuzahlen. Aufgrund der Erfahrungen aus der Vergangenheit – die Stadt erkannte hier die angehobenen Mietobergrenzen nicht rückwirkend an – ist Leistungsbeziehern dringend zu raten, rückwirkend ab 01.12.2016 noch in diesem Jahr Überprüfungsanträge nach § 40 Abs. 1 Satz Nr. 2 SGB II i.V.m. § 44 SGB X zu stellen.

Falls es Unterschiede geben sollte …

Ein wenig schmunzeln lässt die Antwort der Stadt auf die Frage, ob bei den anzuerkennenden Unterkunftskosten zwischen Angebotsmieten bei Neuanmietung und Bestandsmieten unterschieden wird. „Falls es Unterschiede geben sollte“, so der Sozialdezernent, „spielt dies bei den angemessenen Kosten der Unterkunft keine Rolle.“ Jeder, der mal einen Blick in eines der großen Wohnungssuchportale wirft, wird sich schnell davon überzeugen können: Ja, da gibt es ganz gewaltige Unterschiede.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Anwaltsgebühren: Selbst der Kostenprüfungsbeamte am Schleswig-Holsteinischen Landessozialgericht folgt der Kostenrechtsprechung der 21. Kammer am SG Kiel nicht mehr

(c) Thorben Wengert / pixelio.de

Bereits mehrfach habe ich an dieser Stelle über die höchst eigentümliche Kosten(drückungs)rechtsprechung der 21. Kammer am SG Kiel berichtet. Nun zeichnet sich ab, dass selbst der Kostenprüfungsbeamte bei dem Schleswig-Holsteinischen Landessozialgericht der Kosten(drückungs)rechtsprechung der 21. Kammer am SG Kiel nicht mehr zu folgen gedenkt. In einem Eilverfahren hatte ich die Festsetzung meiner Prozesskostenhilfevergütung in Höhe von 300,00 € zuzüglich Telekommunikationspauschale und Umsatzsteuer, zusammen 380,80 €, beantragt. Der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle am SG Kiel setzte meinen Gebühren auf 217,00 € zuzüglich Telekommunikationspauschale und Umsatzsteuer, zusammen 282,03 €, fest. Hiergegen legte ich Erinnerung ein und führte aus:

Begründung der Gebühr, § 14 RVG: Bedeutung aufgrund der erheblichen monatlichen Bedarfsunterdeckung von 96,50 € durch Zuzahlung zur Miete durch überdurchschnittlich hoch. Umfang mit 9 Schriftsätzen und einer 7seitigen Antragsschrift für ein ER-Verfahren ebenfalls überdurchschnittlich hoch. Schwierigkeit der Rechtsmaterie aufgrund neuer noch ungeklärter Rechtsfragen überdurchschnittlich. Geringe Einkommens- und Vermögensverhältnisse führen weder zu einer Herab- noch Heraufsetzung: BSG, Urteil vom 01.07.2009, B 4 AS 21/09 R, Rz. 38: “In den allermeisten Fällen werden jedoch, wie hier, schlechte Einkommens- und Vermögensverhältnisse mit einer überdurchschnittlichen Bedeutung der Angelegenheit einhergehen, sodass eine Kompensation dieser Kriterien [Anm: der unterdurchschnittlichen Einkommens- und Vermögensverhältnisse] eintritt (vgl. hierzu OLG Thüringen, Beschluss vom 2. 2. 2005 – 9 Verg 6/ 04 = JurBüro 2005, 303, 305 f; Jungbauer in Bischof, RVG, 2. Aufl 2007, RdNr 72 mwN).“ Das besondere Haftungsrisiko kann die Gebühren lediglich erhöhen, aber nicht herabmessen (BSG, Urteil vom 01.07.2009, B 4 AS 21/09 R, in Rn. 20 und 39). Die von mir gewählte Mittelgebühr ist mithin eher niedrig gegriffen.“

In seiner Stellungnahme vom 23.11.2017 beantragte der Kostenprüfungsbeamte bei dem Schleswig-Holsteinischen Landessozialgericht, meiner Erinnerung stattzugeben, weil diese begründet sei. Zur Begründung hat der Kostenprüfungsbeamte ausgeführt:

„Unter Berücksichtigung der Kriterien des § 14 RVG stellt sich vorliegend der Umfang der anwaltlichen Tätigkeit als zumindest durchschnittlich dar. Es ist ein mit einer Be­gründung versehener Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz mit Schriftsatz vom 13. September 2017 gestellt sowie sechs weitere Schriftsätze mit Sachvortrag vorgelegt worden. Ein Schriftwechsel zwischen den Beteiligten hat stattgefunden. Beweis wurde nicht erhoben. Der dokumentierte Zeitaufwand hat dem entsprochen, was in einem sozialgerichtlichen Verfahren üblicherweise anfällt.

Die Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit entspricht ebenfalls dem Durchschnitt. In dem Verfahren wurde Über Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) gestritten. Derartige Rechtsstreitigkeiten sind den sozialgerichtlichen Durch­schnittsfällen zuzurechnen. Anhaltspunkte, die auf vom Durchschnittsfall abweichende Besonderheiten schließen lassen, sind nicht ersichtlich.

Die Bedeutung der Angelegenheit für die Antragstellerin ist grundsätzlich überdurch­schnittlich, da existenzielle Leistungen begehrt werden, aber wegen der regelmäßigen Vorläufigkeit des Verfahrens auf einstweiligen Rechtsschutz lediglich durchschnittlich.

Die Einkommens- und Vermögensverhältnisse der Antragstellerin liegen unter dem Durchschnitt.

Bei Betrachtung aller Kriterien des § 14 RVG erscheint die Festsetzung der Verfah­rensgebühr in Höhe der Mittelgebühr als angemessen.“

Meinen Kollegen kann ich nur raten, sich gegen die Kosten(drückungs)rechtsprechung der 21. Kammer am SG Kiel konsequent zur Wehr zu setzen. Wo es möglich ist, sollte über Prozesskostenhilfe abgerechnet werden, um gegen Beschlüsse der 21. Kammer am SG Kiel in die Beschwerde gehen zu können. Dass selbst der Kostenprüfungsbeamte bei dem Schleswig-Holsteinischen Landessozialgericht der Kosten(drückungs)rechtsprechung der 21. Kammer am SG Kiel nicht mehr folgt, zeigt, wie weit sich die 21. Kammer am SG Kiel mit ihrer schematischen Anwendung des sog. Kieler Kostenkästchens von einer dem Einzelfall gerecht werdenden, der höchstrichterlichen Rechtsprechung Rechnung tragenden und die anwaltliche Arbeit angemessen honorierenden Rechtsprechung entfernt hat.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Jobcenter muss Fahrtkosten zur Waldorfschule übernehmen

(c) Kurt F. Domnik / pixelio.de

Schulpflichtige Kinder, deren Eltern von ALG II leben und die für den Besuch der „nächstgelegenen Schule des gewählten Bildungsgangs“ auf einen Schuldbus angewiesen sind, erhalten vom Jobcenter ihre tatsächlichen Fahrtkosten abzüglich eines Eigenanteils von 5 € erstattet. Einer Schülerin aus Husum, die die Grundschule einer privaten Waldorfschule in Flensburg besuchte, lehnte das Jobcenter die Übernahme ihrer Buskosten mit der Begründung ab, sie könne auch in Husum eine Grundschule besuchen, die sie zu Fuß erreichen könne. Das Sozialgericht Schleswig und das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht bestätigten die Entscheidung des Jobcenters. Das Bundessozialgericht gab nun der Schülerin Recht.

Die Waldorfschule in Flensburg nämlich war für die Schülerin die „nächstgelegenen Schule des gewählten Bildungsgangs“. Denn die Waldorfschule in Flensburg weist gegenüber den näher gelegenen öffentlichen Grundschulen in Husum einen „eigenständigen Bildungsgang“ auf. Zur Ausfüllung des Begriffs des „Bildungsgangs“ kann nämlich nicht allein auf die Schulart „Grundschule“ zurückgegriffen werden. Vielmehr ist auf das Profil der Grundschule abzustellen, soweit hieraus eine besondere inhaltliche Ausgestaltung des Unterrichts folgt, die nicht der näher gelegenen Schule entspricht. Diese besondere Profilbildung belegen im Hinblick auf die von der Schülerin besuchten Waldorfschule schon die besonderen Anforderungen, die für den Erwerb der allgemeinbildenden Schulabschlüsse an Waldorfschulen nach Schleswig-Holsteinischem Landesrecht gelten.

(BSG, Urteil vom 05.07.2017, B 14 AS 29/16 R)

Erstveröffentlichung in HEMPELS 11/2017

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Altersvorsorgevermögen aus tatsächlich geförderten Riester-Renten ist unpfändbar

(c) GesaD / pixelio.de

Der unter anderem für Insolvenzrecht zuständige IX. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat heute entschieden, dass das in einem Riester-Vertrag angesparte Guthaben nicht pfändbar ist, soweit die vom Schuldner erbrachten Altersvorsorgebeiträge tatsächlich gefördert werden und den Höchstbetrag nicht übersteigen.

Dem Insolvenzverwalter steht ein Kündigungsrecht nur zu, wenn der Rentenversicherungsvertrag dem Insolvenzbeschlag unterliegt. Gegenstände, die nicht der Zwangsvollstreckung unterliegen, gehören nicht zur Insolvenzmasse. Ob das in einem Riester-Vertrag angesparte Guthaben pfändbar ist und damit der Zwangsvollstreckung unterliegt, richtet sich nach § 851 Abs. 1 ZPO in Verbindung mit § 97 Satz 1 EStG. Da diese Ansprüche kraft gesetzlicher Anordnung nicht übertragbar sind, sind sie auch nicht pfändbar.

§ 851c ZPO ist durch das Gesetz zum Pfändungsschutz der Altersvorsorge vom 26. März 2007 (BGBl I 2007, 368) eingeführt worden. Damit hat der Gesetzgeber jedoch keine zusätzlichen Anforderungen an die Unpfändbarkeit von Ansprüchen aus Riester-Renten geschaffen. Insbesondere ist es nicht erforderlich, dass der Riester-Vertrag unkündbar ist (§ 851c Abs. 1 Nr. 2 ZPO). Soweit danach § 851c ZPO für die Unpfändbarkeit von Ansprüchen aus Verträgen Anforderungen an die Ausgestaltung der Vertragsbedingungen stellt, die von Riester-Verträgen nicht eingehalten werden müssen, handelt es sich um eine unterschiedliche gesetzgeberische Wertentscheidung. Der Gesetzgeber wollte durch § 851c ZPO den Schutz von Altersvorsorgeansprüchen verbessern. Daher kann dem Gesetz nichts dafür entnommen werden, dass die Unpfändbarkeit von Ansprüchen aus Riester-Renten gegenüber der Rechtslage nach § 851 Abs. 1 ZPO in Verbindung mit § 97 Satz 1 EStG zukünftig erschwert werden sollte.

Allerdings hängt der Pfändungsschutz für das in einem Riester-Vertrag angesparte Kapital davon ab, ob die Altersvorsorgebeiträge tatsächlich durch eine Zulage gefördert worden sind. Ausreichend für die Unpfändbarkeit ist, wenn der Altersvorsorgevertrag im Zeitpunkt der Pfändung förderfähig war, der Schuldner bereits einen Zulagenantrag für die entsprechenden Beitragsjahre gestellt hatte und die Voraussetzungen für die Gewährung einer Zulage vorlagen. Nachdem zwischen den Parteien streitig ist, ob die Schuldnerin einen Zulageantrag gestellt und eine staatliche Zulage erhalten hat, hat der Senat den Rechtsstreit zur weiteren Aufklärung an das Landgericht zurückverwiesen.

BGH, Versäumnisurteil vom 16.11.2017, IX ZR 21/17


Erfolglose Verfassungsbeschwerde gegen Begrenzung auf Übernahme der angemessenen Kosten der Unterkunft und Heizung

Vor den Sozialgerichten wird immer wieder darum gestritten, ob im Rahmen des Bezugs von Arbeitslosengeld II die Kosten für die Wohnung nicht nur in „angemessener“, sondern in tatsächlicher Höhe übernommen werden. Das Sozialgesetzbuch beschränkt die Erstattung auf „angemessene“ Aufwendungen. Die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat in einem am 14.11.2017 veröffentlichten Beschluss entschieden, dass diese Begrenzung mit dem Grundgesetz zu vereinbaren ist. Der Gesetzgeber muss keinen Anspruch auf unbegrenzte Übernahme der Wohnungskosten vorsehen. Die Regelung ist auch ausreichend klar und verständlich. Damit hat der Gesetzgeber seiner aus der Verfassung herzuleitenden Pflicht genügt, einen konkreten gesetzlichen Anspruch zur Erfüllung des Grundrechts auf ein menschenwürdiges Existenzminimum zu schaffen.

Sachverhalt:

Die Beschwerdeführerin bezieht Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts. Sie bewohnt alleine eine 77 qm große Wohnung, für die das Jobcenter die Miet- und Heizkosten zunächst vollständig und seit 2008 nur teilweise übernahm. Ihre Klage auf vollständige Kostenübernahme wies das Sozialgericht ab; Berufung und Revision blieben erfolglos. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde trägt sie vor, in ihrem Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum verletzt zu sein. Daneben hat das Sozialgericht Mainz dem Bundesverfassungsgericht zwei Verfahren vorgelegt, weil es die Regelung in § 22 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch (SGB) II zu den Kosten der Unterkunft und Heizung für verfassungswidrig hält.

Wesentliche Erwägungen der Kammer:

  1. Die mit der Verfassungsbeschwerde erhobenen Rügen einer Verfassungswidrigkeit des § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II greifen nicht durch. Die Regelung genügt der Pflicht des Gesetzgebers, einen konkreten gesetzlichen Anspruch zur Erfüllung des Grundrechts auf ein menschenwürdiges Existenzminimum zu schaffen.
  2. a) Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 Grundgesetz (GG) gewährleistet das gesamte menschenwürdige Existenzminimum, zu dessen Sicherung auch die Bedarfe für Unterkunft und Heizung zu decken sind. Das Grundgesetz gibt keinen exakt bezifferten Anspruch auf Sozialleistungen vor. Die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums muss aber durch ein Gesetz gesichert sein, das einen konkreten Leistungsanspruch enthält.
  3. b) Es ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass der Gesetzgeber keinen Anspruch auf unbegrenzte Übernahme der Kosten für Unterkunft und Heizung normiert hat. Zwar betrifft diese Bedarfsposition die grundlegende Lebenssituation eines Menschen. Doch ergibt sich daraus nicht, dass auch jedwede Unterkunft im Falle einer Bedürftigkeit staatlich zu finanzieren und Mietkosten unbegrenzt zu erstatten wären.
  4. c) Der Gesetzgeber durfte den unbestimmten Rechtsbegriff der Angemessenheit verwenden, um die Kostenübernahme für Unterkunft und Heizung zu begrenzen. Was hier als „angemessen“ zu verstehen ist, lässt sich durch Auslegung und insbesondere unter Berücksichtigung der Entstehungsgeschichte und der weiteren Regelungen des Sozialgesetzbuches ausreichend bestimmen. Danach ist der konkrete Bedarf der Leistungsberechtigten einzelfallbezogen zu ermitteln. Dabei gehen die Fachgerichte davon aus, dass anhand der im unteren Preissegment für vergleichbare Wohnungen am Wohnort der Leistungsberechtigten marktüblichen Wohnungsmieten ermittelt werden kann, welche Kosten konkret angemessen sind und übernommen werden müssen.
  5. Mit separatem Beschluss hat die Kammer festgestellt, dass die Vorlagen des Sozialgerichts Mainz unzulässig sind. Es fehlte eine hinreichende Darlegung durch das vorlegende Gericht, dass und wie die Anspruchsgrundlage ausgelegt werden kann, um den verfassungsrechtlichen Anforderungen zu entsprechen.

Pressemitteilung Nr. 96/2017 vom 14. November 2017

Beschluss vom 10. Oktober 2017, Beschluss vom 06. Oktober 2017
1 BvR 617/14
1 BvL 2/15, 1 BvL 5/15


Mietobergrenzen in Kiel: Bis 31.01.2018 muss die Stadt neue Mietobergrenzen beschließen

Seit dem 01.12.2016 verfügt die Landeshauptstadt Kiel über keine aktuellen Mietobergrenzen für Bezieher von Leistungen nach dem SGB II („Hartz IV“), der Grundsicherung nach dem SGB XII sowie dem Asylbewerberleistungsgesetz mehr. In Eilverfahren haben – soweit hier ersichtliche – alle Kammern am SG Kiel Betroffenen, die zu ihrer Miete hinzuzahlen müssen, Leistungen für die Unterkunft in Höhe der alten Mietobergrenzen aus dem Jahre 2014 zuzüglich eines Zuschlags von 10 % zugesprochen (siehe dazu: SG Kiel: Kieler Mietobergrenzen sind seit Dezember 2016 um 10 Prozent zu erhöhen).

Hatte zunächst eine Kammer am SG Kiel der Stadt eine Frist zum Beschluss neuer Mietobergrenzen bis 30.09.2017 gesetzt (anschließend Rückgriff auf die sehr viel höheren Werte nach § 12 WoGG zuzüglich eines Sicherheitszuschlages von 10 %), scheint sich nun am SG Kiel kammerübergreifend die Auffassung durchgesetzt zu haben, der Stadt eine Frist bis zum 31.01.2018 zuzugestehen, um neue Mietobergrenzen zu verabschieden (siehe aktuell: SG Kiel, Beschluss vom 07.11.2017, S 23 SO 23/17 ER). Sollten bis dahin keine neuen Mietobergrenzen vorliegen, beabsichtigen einzelne Kammern am SG Kiel nach diesseitigen Informationen, auch in Hauptsacheverfahren ab 01.12.2016 Leistungen für die Unterkunft in Höhe der Wohngeldtabelle plus 10 % zuzusprechen.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Keine vorläufige Minderung von ALG II bei möglicher Sperrzeit

(c) Gerd Altmann / pixelio.de

Prüft die Bundesagentur für Arbeit den Eintritt einer Sperrzeit wegen Arbeitsplatzaufgabe ohne „wichtigen Grund“ und beantragt der Arbeitslose deswegen zunächst ALG II, darf das Jobcenter Leistungen nach dem SGB II nicht nach § 31 Abs. 2 Nr. 3 SGB II über § 41 a Abs. 1 Satz 1 SGB II mit der Begründung vorläufig um 30 % mindern, es bestehe die Möglichkeit, dass der Arbeitslose bei vollem ALG I nicht hilfebedürftig sein könnte und bei einem Anspruch auf ergänzendes ALG II (zum ALG I) die Anspruchshöhe noch nicht klar sei.

Nach Auffassung des Sozialgerichts Schleswig lässt die Rechtsauffassung des beklagten Jobcenters „ein grundsätzliches falsches Verständnis“ der Regelung zur vorläufigen Leistungsbewilligung erkennen. Die Möglichkeit zur vorläufigen Leistungsbewilligung solle gerade bewirken, dass ein Leistungsberechtigter bereits Leistungen erhalten kann, obwohl Grund und Höhe seines Anspruches noch nicht mit Sicherheit feststellbar sind. Die Zeit, die der Leistungsträger für die zur Feststellung des Anspruches bzw. der Anspruchshöhe erforderlichen Ermittlungen benötigt, soll dabei nicht zu Lasten des Leistungsberechtigten gehen. Mit diesem Gesetzeszweck ist es nicht vereinbar, dass ein Leistungsträger – hier das Jobcenter – im Rahmen einer vorläufigen Bewilligungsentscheidung zu Lasten des Hartz-IV-Empfängers davon ausgeht, dass ein Sanktionstatbestand erfüllt ist, ohne das bislang feststeht, ob die Sanktionsvoraussetzungen tatsächlich vorliegen. Eine solche Handhabung laufe „dem Gesetzeszweck diametral zuwider“. Die Leistungen waren vorläufig ungemindert zu gewähren.

SG Schleswig, Beschluss vom 11.05.2017, S 2 AS 57/17 ER

Erstveröffentlichung in HEMPELS 10/2017

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Zur Rückforderung von ALG II bei Nichtbenennung aller Bescheide im Aufhebungs- und Erstattungsbescheid

Bundessozialgericht in Kassel

Die Aufhebung von fehlerhaften ALG II-Bewilligungsbescheiden sowie die ensprechenden Erstattungsverlangen der Jobcenter wurden von den Gerichten bisher nicht selten aus einem einfachen, formalen Grunde aufgehoben: Die Jobcenter hatten im Verfügungssatz der Aufhebungsbescheide nicht alle für den betreffenden Zeitraum erlassenen Änderungsbescheide ausdrücklich unter Datumsangabe benannt. Wies das Gericht auf diese Problematik hin, war den Jobcentern eine Korrektur aufgrund der Jahresfrist des § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X im Regefall nicht mehr möglich. Die jeweiligen nicht aufgehobenen und damit endgültig bestandkräftigen (fehlerhaften) Änderungsbescheide vermittelten den Leistungsbereuchtigen ein „Recht zum Behaltendürfen“, die fehlerhaft gewährten ALG II-Leistuntungen konnten nicht (mehr) zurückgefordert werden. Diese Rechtsprechung hat das BSG nun ein Stück weit eingeschränkt.

Sachverhalt

Der 1956 geborene Kläger handelte seit 2003 insbesondere mit Markenuhren. Die daraus erzielten Einnahmen – pro Jahr jeweils mehr als 40.000 Euro – teilte er dem beklagten Jobcenter nicht mit, sondern bezog von diesem vom 01.01.2005 bis 31.10.2007 ALG II und war über das Jobcenter kranken-, pflege- und rentenversichert. Die Leistungen wurden ihm durch mehrere Bewilligungsbescheide sowie Änderungsbescheide bewilligt. Nachdem das beklagte Jobcenter von den Einnahmen erfahren hatte, hob es die Bewilligungsbescheide ausdrücklich auf und forderte die vom 01.01.2005 bis 31.10.2007 erbrachten Leistungen einschließlich gezahlter Beiträge zur Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung in Höhe von circa 29.200 Euro zurück.

Das SG hat den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid des beklagten Jobcenters aufgehoben, soweit die Erstattung von mehr als circa 18.670 Euro begehrt wurde, und die Klage im Übrigen abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die im Verfügungssatz des Bescheides nicht ausdrücklich genannten Änderungsbescheide seien nicht aufgehoben worden und ständen einer höheren Erstattung entgegen. Das nur vom beklagten Jobcenter angerufene LSG hat dies bestätigt.

Mit der ebenfalls nur vom beklagten Jobcenter eingelegten Revision rügt dieses eine Verletzung von §§ 45, 50 SGB X. Der Aufhebungs- und Erstattungsbescheid habe sich auf den gesamten Zeitraum erstreckt und alle in dieser Zeit ergangenen Änderungsbescheide umfasst, auch wenn sie nicht in seinem Verfügungssatz ausdrücklich aufgeführt worden seien.

Entscheidungsgründe des BSG

Die Revision des Beklagten ist im Wesentlichen erfolgreich gewesen. Die Urteile des LSG und des SG sind geändert worden. Der angefochtene Bescheid des Beklagten ist nur insoweit aufgehoben worden, wie die Erstattung von Beiträgen zur Rentenversicherung in Höhe von 2.280 Euro gefordert wird. Im Übrigen ist die Klage abgewiesen worden.

Entgegen der Ansicht von SG und LSG ist dem angefochtenen Bescheid nicht nur die Aufhebung der in dessen Verfügungssatz ausdrücklich genannten Bescheide zu entnehmen, sondern die Aufhebung aller Bescheide, die Regelungen für den im Verfügungssatz genannten Zeitraum vom 01.01.2005 bis zum 31.10.2007 enthalten. Dies folgt nach dem zugrunde zu legenden objektiven Empfängerhorizont aus der weiteren Begründung des Bescheids, an dem hinsichtlich seiner Bestimmtheit angesichts des genannten Zeitraums und der aufgegliederten Erstattungsforderung keine Zweifel bestehen. Spätestens dem Widerspruchsbescheid konnte der Kläger genau aufgeführt für die einzelnen Zeiträume die betroffenen Änderungsbescheide entnehmen.

Die Aufhebung des Erstattungsbegehrens hinsichtlich der Rentenversicherungsbeiträge beruht auf dem Fehlen einer Rechtsgrundlage.

BSG, Urteil vom 25.10.2017, B 14 AS 9/17 R


Hartz IV: Antragsstellung nicht vergessen!

(c) Kurt F. Domnik / pixelio.de

Leistungen nach dem SGB II (ALG II) werden nur ab dem Monat der Antragstellung bewilligt (§ 37 SGB II). In der anwaltlichen Beratung wird immer wieder gefragt, ob vom Jobcenter nicht auch für Monate vor der Antragstellung ALG II gezahlt werden kann, wenn ein Hilfebedürftiger ohne sein Verschulden – etwa aus gesundheitlichen Gründen – daran gehindert war, einen ALG II-Antrag zu stellen.

Die Antwort lautet: Im Regelfall nicht. Zwar kann demjenigen, der ohne sein Verschulden daran gehindert war, ein gesetzliche Frist einzuhalten, auch im Sozialrecht „Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand“ gewährt werden (§ 27 SGB X). Allerdings ist die ALG II-Antragstellung an keine „Frist“ gebunden. Es ist nur geregelt, dass es vor der Antragstellung kein ALG II gibt. Weil es keine Frist gibt, ist deswegen auch keine Wiedereinsetzung möglich. Allerdings können Hilfebedürftige in Ausnahmefällen einen sog. „sozialrechtlichen Herstellungsanspruch“ darauf haben, so gestellt zu werden, als hätten sie ihren Antrag rechtzeitig gestellt, wenn die Behörde sie nicht oder falsch beraten hat und sie deswegen keinen ALG II-Antrag gestellt haben. Eine Nichtberatung liegt etwa vor, wenn das Jobcenter auf die Erforderlichkeit der Stellung eines Weiterbewilligungsantrages nicht hingewiesen hat. Eine Falschberatung liegt z.B. vor, wenn ein Behördenmitarbeiter erklärt, ALG II gäbe es grundsätzlich nur als Darlehen oder ein Anspruch bestünde ohnehin nicht – und der Hilfebedürftige deswegen von einer Antragstellung absieht.

BSG, Urteile vom 18.11.2011, B 4 AS 29/10 R und B 4 AS 99/10 R

Erstveröffentlichung in HEMPELS 9/2017

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Tätigkeitsbericht 2016: Bürgerbeauftragte berichtet von Problemen mit Hartz IV, dem Zugang zum Krankenversicherungsschutz und bei Leistungen für Kinder mit Behinderungen

Die Bürgerbeauftragte für soziale Angelegenheiten des Landes Schleswig-Holstein, Samiah El Samadoni, hat heute (Donnerstag) in Kiel ihren Tätigkeitsbericht 2016 vorgestellt. Die Bürger richteten 3.323 Petitionen an die Beauftragte, um ihre Sorgen, Nöte und Ängste vorzutragen, weil sie Streitigkeiten und Probleme mit den Sozialbehörden hatten. Wie in den letzten Jahren bildeten die Eingaben zum Bereich Grundsicherung für Arbeit-suchende/Hartz IV den Schwerpunkt der Arbeit (876). Seit Bestehen des Amtes (eingerichtet 1988) gab es insgesamt 76.923 Petitionen.

Im Bereich der Grundsicherung für Arbeitsuchende oder im Alter ist der Mangel an bezahlbarem Wohnraum in einigen Regionen des Landes immer noch ein gravierendes Problem. „Der Umgang der Jobcenter und auch der Sozialämter mit den schlüssigen Konzepten zur Bestimmung der Mietrichtwerte muss vor diesem Hintergrund flexibler, mit mehr Augenmaß und erhöhter sozialer Verantwortung erfolgen“, erläuterte El Samadoni. „Das bedeute auch, dass in Einzelfällen eine Miete übernommen werden muss, die über dem Mietrichtwert liegt.“ Hierzu gehöre zudem, dass die Konzepte wegen der Dynamik am Wohnungsmarkt jährlich und bei besonderen Ereignissen auch unterjährig zu überprüfen und an die Wohnungsmarktsituation anzupassen seien. Schließlich müssten auch die besonderen Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung und von älteren Menschen stärker berücksichtigt werden.

Sprunghaft angestiegen sind im Berichtsjahr die Petitionen rund um die gesetzliche Krankenversicherung von 353 Eingaben in 2015 auf 450 Eingaben. Das ist zugleich die höchste Zahl an Eingaben zu diesem Bereich seit Bestehen der Dienststelle. Bisher setzt sich diese Entwicklung auch im laufenden Berichtsjahr fort. Als besorgniserregend bezeichnet El Samadoni auch die Themen, mit denen sich die Hilfesuchenden an die Bürgerbeauftragte wandten: So erhalten immer mehr Menschen lediglich eine Notversorgung, weil sie wegen Beitragsrückständen keinen umfassenden Versicherungsschutz in der gesetzlichen Krankenversicherung mehr bekommen. „Viele Bürgerinnen und Bürger können sich eine gute Gesundheitsversorgung nicht leisten, weil ihre Einkommenssituation das nicht zulässt“, erklärte El Samadoni. Auch der schwierige Zugang zur gesetzlichen Krankenversicherung ist für viele Menschen ein zunehmend wichtiges und existenzielles Thema. Hier sei zu beobachten, so die Bürgerbeauftragte, wie sich die seit dem 1. August geltende Erleichterung eines Zugangs zur Krankenversicherung der Rentnerinnen und Rentner für Menschen auswirke, die Kinder erzogen haben.

Ein wichtiges Thema im vergangenen Jahr war der Bereich KiTa. Familien beklagten sich über zu hohe Gebühren und dadurch entstehende finanzielle Schwierigkeiten. Andere Betroffene wandten sich an die Bürgerbeauftragte, weil es erhebliche Probleme gab, einen bedarfsgerechten KiTa- oder Krippenplatz zu finden. Das galt insbesondere für Krippenplätze für U-3 Kinder. „In vielen Fällen stand deswegen der Rechtsanspruch auf einen KiTa- oder Krippenplatz lediglich auf dem Papier“, erläuterte El Samadoni. „Probleme nehme ich ganz besonders für U-3 Kinder mit Behinderung wahr, die wegen ihres gesteigerten Unterstützungs- und Hilfebedarfs oft erhebliche Schwierigkeiten haben, einen bedarfsgerechten Krippenplatz zu finden,“ so die Bürgerbeauftragte weiter. Sie appelliert daher an Land und kommunale Ebene, sich dieser Problematik zeitnah und intensiv anzunehmen. „Behinderte Kinder unter drei Jahren müssen als Schwächste der Schwachen genauso Zugang zu Krippenplätzen haben, wie Kinder ohne Behinderung.“ Das werde durch die momentanen Finanzierungsregelungen nicht gewährleistet. Über den Landesrahmen-vertrag müssten Grundlagen geschaffen werden, damit auch ein adäquates Angebot an Integrationsplätzen in den Krippen geschaffen werden könne.

Ein besonderes Problem war 2016 in einigen Kreisen erneut die Schulbegleitung für Kinder mit Behinderung bei inklusiver Beschulung. So war es für viele Eltern schwierig, für ihre Kinder eine bedarfsgerechte Hilfeleistung zu erhalten, da unter Hinweis auf eine Eilentscheidung des Landessozialgereichtes aus dem Jahr 2014 Leistungen gekürzt oder ganz versagt wurden. Hintergrund war hier, dass die kommunale Eingliederungshilfe die Ansicht vertrat, dass die Schule für den durch das Schulgesetz definierten „pädagogischen Kernbereich“ verantwortlich sei und daher kein Anspruch auf Schulbegleitung bestünde. Ganz im Sinne der Bürgerbeauftragten ist diese Fragestellung durch das Bundessozialgericht gelöst worden: Das Gericht hat im Dezember 2016 nochmals ausdrücklich betont, dass es beim pädagogischen Kernbereich nicht auf landesrechtliche Regelungen wie das Schulgesetz ankommt, sondern nur auf Bundesrecht. In der Folge ist in Schleswig-Holstein das Landessozialgericht von seiner bisherigen Rechtsprechung abgerückt. Das führte zu dem erfreulichen Ergebnis, dass es keine Beschwerden mehr über nicht bedarfsgerechte Entscheidungen der Eingliederungshilfe aus diesem Grund gibt.

Pressemitteilung Nr. 176 / 14. September 2017


Hartz IV: Einkommensteuernachzahlung ist Betriebsausgabe

(c) Dr. Klaus-Uwe Gerhardt / pixelio.de

Müssen selbständige ALG II-Bezieher Einkommensteuer für zurückliegende Jahre nachzahlen, so ist diese Nachzahlung als Betriebsausgabe vom Einkommen aus selbständiger Tätigkeit abzusetzen.

In der Rechtsprechung wird vielfach die Auffassung vertreten, bei einer Einkommensteuernachzahlung handele es sich um eine sog. personenbezogene Ausgabe, weil alle Personen der Einkommensteuerpflicht unabhängig davon unterliegen, ob sie Einkommen  aus selbständiger oder nichtselbständiger Arbeit beziehen.  Die Einkommensteuernachzahlung könne deswegen keine Betriebsausgabe sein. Zudem handele es sich bei einer Steuernachzahlung um Schulden aus Zeiten vor dem aktuellen Bewilligungszeitraum.

Dieser Rechtsprechung ist das SG Chemnitz und ihm folgend das Sozialgericht Kiel entgegen getreten. Zutreffend weisen beide Gerichte darauf hin, dass für die Zuordnung als Betriebsausgabe allein darauf abzustellen ist, ob sich die Steuer der im Bewilligungszeitraum ausgeübten selbständigen Tätigkeit zuordnen lässt. Beruht die Steuernachzahlung auf Einkünften aus der immer noch ausgeübten selbständigen Tätigkeit, handelt es sich auch nicht um Schulden, da Steuern erst mit ihrer Festsetzung fällig und damit sozialrechtlich zu berücksichtigen sind.

(SG Chemnitz, Urteil vom 25.05.2016, S 35 AS 3984/14; SG Kiel, Vergleich vom 14.11.2016, S 40 AS 100/15)

Erstveröffentlichung in HEMPELS 08/2017

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Umzugshelfer vom Studentenwerk?

Im – grundsätzlich legitimen – Interesse einer möglichst weitreichenden Kostenminimierung lese ich in Schreiben der Jobcenter immer wieder Dinge, die mich spontan stutzig machen. Von angeblich kostenlosem Wohnraum in Kiel (in Obdachlosenunterkünften, die dann so ganz kostenlos auch wieder nicht sind) bis hin zu kostenlosen Möbeln (vom Sperrmüll) scheinen der Phantasie wenig Grenzen gesetzt.

Heute nun las ich in einem Schreiben des Jobcenters Kiel, „Umzugshelfer“ für das Einladen ihrer Möbel in Kiel könne eine Mandantin beim Studentenwerk „erfragen“. Also Umzugshelfer vom Studentenwerk? Kiel hat eine Universität. So weit, so gut. Aber dass das dortige Studentenwerk ALG II-Empfängern Umzugshelfer vermittelt, schien wenigstens kontraintuitiv. Also ein kurzer Anruf beim stellvertretenden Abteilungsleiter Personal und Recht beim Studentenwerk Schleswig-Holstein: Bekommt meine Mandantin bei Ihnen Umzugshelfer? Erstaunen. Man müsse das mal prüfen. Wenig später die E-Mail: „Sehr geehrter Herr Hildebrandt, hiermit kann ich Ihnen mitteilen, dass das Studentenwerk SH keinen Umzugshelfer für ALG II-Empfänger stellt.“ Wer hätte das gedacht?

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


„Kieler Kostenkästchen“ ade?

Sozialgericht Kiel

Jeder Kieler Rechtsanwalt kann ein Lied davon singen und sich dabei der mitfühlenden Anteilnahme seiner auswertigen Kollegen sicher sein: Die Rede ist vom sog. „Kieler Kostenkästchen“ (böse Zungen sprechen auch vom „Kieler Käsekästchen“), dem Versuche eines Kieler Sozialrichters, die Anwaltsgebühren im Sozialrecht auf den Cent genau zu bestimmen und festzusetzen. Dabei sollte der Gebrauch des Diminutivs nicht den Blick darauf verstellen, dass dieser „kleine Kasten“ mit schönster Regelmäßigkeit auf 10 bis 20 bedruckten Seiten Raum zu greifen pflegt – was für sich genommen schon ein Ärgernis ist (hier ein eher harmloses Beispiel mit „nur“ neun Seiten). In rechtlicher Hinsicht gravierender wiegt, dass diese Kammer-Rechtsprechung in vielfacher Hinsicht mit der Rechtsprechung des BSG zur Ausfüllung des Gebührenrahmens in sozialrechtlichen Angelegenheiten (grundlegend BSG, Urteil vom 01.07.2009, B 4 AS 21/09 R) unvereinbar ist. Insbesondere die Auffassung, die aufgrund der „Kostenkästchen“-Rechtsprechung mutmaßlich mögliche exakten Gebührenbestimmung lasse keinen Platz mehr für den (in allen Rechtsgebieten und von allen Gerichten im Grundsatz anerkannten) Ermessensspielraum (von ungefähr 20 %) des Anwalts, ist – vorsichtig formuliert – selbstbewusst.

Die 45. Kammer am SG Kiel hat es nun etwas strenger formuliert und der „Kieler Kostenkästchen“-Rechtsprechung regelungssystematische und logische Fehler nachgewiesen und sah sich offenbar – erkennbar adressiert an die Urkundsbeamten der Geschäftsstelle (UdG) des SG Kiel – zu der Feststellung genötigt, dass es sich bei dem „Kieler Kostenkästchen“ „nicht um normatives Recht“ handelt. Zur lesenswerten Begründung, dass mir tatsächlich 17,85 € und damit damit eine um 4,6 % (!) höhere Gebühr zusteht (siehe dazu: Jobcenter Kiel: Zumindest bei den Rechtsanwaltsgebühren sehr „genau“), hat das Gericht ausgeführt:

„Die Bestimmung der im Einzelfall angemessenen Gebühr ist allerdings – wie bereits ausge­führt – gemäß § 14 Abs. 1 Satz 1 RVG vorrangig dem billigen Ermessen des Rechtsanwalts überlassen. Dem liegt die Erwägung zu Grunde, dass über die Bestimmung dessen, was noch als billig oder schon als unbillig zu gelten hat, leicht Streit entstehen kann. Solchen Streit wollte der Gesetzgeber möglichst vermeiden, indem er dem Rechtsanwalt ein Beurteilungs- und Entscheidungsvorrecht eingeräumt hat, das mit der Pflicht zur Berücksichtigung jedenfalls der in § 14 RVG genannten Kriterien verbunden ist (vgl. BSG 01.07.2009 – B 4 AS 21/09 R Rz 19 = BSGE 104, 30).

Die Literatur (vgl. nur: Mayer in Gerold/Schmidt, RVG, 22. Auflage 2015, § 14 Rz 12 m. w. N.; Becker in Hauck/Noftz, SGB X, § 63 Rz 93 Stand V/2017) und ihr folgend die Rechtsprechung (vgl. nur BSG 01.07.2009 – B 4 AS 21/09 R Rz 19 m. w. N. = BSGE 104, 30) ge­stehen dem Rechtsanwalt darüber hinaus einen von dem Kostenschuldner wie auch von den Gerichten zu beachtenden Spielraum von 20 % (Toleranzgrenze) derjenigen Gebühr zu, die nach Auffassung des Gerichts unter Berücksichtigung der Kriterien des § 14 RVG angemes­sen erscheint.

Die aus der Rechtsprechung des Sozialgerichts Kiel (vgl. Beschluss vom 31.05.2011 – S 12 SF 129/10) übernommene Auffassung des Erinnerungsgegners und der UdG, das sog. Kie­ler Kostenkästchen lasse keinen Raum mehr für einen dem Rechtsanwalt einzuräumenden Spielraum, wird von der beschließenden Kammer nicht geteilt. Dabei kann hier dahinstehen, ob das Kieler Kostenkästchen die Feststellung der Billigkeit der Gebühren mit so hoher Ge­nauigkeit zulasst, dass für ein Abweichen der ermittelten Gebühren kein Erfordernis mehr besteht. Denn die genannte Auffassung lässt sich bereits mit dem oben dargestellten rege­lungssystematischen Zusammenhang nicht in Einklang bringen. Danach wird der 20 %ige Spielraum dem Rechtsanwalt im Rahmen seines Beurteilungs- und Entscheidungsvorrechts hinsichtlich der Anwendung der normativen Grundlagen der rechtsanwaltlichen Vergütung, insbesondere des Rechtsrahmens des § 14 Abs. 1 Satz 1 RVG und der Betragsrahmen der VV-RVG, eingeräumt und stellt mithin einen integralen Bestandteil der grundsätzlich dem Rechtsanwalt überlassenen Gesamtabwägung dar. Daraus folgt, dass er der dem UdG im Kostenfestsetzungsverfahren gemäß § 197 Abs. 1 Satz 1 SGG bzw. dem Richter im Erinne­rungsverfahren gemäß § 197 Abs. 2 SGG obliegenden Feststellung, ob die getroffene Be­stimmung i. S. d. § 14 Abs. 1 Satz 4 RVG billig oder aber i. S. d. § 14 Abs. 1 Satz 4 RVG unbillig und deshalb nicht verbindlich ist, logisch vorgeht und deshalb auch im Kostenfestsetzungs- bzw. Erinnerungsverfahren nicht außer Acht gelassen werden darf. Im Gegensatz dazu handelt es sich bei dem sog. Kieler Kostenkästchen nicht um normatives Recht, zu dessen Beachtung der Rechtsanwalt bei der Ausübung seines Beurteilungs- und Entschei­dungsvorrechts verpflichtet wäre, sondern um eine richterrechtlich entwickelte Berech­nungsmethode, welche der Rechtsanwalt seiner Gebührenbestimmung zugrundelegen kann, jedoch nicht muss. Tut er es nicht, nimmt er aber gleichwohl – ggf. unter Berücksichtigung des 20 %igen Spielraums – eine gemäß § 14 Abs. 1 Satz 1 RVG billige Bestimmung vor, so kann dem sog. Kieler Kostenkästchen deshalb allenfalls die Funktion eines Prüfinstruments im Rahmen der im Kostenfestsetzungs- bzw. Erinnerungsverfahren anzustellenden Gegen­probe zukommen, nicht aber diejenige eines die rechtsanwaltliche Gesamtabwägung regle­mentierenden Korrektivs. Insbesondere kann es in diesem Prüfungsstadium nicht an die Stelle des 20 %igen Spielraums des Rechtsanwalts treten und diesen nicht obsolet machen. Ein eigenständiger Anwendungsbereich ist vielmehr nur für den Fall denkbar, dass die Ge­bührenbestimmung des Rechtsanwalts mangels Unbilligkeit nicht verbindlich und durch eine Entscheidung des UdG oder des Richters zu ersetzen ist.

Streitig im vorliegenden Fall ist allein, ob die Terminsgebühr i. S. d. Nr. 3106 W-RVG in Hö­he der Mittelgebühr (150,00 €) – wie der Erinnerungsführer meint – oder in Höhe von 2/3 der Mittelgebühr (135,00 €) – wie der Erinnerungsgegner und die UdG meinen – angemessen ist. Dies bedarf indes nach den vorangegangenen Ausführungen keiner inhaltlichen Ent­scheidung. Denn auch wenn die Auffassung des Erinnerungsgegners und der UdG zutreffen sollten, so bleibt der Mehransatz des Prozessbevollmächtigten des Erinnerungsführers je­denfalls innerhalb des ihm zuzugestehenden 20 %igen Spielraums und ist deshalb nicht un­billig.“

Nach sage und schreibe acht Jahren kann ich dieses Klageverfahren nun also auch kostenrechtlich abschließen.

SG Kiel, Beschluss vom 21.07.2017, S 45 SF 97/15 E

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Zu den rechtfertigenden Gründen für einen Umzug innerhalb der Angemessenheitsgrenzen

(c) Gerd Altmann / pixelio.de

Nach § 22 Abs. 1 Satz 2 SGB II werden nach einem nicht erforderlichen Umzug in eine teurere – aber noch angemessene – Wohnung nur die Mietkosten der bisher bewohnten Wohnung anerkannt. In einem aktuellen Urteil hat das SG Rostock die Erforderlichkeit eines Umzuges aus nachfolgenden Gründen bejaht:

  • Für eine 60jährige Leistungsberechtigte nach dem SGB II ist eine Wohnfläche mit nur 29,60 qm, welche die Angemessenheitsgrenze von hier 45 qm um 15 qm unterschreitet, sozial-untypisch klein und beengt und ein Umzug schon deswegen erforderlich.
  • Der Auszug aufgrund der Beengtheit der Wohnverhältnisse war im konkreten Fall auch aus gesundheitlichen Gründen sowie zur Aufrechterhaltung der Erwerbsfähigkeit erforderlich.
  • Der Grundsatz „Keine Deckelung der Unterkunftskosten bei Neueintritt der Hilfebedürftigkeit“ (BSG, Urteil vom 09.04.2014, B 14 AS 23/13 R) durch die Erzielung von bedarfsdeckendem Einkommen in mindestens einem Monat scheitert nicht daran, dass der Arbeitgeber das Monatseinkommen verteilt auf zwei Monate ausgezahlt hat; auch die Entgeltersatzleistung Krankengeld zählt zum Einkommen.
  • Die für die Klägerin nicht vorhersehbare vorzeitige Beendigung des Arbeitsverhältnisses lässt den plausiblen Grund für den Umzug auch nicht nachträglich wieder entfallen.

Die Mietobergrenzen der Hansestadt Rostock (berechnet aufgrund der Werte des qualifizierten Mietspiegels der Stadt) beruhen im Übrigen auf einem „schlüssigen Konzept“ im Sinne der Rechtsprechung des BSG.

SG Rostock, Urteil vom 22.06.2017, S 13 AS 845/14

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Dauerthema Doppelmieten

(c) GesaD / pixelio.de

Bereits mehrfach habe ich auf dieser Website über das Thema Doppelmieten bei Umzug berichtet (Jobcenter muss Doppelmieten übernehmen; Doppelmieten: Konsequent rechtswidriges Verwaltungshandeln seit nunmehr 10 Jahren; Doppelmieten bei Umzug: In der Regel vom Jobcenter zu übernehmen!; Zur Übernahme doppelter Mietaufwendungen bei Umzug). Scheinbar ohne Erfolg. Die Übernahme von doppelten Mietaufwendungen wird von den Jobcentern weiterhin fast durchgängig pauschal abgelehnt. Weiteres Urteil zum Thema: SG Kiel, Urteil vom 04.04.2017, S 30 AS 407/15:

„Grundsätzlich geht die Kammer davon aus, dass bei einem Umzug eine zeitliche Über­schneidung des alten und neuen Mietverhältnisses eher die Regel als die Ausnahme dar­stellt. Gründe dafür sind zum einen darin zu sehen, dass die meisten Mieter — gerade in Zei­ten eines angespannten Mietmarktes — davor zurückschrecken, ein bestehendes Mietver­hältnis zu kündigen, ohne bereits den Mietvertrag für eine neue Wohnung unterschrieben zu haben. Weiterhin spricht eine oft vorliegende Verpflichtung zur Auszugsrenovierung der alten Wohnung gegen einen „nahtlosen“ Übergang von einem Mietverhältnis ins andere, weil für einen solchen dann keine Zeit mehr bliebe. Auch dann, wenn dem Leistungsberechtigten wegen seiner familiären oder sonstigen Situation ein kompletter Aus- und Einzug an einem Tag nicht zumutbar ist, geht die Kammer von der Angemessenheit einer „Doppelmiete“ für einen kurzen Zeitraum aus.“

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


SG Kiel: Kieler Mietobergrenzen sind seit Dezember 2016 um 10 Prozent zu erhöhen

(c) Dr. Klaus-Uwe Gerhardt / pixelio.de

Bereits im März 2017 hatte ich gefragt „Wo bleibt der Kieler Mietspiegel 2016?“ und darauf hingewiesen, dass für Kiel seit dem 01.12.2016 kein qualifizierter Mietspiegel mehr vorliegt. Für das Sozialrecht stelle sich damit die Frage, ob die aktuellen Kieler Mietobergrenzen, die aus den Werten des Kieler Mietspiegels 2014 errechnet worden sind, seit 01.12.2016 noch auf einem sog. „schlüssigen Konzept“ im Sinne der Rechtsprechung des BSG beruhen. Diese Frage hat die 32. Kammer am Sozialgericht Kiel nun verneint (Beschluss vom 26.07.2017, S 32 AS 142/17 ER – der besseren Lesbarkeit wegen wurden fehlende bzw. von der Diktiersoftware des Gerichts offenbar fehlerhaft interpretierte Worte korrigiert, die Korrekturen sind in Klammern und kursiv gesetzt).

Sei 01.12.2016 keine aktuellen Mietobergrenzen mehr in Kiel

„Die Mietobergrenze basierte auf einem Konzept, für das der qualifizierte Mietspiegel 2014 der Landeshauptstadt Kiel zugrunde gelegt worden war und das in modifizierter Form vom Schleswig-Holsteinischen Landessozialgericht in Bezug auf den Mietspiegel 2010 als schlüssiges Konzept im Sinne der Vorgaben des Bundessozialgerichts (erstmals BSG, Urteil vom 22. September 2009 – B 4 AS 18/09 R – juris) qualifiziert worden war (Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, Urteil vom 19. Mai 2014 — L 6 AS 18/13 —juris).

Seit dem 20. Juni 2017 gilt für nicht preisgebundenen Wohnraum in der Landeshauptstadt Kiel ein neuer qualifizierter Mietspiegel im Sinne von § 558d Bürgerliches Gesetzbuch (BGB). Anders als der vorherige qualifizierte Mietspiegel, der nach der Tabellenmethode aufgebaut war, ist der aktuelle qualifizierte Mietspiegel mit der so genannten Regressionsmethode erstellt worden, die mit einer kleineren Stichprobe auskommt. Neue Mietobergren­zen sind auf Basis des neuen qualifizierten Mietspiegels bei der Landeshauptstadt Kiel noch nicht ermittelt und veröffentlicht worden.“

Dennoch kein Rückgriff auf die Werte der Wohngeldtabelle

„Dies führt nach Auffassung der Kammer jedoch weder dazu, dass die bisherigen Mietober­grenzen weiterhin uneingeschränkt Geltung haben können, noch dazu, dass nunmehr kein schlüssiges Konzept mehr vorliegt und dementsprechend für die Bestimmung der Angemes­senheit von Unterkunftskosten auf die Werte der Wohngeldtabelle zu § 12 WoGG zurückzu­greifen ist.“

Gericht kann Mietobergrenzen nicht selbst ermitteln

„Zwar fehlt es derzeit an dem Datenmaterial, auf dessen Basis das untere Preissegment im Rahmen der ortsüblichen Vergleichsmieten, die der Mietspiegel ausweist, ermittelt werden könnte. Ohne Kenntnis der dem Mietspiegel zugrunde liegenden Daten kann auch das Ge­richt im Rahmen seiner eigenen Befugnis zur Ausfüllung des unbestimmten Rechtsbegriffs der Angemessenheit von Unterkunftskosten die abstrakte Angemessenheitsgrenze nicht ermitteln.“

Trotzdem kein „Erkenntnisausfall“

„Allerdings geht die Kammer davon aus, dass in einer begrenzten Übergangszeit, in der das bisher geltende schlüssige Konzept auf der Basis des – andersartigen – neuen qualifizierten Mietspiegels angepasst werden muss, kein Erkenntnisausfall hinsichtlich der angemessenen Referenzmiete im Sinne der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG, Urteil vom 16. Juni 2015 – B 4 AS 44/14 R – juris) anzunehmen ist, der einen Rückgriff auf die Tabellen­werte des § 12 WoGG zuzüglich eines Sicherheitszuschlages erforderlich machen würde. In dem hier vom BSG entschiedenen Fall lagen Mietspiegeldaten gerade nicht vor.“

Übergangsfrist bis 30.09.2017

„Dem Antragsgegner ist vielmehr eine angemessene Übergangszeit einzuräumen, in der wei­terhin die bisherigen Mietobergrenzen als Grundlage herangezogen werden dürfen. Als an­gemessen sieht die Kammer dabei eine Zeit bis zum 30. September 2017 an. Wenn, was der Kammer nicht bekannt ist, die Ratsversammlung der Landeshauptstadt Kiel über die Mietobergrenzen entscheiden sollte, wäre dies in der nächsten stattfindenden Sitzung am 21. September 2017, deren Tagesordnung noch nicht veröffentlicht ist, möglich. Auch im Übrigen dürfte die Zeit von drei Monaten ab Inkrafttreten des neuen Mietspiegels ausreichen, um auf der Basis des dem Mietspiegel zugrunde liegenden Datenmaterials neue Mietobergren­zen zu ermitteln.“

In der Übergangszeit 10 % Aufschlag auf die bisherigen Mietobergrenzen

„Bei der Gewährung einer Übergangszeit ist jedoch zu berücksichtigen, dass der qualifizierte Mietspiegel 2014, der als Fortschreibungsmietspiegel in Anpassung des Mietspiegels 2012 gemäß § 558d Abs. 2 Satz 1 BGB erstellt worden war, nur bis zum 30. November 2016 Gül­tigkeit hatte. Bereits zum 01. Dezember 2016 wäre gemäß § 558d Abs. 2 Satz 3 BGB ein neuer qualifizierter Mietspiegel zu erstellen gewesen. Unabhängig von den Ursachen für die zeitliche Verzögerung entspricht es nicht den Aktualitätsanforderungen an die Vergleichsdaten, die sich sowohl aus § 558d Abs. 2 BGB als auch aus § 22c Abs. 2 SGB II ergeben, dass im Ergebnis damit ein Dreivierteljahr ohne Neufestsetzung toleriert wird.

Dauer und Höhe der zusprechenden Leistungen liegen gemäß § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 938 Abs. 1 ZPO im Ermessen des Gerichts. Die Kammer hält es angesichts der ver­strichenen Zeit seit Ablauf der Geltungszeit des Mietspiegels 2014 für geboten, einen pau­schalen Mietpreisentwicklungszuschlag von 10% bei der bisherigen Mietobergrenze zu be­rücksichtigen. Dies trägt dem Umstand Rechnung, dass bereits nach einer online-Meldung der Presseabteilung der Landeshauptstadt Kiel vom 30. Mai 2017 im Vorgriff auf den neuen Mietspiegel eine Steigerung der Mietpreise von 3,1 % bei Bestands- und 4,6 % bei Neuvertragsmieten mitgeteilt wurde. Zuzüglich eines weiteren Sicherheitszuschlages auf insgesamt 10 % ergeben sich bei dem Antragsteller nach dem Kopfteilprinzip anteilig zu berücksichti­gende Unterkunftskosten von 452,10 EUR bruttokalt.“

Nachtrag: Wie hier (alte Mietobergrenze zuzüglich 10 %) haben bisher entschieden: SG Kiel, Beschluss vom 26.07.2017, S 32 AS 142/17 ER, SG Kiel, Beschluss vom 01.09.2017, S 43 AS 175/17 ER; SG Kiel, Beschluss vom 02.10.2017, S 43 AS 225/17 ER; SG Kiel, Beschluss vom 02.01.2017, S 40 AS 230/17 ER).

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Die Bürgerbeauftragte informiert: Wechsel in die gesetzliche Krankenversicherung für Rentner künftig einfacher möglich

Bislang haben viele Betroffene, die zeitweise privat krankenversichert waren, ab Beginn ihrer Rente nicht die Möglichkeit einer Pflichtmitgliedschaft in der Krankenversicherung der Rentner (KVdR). Für viele Rentnerinnen und Rentner, die Kinder erzogen haben, wird eine Pflichtmitgliedschaft ab dem 1. August 2017 aufgrund einer Gesetzesänderung nun möglich. „Ich empfehle allen Betroffenen, die von der neuen Regelung profitieren könnten, den Mitgliedschaftsstatus von der Krankenkasse prüfen zu lassen“, äußerte die Bürgerbeauftragte für soziale Angelegenheiten Samiah El Samadoni heute in Kiel. Die Kassen seien dazu nicht von Amts wegen verpflichtet.

Wegen der sog. „9/10-Regelung“ werden Personen im Ruhestand nur dann Pflichtmitglied in der gesetzlichen KVdR, wenn sie in der zweiten Hälfte ihres Erwerbslebens mindestens zu 90 % gesetzlich krankenversichert waren. Personen, die jene Vorversicherungszeit nicht erfüllen, werden entweder als freiwilliges Mitglied gesetzlich versichert oder müssen privat versichert bleiben. Damit sind in aller Regel deutlich höhere Kosten gegenüber einer Pflichtmitgliedschaft verbunden. Künftig werden pro Kind pauschal drei Jahre auf die Vorversicherungszeit angerechnet – sowohl für die Mütter als auch für die Väter.

„Die Gesetzesänderung entlastet insbesondere Frauen, die während der Kindererziehung privat versichert waren und später in sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse zurückgekehrt sind“, hob Frau El Samadoni hervor. In anderen Konstellationen führe die 9/10-Regelung jedoch weiterhin zu unverhältnismäßigen Nachteilen, häufig zum Beispiel im Falle der Scheidung von Beamten. „Zudem sind bei der Anwendung der neuen Regelung noch einige rechtliche Detailfragen zu klären“, betonte die Bürgerbeauftragte. Sie werde die Umsetzung daher genau beobachten.

Pressemitteilung Nr. 158 vom 28.07.2017

Siehe auch:

sueddeutsche.de: Rentner können leichter in gesetzliche Krankenkasse zurück


Jobcenter muss Kosten einer Räumungsklage tragen

(c) Gerd Altmann / pixelio.de

Das Landessozialgericht Baden-Württemberg hat mit Urteil vom 27.06.2017 (L 9 AS 1742/14) entschieden, dass ein Jobcenter die Kosten einer Räumungsklage zu tragen hat, wenn es einem Leistungsberechtigten zu Unrecht die Leistungen versagt, dadurch Mietrückstände entstehen und der Vermieter in der Folge Räumungsklage erhebt.

Mit dieser Entscheidung betritt das Gericht insofern juristisches Neuland, als es die angefallenen Gerichtskosten als (einmalige anfallende) Bedarfe den Kosten der Unterkunft nach § 22 Abs. 1 SGB II zuordnet. Durch diese Zuordnung kann der Anspruch auf Ersatz der entstandenen Gerichtskosten vor den Sozialgerichten verfolgt werden, vor denen kein Anwaltszwang besteht und Leistungsberechtigten auch keine Gerichtskosten entstehen.

Die bisherige – wohl herrschende – Rechtsauffassung, wonach ein Anspruch auf Ersatz der Kosten einer von einem Leistungsträger verursachten Zwangsräumung als Schadensersatzanspruch im Wege der Amtshaftung nach Art. 34 GG i.V.m. § 839 BGB bereits in der ersten Instanz vor dem örtlich zuständigen Landgericht durchzusetzen ist, hat demgegenüber erhebliche Nachteile: Vor den Zivilgerichten sind vom Kläger Gerichtskosten einzuzahlen, es besteht vor den Landgerichten Anwaltszwang und auch die Leistungsträger müssen sich anwaltlich vertreten lassen mit der Folge, dass der leistungsberechtigte Kläger, verliert er den Prozess und wird ihm keine Prozesskostenhilfe bewilligt, die Gerichtskosten, seine Anwaltskosten und auch die Kosten des Gegenanwalts zu tragen hat. Zudem trifft den Kläger vor dem Zivilgericht die volle Darlegungs- und Beweislast aller Tatbestandsvoraussetzungen des § 839 BGB, denn anders als die Sozialgerichte (§ 103 Satz 1 SGG) erforscht das Zivilgericht den Sachverhalt nicht von Amts wegen.

Das Landessozialgericht hat wegen grundsätzlicher Bedeutung die Revision zum Bundessozialgericht zugelassen.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Schwangerschaft macht noch kein Kind

(c) Gerd Altmann / pixelio.de

Ziehen künftige Eltern bereits vor der Geburt ihres ersten Kindes zusammen und lebt einer der zukünftigen Eltern von Leistungen nach dem SGB II (Hartz IV), so werden die zukünftigen Eltern häufig schon vor der Geburt ihres Kindes ab dem Tage ihres Zusammenzuges als so genannte Bedarfsgemeinschaft behandelt. Folge: Der verdienende zukünftige Elternteil muss den anderen ab dem Tage des Zusammenzuges finanziell bis zur Grenze seiner eigenen Hilfebedürftigkeit unterhalten. Hintergrund dieser weit verbreiteten Praxis ist die Regelung in § 7 Abs. 3 in Verbindung mit Abs. 3a Nr. 2 SGB II. Danach kann das Jobcenter das Bestehen einer Bedarfsgemeinschaft vermuten, wenn Eltern „mit einem gemeinsamen Kind zusammenleben“.  Dieses „Zusammenleben“ wird von vielen Jobcenter auch bereit schon vor der Geburt des Kindes angenommen.

Das Landessozialgericht Hamburg hat dieser Praxis bereits früh widersprochen und entschieden, dass die Vermutungsregel des § 7 Abs. 3a Nr. 2 SGB II – Zusammenleben mit einem gemeinsamen Kind – nicht dahingehend ausgelegt werden kann, dass diese bereits bei Bestehen einer Schwangerschaft eingreift, da dies in klarem Widerspruch zum Wortlaut der Norm steht.

(LSG Hamburg, Beschluss vom 28.01.2008, L 5 B 21/08 ER AS)

Erstveröffentlichung in HEMPELS 7/2017

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Die Bürgerbeauftragte informiert: Wichtige Änderungen in der Sozialhilfe ab Juli

Zum 1. Juli 2017 sind zahlreiche Änderungen im SGB XII erfolgt. Die Bürgerbeauftragte Samiah El Samadoni weist darauf hin, dass sich das auf die Bewilligungspraxis bei der Hilfe zum Lebensunterhalt, bei der Grundsicherung im Alter und bei voller Erwerbsminderung auswirken kann. „Die Rechtsänderungen erfüllen mich allerdings mit Sorge, da zahlreiche Regelungen die Rechtslage des Bürgers verschlechtern, die Rechtsanwendung verkomplizieren und der Verwaltungsaufwand höher wird“, sagte El Samadoni heute in Kiel.

Im Einzelnen handelt es sich um folgende Änderungen:

Der neu eingeführte § 37a SGB XII sieht vor, dass Betroffenen auf Antrag ein Darlehen zu gewähren ist, wenn sie ihr anzurechnendes Einkommen – wie zum Beispiel beim erstmaligen Rentenbezug – erst am Monatsende erhalten und ihren Lebensunterhalt bis zum tatsächlichen Zuflusszeitpunkt nicht selber decken können. Das Darlehen wird ab dem Folgemonat mit Raten in Höhe von fünf Prozent des Eckregelsatzes (derzeit 20,45 Euro) mit den laufenden Leistungen aufgerechnet bis zu einem Höchstbetrag von 50 Prozent des Eckregelsatzes (derzeit 204,50 Euro). In der Vergangenheit wurde in diesen Fällen trotz Fehlens einer ausdrücklichen Rechtsgrundlage oftmals ebenfalls ein Darlehen gewährt, das dann aber aufgrund finanzieller Überforderung der Betroffenen in eine Beihilfe umgewandelt beziehungsweise niedergeschlagen wurde. Diese Möglichkeit besteht nun nicht mehr.

Grundsicherungsberechtigte, die sich länger als vier Wochen ununterbrochen im Ausland aufhalten, erhalten nach Ablauf der vierten Woche bis zu ihrer nachgewiesenen Rückkehr ins Inland keine Leistungen mehr (§ 41 a SGB XII). Bislang konnten Grundsicherungsempfänger ohne Verlust des Leistungsanspruchs ins Ausland fahren, wenn sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt weiterhin in Deutschland hatten. Hierfür wurde von der Verwaltungspraxis und den Gerichten teilweise ein Auslandsaufenthalt von bis zu sechs Monaten als unschädlich angesehen.

Eine weitere Neuregelung (§ 42a SGB XII) wurde hinsichtlich der Bedarfe für Unterkunft und Heizung bei Grundsicherungsempfängern, die in der Wohnung von Eltern, Geschwistern oder eines volljährigen Kindes leben und keinen gesonderten Mietvertrag abgeschlossen haben, eingeführt. Für diesen Personenkreis werden die Kosten für Unterkunft und Heizung künftig in pauschalierter Form nach einer Differenzmethode als Bedarf berücksichtigt. Ferner wurde für Leistungsberechtigte in Wohngemeinschaften ohne eigenen Mietvertrag eine Regelung geschaffen, wonach sie Anspruch auf kopfteilige Aufwendungen für Unterkunft und Heizung eines entsprechenden Mehrpersonenhaushaltes haben. Damit ist ausgeschlossen, dass jede Person der Wohngemeinschaft Anspruch auf Unterkunftskosten eines Einpersonenhaushaltes hat. „Das ist nicht nur kompliziert, sondern wird in der Praxis auch zu finanziellen Verschlechterungen für zahlreiche Betroffene führen“, kommentierte die Bürgerbeauftragte.

Schließlich regelt § 44a SGB XII, dass Leistungen der Grundsicherung nur noch vorläufig zu bewilligen sind, wenn bereits bei deren Bewilligung Veränderungen in den Einkommensverhältnissen der Leistungsberechtigten oder bei den anzuerkennenden Bedarfen zu erwarten sind. Hauptsächlich betroffen sind von dieser Änderung Personen, die in einer Werkstatt für behinderte Menschen arbeiten und schwankendes Arbeitseinkommen (Urlaubs-, Weihnachtsgeld) erhalten. „Auch diese Vorschrift bedeutet aus meiner Sicht eine Verkürzung der Rechte der Betroffenen. Vorläufige Entscheidungen begründen nämlich keinerlei Vertrauensschutz und sind daher mit einer weitgehenden Erstattungspflicht verbunden“, erklärte El Samadoni.


Betriebskostenübernahme auch für ehemalige Wohnung

(c) Kurt F. Domnik / pixelio.de

In der Hempels-Ausgabe 9/2015 wurde kritisch über ein Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) berichtet, in dem das Gericht entschieden hatte, dass Betriebskostennachforderungen vom Jobcenter grundsätzlich nur für die aktuell bewohnte Wohnung zu übernehmen seien.

Von dieser Rechtsprechung ist das BSG nun ein gutes Stück weit wieder abgerückt und hat entschieden, dass Betriebskostennachforderungen auch für ehemals bewohnte Wohnungen dann zu übernehmen sind, wenn die Leistungsberechtigten durchgehend schon zum Zeitpunkt der tatsächlichen Entstehung der Nachforderung bis zu deren Geltendmachung und Fälligkeit im Leistungsbezug nach dem SGB II standen.

Zur Begründung hat das BSG ausgeführt, dass die Nichtübernahme einer Nachforderung in diesem Fall faktisch wie eine Umzugssperre wirken würde, weil ALG II‑Empfänger bei unzureichenden Nebenkostenvorauszahlungen dem Risiko, Schulden zu machen, ausgesetzt wären. Zudem mindere ein Nebenkostenguthaben unabhängig von der Frage eines vorangegangenen Umzugs den ALG II-Anspruch. Umgekehrt sei dann aber auch eine Nachforderung zu übernehmen.

(BSG, Urteil vom 30.03.2017, B 14 AS 13/16 R)

Erstveröffentlichung in HEMPELS 06/2017

Nachtrag 13.07.2017:

Mit Urteil vom 13.07.2017 zum Az. B 4 AS 12/16 R hat das BSG – unter neuerlichen sprachlichen Verrenkungen – eine weitere Korrektur seiner verfehlten Rechtsprechung zur Übernahme von Betriebskostennachforderungen vorgenommen. Zwar seien Betriebs‑ und Heizkostennachforderungen grundsätzlich nur für die konkret genutzte Wohnung als tatsächlicher, aktueller Bedarf im Fälligkeitsmonat zu berücksichtigen. Auch bei einem Wohnungswechsel bestehe aber ein Anspruch auf Übernahme der Nebenkostennachforderung für die frühere Wohnung, wenn eine „existenzsicherungsrelevante Verknüpfung“ der Nachforderung für eine in der Vergangenheit bewohnte Wohnung mit dem aktuellen unterkunftsbezogenen Bedarf der Leistungsbezieher zu bejahen sei. Dies sei bei einer Zusicherung des Leistungsträgers hinsichtlich des Umzugs jedenfalls dann anzunehmen, wenn der Leistungsberechtigte sowohl im Zeitpunkt der tatsächlichen Entstehung der Nebenkosten SGB II‑Leistungen erhielt als auch im Zeitpunkt der Fälligkeit noch im „nahtlosen“ Bezug von existenzsichernder Leistungen steht (vgl. bereits Urteil des 14. Senats des BSG vom 30.3.2017 ‑ B 14 AS 13/16 R; vgl auch BSG vom 20.12.2011 ‑ B 4 AS 9/11 R: Übernahme der Nebenkostennachforderung bei Aufforderung zur Kostensenkung).

Diese Rechtsprechung des BSG zeigt einmal mehr, wie sich ein Gericht mit sich selbst beschäftigen kann: Es wird ohne Not ein falsches (Grundsatz-)Urteil (B 14 AS 40/14) gefällt, welches mit den einfachsten Regeln der Logik und Systematik bricht, um sodann in einer Reihe weiterer Urteile zahllose „Ausnahmen“ vom angeblichen Grundsatz zu kreieren.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Neuer Kieler Mietspiegel 2017 veröffentlicht

Mit fast 8 Monaten Verspätung hat die Landeshauptstadt Kiel den Kieler Mietspiegel 2017 veröffentlicht, der am 20. Juni 2017 in Kraft getreten ist. Es handelt sich um einen qualifizierten Mietspiegel nach § 558 d BGB, der ein wissenschaftlich abgesichertes und differenziertes Bild der aktuell in Kiel gezahlten durchschnittlichen Mieten liefert. Der Mietspiegel bildet damit eine repräsentative und rechtssichere Grundlage für die Mietpreisgestaltung. Ihm kommt insbesondere im Rahmen von Mieterhöhungsverlangen eine herausragende Bedeutung zu.

Die neue Mietspiegelbroschüre, mit der jeder Mieter und Vermieter die sog. „ortsübliche Vergleichsmiete“ berechnen kann, findet sich hier: Kieler Mietspiegel 2017.

Die Stadt Kiel beabsichtigt, „in Kürze“ auf ihrer Hompage einen Online-Mietspiegelrechner zur Verfügung stellen. Durch ein einfaches Eingeben und Anklicken der Wohnungsmerkmale soll damit auf schnellem Wege die ortsübliche Vergleichsmiete für die jeweilige Wohnung ermittelt werden können.

In den Kommentaren habe ich für Interessierte die Presseerklärung der Stadt sowie das dazugehörige Ratsdokument eingestellt.

Die neuen Mietobergrenzen für Bezieher von Leistungen nach dem SGB II (ALG II) sowie Grundsicherung bzw. Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII sind hier derzeit noch nicht bekannt.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Kein ALG II bis zum tatsächlichen Ausbildungsbeginn

(c) Gerd Altmann / pixelio.de

In meinem Beitrag „ALG II trotz Immatrikulation“ habe ich die Rechtsauffassung vertreten, Studenten und Auszubildende könnten in dem Zeitraum nach ihrer Immatrikulation (und damit grundsätzlichen BAföG-Förderungsfähigkeit) bis zum Tag des tatsächlichen Ausbildungsbeginns ALG II beziehen. Zur Begründung hatte ich auf eine Entscheidung des BSG (Urteil vom 28.03.2013, B 4 AS 59/12 R, Rn. 19 f.) zum Regelungsbereich SGB II/ALG II verwiesen. Dort hat das BSG ausgeführt:

„[19] Der Bescheid vom 5. 9. 2005 war bereits im Zeitpunkt seines Erlasses insoweit rechtswidrig, als der Beklagte über den tatsächlichen Beginn der Ausbildung am 25. 8. 2005 hinaus SGB II-Leistungen gewährt hat. Ab diesem Zeitpunkt hatte die Klägerin keinen Anspruch auf Leistungen mehr, weil der Anspruchsausschluss nach § 7 Abs 5 S 1 SGB II eingriff. Nach § 7 Abs 5 S 1 SGB II (idF des Vierten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 24. 12. 2003, BGBl I 2954) haben Auszubildende, deren Ausbildung im Rahmen des BAföG oder der §§ 60 bis 62 SGB III dem Grunde nach förderungsfähig ist, keinen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts. Eine Ausnahme hiervon galt nach § 7 Abs 6 SGB II aF nur für bestimmte Gruppen von Auszubildenden, zu denen die Klägerin nicht gehörte.“

Aus der recht klaren Formulierung „über den tatsächlichen Beginn der Ausbildung am 25.08.2005 hinaus“ hatte ich geschlossen, dass im Umkehrschluss bis zum tatsächlichen Ausbildungsbeginn ALG II zu Recht bewilligt worden ist. Auch in der folgenden Rz. 20 stellt das BSG auf den Tag des Beginns des tatsächlichen Besuchs („besuchte“) der Ausbildungsstätte bzw. den „Ausbildungsbeginn am 25.08.2005“ (Rz. 28) ab.

Das Sozialgericht Kiel hat diese Rechtsfrage unter Bezugnahme auf den Wortlaut des Gesetzes nun anders entschieden und ausgeführt (SG Kiel, Urteil vom 15.02.2017, S 37 AS 347/15):

„Die Klägerin nahm am 29. September 2014 eine schulische Ausbildung auf, die dem Grunde nach förderungsfähig nach dem BAföG war. Sie hatte daher keinen Anspruch auf die ausgezahlten Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II für September 2014; auch wenn sie für diesen Monat keine Leistungen nach dem BAföG erhalten hat. Nach § 15b Abs. 1 BAföG gilt die Ausbildung im Sinne des Gesetzes als mit dem Anfang des Monats aufgenommen, in dem Unterricht oder Vorlesungen tatsächlich begonnen werden. Korrespondierend hierzu wird nach § 15 BAföG die Ausbildungsförderung vom Beginn des Monats an geleistet, in dem die Ausbildung aufgenommen wird; frühestens jedoch vom Beginn des Antragsmonats an. Das SGB II knüpft den Ausschluss in § 7 Abs. 5 SGB II an eine dem Grunde nach förderungsfähige Ausbildung nach dem BAföG an und gerade nicht an die tatsächliche Leistungsgewährung. (vgl. hierzu Gutachten des Deutschen Vereins, Lebensunterhaltssicherung beim Übergang vom SGB II zum BAföG, G 1-14 vom18.08.2014, S. 2 (…).“

Dem Sozialgericht Kiel ist einzuräumen, dass der Wortlaut des § 15b Abs. 1 BAföG recht eindeutig ist und sich das BSG in der Entscheidung B 4 AS 59/12 R mit der hier strittigen Rechtsfrage nicht auseinandergesetzt, sondern vielmehr den SGB II-Ausschluss (erst) mit dem Tag des tatsächlichen Ausbildungsbeginns schlicht vorausgesetzt hat. Wie das SG Kiel jetzt auch LSG Schleswig-Holstein, Urteil vom 17.9.2018, L 6 AS 111/16 (siehe auch in den Kommentaren).

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Zur Freigabe von Rentennachzahlungen bei Kontopfändung

Wird eine Rentennachzahlung auf einem Pfändungsschutzkonto nach § 850k ZPO gutgeschrieben, die über dem pfändungsfreien Betrag liegt (hier 3.949,49 € für rund 19 Monate), kann das zuständige Amtsgericht die Rentennachzahlung durch Beschluss nach § 850k Abs. 4 ZPO freigeben, wenn die monatliche Rente (hier rund 287,00 €) innerhalb der Pfändungsfreigrenze liegt. Denn Nachzahlungen sind für den Abrechnungszeitraum zu berücksichtigen, für den sie geleistet werden (Beschluss AG Kiel vom 19.05.2017 unter Bezugnahme auf Stöber, Forderungspfändung, 16. Aufl. Rn. 1042).

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt 


Stadt Kiel darf Obdachlose nicht abschieben

Die Stadt Kiel fährt zunehmend einen härteren Kurs gegen Obdachlose. Um Obdachlose möglichst aus dem Stadtgebiet fernzuhalten, werden nur noch denjenigen Wohnungslosen Hilfen zur Unterkunftssicherung und Sozialleistungen nach dem SGB II oder SGB XII gewährt, die bereits einwohnermelderechtlich in Kiel gemeldet sind. Neu hinzuziehende Obdachlose können sich mangels einer Wohnung in Kiel nicht beim Einwohnermeldeamt anmelden und werden als „Nichtkieler“ an ihre Herkunftsgemeinden verwiesen.

In einer aktuellen Entscheidung hat das Verwaltungsgericht (VG) Schleswig die Stadt Kiel nun verpflichtet, einem neu zugezogenen Obdachlosen eine Unterkunft zur Verfügung zu stellen. Zur Begründung hat das VG darauf abgehoben, maßgeblich für die Zuständigkeit sei, wo die Obdachlosigkeit eintrete. Dies sei der tatsächliche Aufenthaltsort des Wohnungslosen, hier also Kiel. Unerheblich sei demgegenüber, wo der Wohnungslose zuvor seinen gewöhnlichen Aufenthalt gehabt habe. Auch ein Obdachloser habe im Übrigen ein verfassungsrechtlich verbürgtes Recht, seinen Aufenthaltsort frei zu wählen (Art. 11 Abs. 1 GG).

(VG Schleswig, Beschluss vom 30.03.2017, 3 B 42/17, VG Schleswig, Beschluss vom 31.05.2017, 3 B 79/17)

Erstveröffentlichung in HEMPELS 5/2017

Siehe zum Thema auch: Kiel first – Landeshauptstadt will Wohnungslosenhilfe „schärfen“ –  und künftig nur noch Kielern helfen

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Kein ALG II bei bloß tatsächlichem Teilzeitstudium

(c) Kurt F. Domnik / pixelio.de

Studenten sind vom Arbeitslosengeld II (ALG II) ausgeschlossen, wenn ihr Studium dem Grunde nach BAföG-förderungsfähig ist. Ein BAföG-Anspruch besteht für Studierende aber nur dann, wenn das Studium die Arbeitskraft des Studierenden im Allgemeinen voll in Anspruch nimmt. Für ein formelles Teilzeitstudium besteht deswegen kein BAföG-Anspruch, es kann aber ALG II beantragt werden. An der Universität in Kiel können etwa alle 2-Fächer-Bachelor und Masterstudiengänge sowie die 1-Fach-Bachelor- und Masterstudiengänge Biologie und Chemie in Teilzeit studiert werden. Voraussetzung ist jedoch, dass der Student entweder einer Erwerbstätigkeit von mehr als 18 Stunden pro Woche nachgeht, die Betreuung oder Pflege eines Kindes oder eines pflegebedürftigen nahen Angehörigen geleistet wird oder eine Behinderung oder chronische Erkrankung vorliegt, welche die Studierfähigkeit so herabsetzt, dass ein ordnungsgemäßes Vollzeitstudium ausgeschlossen ist (vgl. die Infos der CAU zum Teilzeitstudium).

Von einigen Landessozialgerichten wurde ein ALG-II-Anspruch auch bei einem bloß faktischen Teilzeitstudium angenommen, also wenn ein Vollzeitstudiengang tatsächlich – etwa aus persönlichen, familiären oder gesundheitlichen Gründen – nicht in Vollzeit studiert werden kann. Das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht ist dieser Rechtsprechung nicht gefolgt. Nach Auffassung des Gerichts kommt es ausschließlich auf die von der Ausbildungsstätte vorgenommene Ausgestaltung der Ausbildung an und nicht auf die individuellen Verhältnisse des Auszubildenden, derentwegen tatsächlich nur in Teilzeit studiert werden kann.

(Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, Beschluss vom 15.12.2016, L 6 AS 223/16 B ER)

Erstveröffentlichung in HEMPELS 4/2017

Zum Verfahren siehe auch meinen ersten Kommentar in den Kommentaren.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Verfassungsgericht kippt Maulkorb wegen PIRATEN-Kritik an Postenschieberei

Im Streit um einen Ordnungsruf des Päsidenten des Schleswig-Holsteinschen Landtags Klaus Schlie (CDU) gegen den Vorsitzenden der Piratenfraktion Dr. Patrick Breyer wegen dessen Kritik an der Besetzung hoher Ämter ohne öffentliche Ausschreibung hat das Schleswig-Holsteinische Landesverfassungsgericht heute zugunsten von Breyer entschieden. Breyer habe Kritik am nicht-öffentlichen Auswahlverfahren und auch an der Qualifikation der zur Wahl stehenden Person äußern dürfen, entschied das Gericht. Kein Sozialrecht, aber es wird hier trotzdem mal vermerkt. Die Piraten werden fehlen.

Hier geht es zur Presseerklärung des Schleswig-Holsteinischen Verfassungsgerichts: http://www.schleswig-holstein.de/DE/Justiz/LVG/Presse/PI/2017_05_17_Ordnungsruf_Urteil.html

Und hier zu der Entscheidung im Volltext: http://www.schleswig-holstein.de/DE/Justiz/LVG/Entscheidungen/Dokumente/Urteil_1_17.html?nn=1268214

Seiner Schriftverkehr in dem Verfahren hat der Abgeordnete Dr. Breyer auf seiner Homepage veröffentlicht: http://www.patrick-breyer.de/?p=562890

Und hier findet sich das Video der beanstandeten Rede: https://www.youtube.com/watch?v=y4ggLRghedY

Siehe zum Thema auch:

http://www.lto.de/recht/nachrichten/n/lverfg-ssh-1-17-patrick-breyer-piraten-ordnungsruf-unzulaessig-rederecht-abgeordnete/

https://kielkontrovers.wordpress.com/2017/05/17/breyer-pm-verfassungsgericht-kippt-maulkorb-wegen-piraten-kritik-an-postenschieberei/

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1051485.richter-tadeln-praesidenten-des-landtags.html

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Kürzung von Asylbewerberleistungen auf das „unabweisbar Gebotene“ verfassungsrechtlich unbedenklich

Bundessozialgericht in Kassel

Das Asylbewerberleistungsgesetz sieht in § 1a Nr 2 in seiner früheren Fassung (wie in der derzeit gültigen Normfassung) die Kürzung der Leistungen auf das „unabweisbar Gebotene“ vor und erfasst damit unter anderem Fälle, in denen ein ausreisepflichtiger Leistungsberechtigter bei der Beschaffung eines Passes als Voraussetzung für seine Abschiebung nicht mitwirkt. Der 7. Senat des Bundessozialgerichts hat am heutigen Tag entschieden, dass diese Regelung verfassungsrechtlich unbedenklich ist. Zugrunde lag der Fall eines aus Kamerun stammenden Klägers, dessen Asylantrag bereits im Jahr 2004 abgelehnt worden war, der aber seitdem an der Beschaffung von Passpapieren nicht mitwirkt, obwohl er dazu ausländerrechtlich verpflichtet ist. Allein deshalb konnte die Abschiebung des Klägers noch nicht vollzogen werden. Er hat daher nur Sachleistungen zur Sicherung der physischen Existenz (Unterkunft, Kleidung, Ernährung) erhalten, nicht aber Geldleistungen (bis zu 137 Euro monatlich) zur Deckung persönlicher Bedürfnisse des täglichen Lebens, also etwa Kosten für Telekommunikation oder öffentlichen Nahverkehr oder auch Freizeitaktivitäten (sogenanntes soziokulturelles Existenzminimum).

Das Bundessozialgericht hält diese Regelung für verfassungsgemäß. Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums hindert den Gesetzgeber nicht, im Rahmen seines Gestaltungsspielraums die uneingeschränkte Gewährung existenzsichernder Leistungen an die Einhaltung gesetzlicher – hier ausländerrechtlicher – Mitwirkungspflichten zu knüpfen. § 1a Nr 2 Asylbewerberleistungsgesetz füllt diesen gesetzgeberischen Gestaltungsspielraum in verfassungsrechtlich zulässiger Weise aus. Die Regelung knüpft die Absenkung der Leistungen an ein Verhalten, das der Betreffende jederzeit ändern kann. Die Vorschrift sieht weiter vor, dass die Bedürfnisse des konkreten Einzelfalls maßgeblich sind. Auch dass der Kläger hier über Jahre nur abgesenkte Leistungen erhalten hat, war verfassungsrechtlich unbedenklich, denn er war sich der Möglichkeiten zur Beendigung der Leistungsabsenkung bewusst. Er war regelmäßig und unter Hinweis auf zumutbare Handlungsmöglichkeiten zur Mitwirkung aufgefordert und auch mehrfach der kamerunischen Botschaft vorgeführt worden. Der Erhalt ungekürzter Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz setzt damit zwar voraus, dass der Ausländer aktiv daran mitwirkt, seinen Aufenthalt im Inland zu beenden. Diese Verknüpfung des Leistungs- mit dem Ausländerrecht ist bei bestehender Ausreisepflicht nicht zu beanstanden.

Pressemitteilung des BSG, Nummer 23 vom 12.05.2017

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Keine Erstattung der den Eltern eines Säuglings entstandenen Kosten für dessen Versorgung mit einer Kopforthese zur Behandlung einer auffälligen Schädelform

Bundessozialgericht in Kassel

Der 3. Senat des Bundessozialgerichts hat am 11. Mai 2017 in drei Revisionsverfahren (Az. B 3 KR 17/16 R, B 3 KR 6/16 R und B 3 KR 1/16 R) entschieden, dass Krankenkassen die Kosten für die Versorgung von Säuglingen mit einer Kopforthese zur Behandlung einer Schädelasymmetrie beziehungsweise -deformation nicht erstatten müssen. Eine Kostenerstattung scheidet aus, weil die Versorgung mit einer bei der ärztlichen Behandlung eingesetzten Kopforthese nicht zum Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung gehört. Zwar kann schweren Formen der Schädelasymmetrie nicht von vornherein jeder Krankheitswert abgesprochen werden. Die Kopforthese ist aber untrennbar mit einer neuen Behandlungsmethode verbunden, die darauf zielt, das Wachstum eines Säuglingskopfes mithilfe eines Helms in eine symmetrische Kopfform zu bringen. Für diese Methode fehlt eine erforderliche positive Bewertung des dafür zuständigen Gemeinsamen Bundesausschusses. Die Ausnahmefälle der Behandlung einer lebensbedrohlichen Erkrankung, eines Seltenheitsfalls oder eines Systemversagens liegen nicht vor. Zudem gibt es insoweit die herkömmlich angewandte Lagerungs- und Physiotherapie. Nach medizinischen Studien fehlen auch Anhaltspunkte dafür, dass eine unbehandelte Schädelasymmetrie andere schwerwiegende Erkrankungen verursachen könnte.

In einem vierten Fall (Az. B 3 KR 30/15 R) konnte das BSG nicht abschließend über die Voraussetzungen der gesetzlichen Genehmigungsfiktion nach § 13 Abs. 3a SGB V entscheiden und hat die – erfolgreiche Revision an das Landessozialgericht zurückverwiesen. Nach dieser Vorschrift besteht ein Kostenerstattungsanspruch für die selbst beschaffte Leistung (hier die Kopforthese), wenn die Leistung erst nach Ablauf der den Krankenkassen zur Bescheiderteilung gesetzlich eingeräumten 3-Wochen-Frist selbst beschafft wurde. In diesem Fall wird die Genehmigung gesetzlich fingiert.

(Quelle: Pressemitteilung des BSG, Nummer 22 vom 12.05.2017)

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Seit 01.05.2016 auch in Kiel Geldleistungen statt Sachleistungen für die Erstausstattung der Wohnung

Bereits zum 01.05.2016 hat nun auch Kiel die Leistungen für die Erstausstattung einer Wohnung nach § 24 Abs. 3 Nr. 1 SGB II bzw. § 31 Abs. 1 Nr. 1 SGB XII von Sachleistungen (die bisher über die Möbelbörse der evangelischen Stadtmission zu beziehen waren) auf Geldleistungen umgestellt. Die Gründe hierfür sind in der Druchsache 0142/2016 aus der Ratsversammlung vom 17.03.2016 nachzulesen. Interessant: Nach eigenem Bekunden der Stadt Kiel sind die Kosten, die für eine Versorgung über die Möbelbörse der Stadtmission aufgewandt werden mussten, „vergleichbar“ mit der Kosten der Versorgung über den freien Möbelmarkt des unteren Preissegments.

In welcher Höhe seit dem 01.05.2016 Geldleistungen erbracht werden, ist in der Drucksache 0142/2016 bzw. im Austauschblatt zu Punkt 7.1 (IV. Richtlinien für einmalige Beihilfen nach § 24 Abs. 3 SGB II / § 31 Abs. 1 SGB XII, n.F.) nachzulesen.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Richter finden: Straßenzeitungen werden nicht aus Interesse an der Zeitung gekauft

Ich schreibe schon seit vielen Jahren für das Straßenmagazin Hempels. Und nun muss ich erfahren, dass viele Richter finden, dass die Leser der Straßenzeitungen in Wahrheit gar kein Interesse an den Zeitungen, also auch daran, was ich schreibe, haben. So finden die Richter am 7. Senat des Hessischen Landessozialgerichts:

„Zwar können gegen ein geringes Entgelt Passanten auf der Straße die angebotene Obdachlosenzeitung erhalten. Darin kommt aber in der Regel nicht ein sich in geldwerter Nachfrage ausdrückendes Interesse an der Zeitung zum Ausdruck, sondern mit dem Angebot der Zeitung ist wesentlich das Ziel verbunden, bei den Straßenpassanten niederschwellig die Bereitschaft zu wecken oder zu erhöhen, den Verkäufern in ihrer sozialen Lage finanziell in Form einer Geldspende helfen zu wollen. (…) Das steht im Einklang mit persönlichen Erfahrungen des Senats, soweit er selber vor allem in innerstädtischen Einzelhandelszonen solchen Zeitungsverkäufern begegnet ist.“

Das ist gemein, findet nun – Kopieren geht über Studieren, das haben auch einige Berliner Richter aus ihrem Studium behalten – aber auch die Vorsitzende der 191. Kammer am SG Berlin:

„Bezüglich des Verkaufs von Straßenzeitungen können zwar Passanten oder Nutzer des ÖPNV diese gegen ein (geringes) Entgelt erhalten. Darin kommt aber in der Regel nicht ein sich in geldwerter Nachfrage ausdrückendes Interesse an der Zeitung zum Ausdruck, sondern mit dem Angebot der Zeitung ist wesentlich das Ziel verbunden, bei den Straßenpassanten die Bereitschaft zu wecken oder zu erhöhen, den Verkäufern in ihrer sozialen Lage finanziell in Form einer Geldspende helfen zu wollen (so Hessisches LSG, a.a.O.). Es handelt sich also um eine Form des (aktiven) Bettelns. Das steht im Einklang mit den persönlichen Erfahrungen der entscheidenden Kammer-Mitglieder, soweit diese selber, vor allem in innerstädtischen ÖPNV, solchen Zeitungsverkäufern alltäglich begegnen.“

Was kann man daraus lernen? Die Richter begegnen Straßenverkäufern. In Hessen „in innerstädtischen Einzelhandelszonen“ und in Berlin „vor allem in innerstädtischen ÖPNV“. Was sie aber offenbar auf keinen Fall machen, ist, einfach mal so eine Zeitung zu kaufen und zu lesen. Ob nun aus Interesse, weil diese Zeitungen soziale Themen gelegentlich als erste aufgreifen, um „den Verkäufern in ihrer sozialen Lage finanziell in Form einer Geldspende“ zu helfen (auch nicht ganz verkehrt) oder vielleicht auch einfach nur, um zukünftig ein wenig differenzierter in ihren Judikaten über Straßenzeitungen referieren zu können.

Ich bekomme immer Belegexemplare vom Hempels e.V. Demnächst werde ich vielleicht mal – als kleine Spende – jeweils ein Exemplar an das Hessische Landessozialgericht und das Sozialgericht Berlin schicken. Möglicherweise fallen dann zukünftige Urteilsbegründungen ja etwas freundlicher aus.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Zur Übernahme von Hotelkosten nach § 22 SGB II

(c) Gerd Altmann / pixelio.de

Sind Kosten für ein Hotelzimmer nach § 22 Abs. 1 SGB II zu übernehmen, ist die Berechnung der Kosten für die Übernachtung vom letzten Tag eines Monats auf den ersten Tag des Folgemonats dann nicht unproblematisch, wenn der Leistungsanspruch erst ab dem ersten Tag des Folgemonats besteht. Denn Hotelzimmer werden nicht für einen Tag, sondern eine Übernachtung angemietet. In der Rechtsprechung wurde diese Problematik – soweit hier ersichtlich – noch nicht behandelt. Das Sozialgericht Kiel ist in einer aktuellen Entscheidung nun der von mir vertretenen Rechtsauffassung gefolgt, wonach die Kosten ab dem ersten Tag des Folgemonats, 00.00 Uhr, anteilig zu übernehmen sind. In dem entschiedenen Fall wurde das Hotelzimmer nach den AGB des Hotels vom 28.01.2014 ab 14.00 Uhr bis 01.03.2014, 11.00 Uhr angemietet. Auf den Bewilligungszeitraum ab 01.03.2014 entfielen mithin für den ersten Tag 11/21 von 56,00 € = 29,33 €. Diese Kosten musste das Jobcenter nach § 22 Abs. 1 SGB II übernehmen.

Für Betroffene, die mit diesem Problem konfrontiert sind, habe ich meinen ersten Schriftsatz aus dem Klageverfahren sowie das Urteil des SG Kiel vom 17.11.2016, S 28 AS 581/14 zur vertieften Lektüre beigefügt.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Kiel first

Landeshauptstadt will Wohnungslosenhilfe „schärfen“ –  und künftig nur noch Kielern helfen

TEXT: PETER BRANDHORST

Erschienen in: Straßenmagazin HEMPELS, 04/2017

Sind bestimmte Gruppen wohnungsloser Menschen in Kiel – und in der Folge womöglich auch in anderen Städten und Kommunen – künftig von Hilfeangeboten ausgeschlossen? Können Wohnungslose in der Landeshauptstadt bald nur noch dann Unterstützung erwarten, wenn sie als Kieler oder Kielerin gelten? Um diese Fragen geht es im Kern bei der Diskussion jetzt bekannt gewordener Pläne der Stadt.

Auch in Schleswig-Holstein ist die Anzahl der Wohnungslosen in den vergangenen Jahren stark angestiegen, nicht nur in größeren Städten. Die in Berlin ansässige Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W) geht davon aus, dass sich die Zahlen schon bis zum kommenden Jahr insgesamt und bundesweit weiter drastisch erhöhen werden.

In Kiel leben laut stadt.mission.mensch gut 600 Menschen ohne festen Wohnsitz, 50 Prozent mehr als noch vor fünf Jahren (490 von ihnen Männer; Stand Ende Januar). 280 haben Unterschlupf gefunden bei Freunden oder Bekannten, die anderen leben in öffentlicher Unterbringung im Bodelschwinghhaus oder in Pensionen. Knapp vierzig schlafen auf der Straße. 72 Prozent der Kieler Wohnungslosen galten 2016 als ortsansässig. Um das restliche knapp ein Drittel geht es nun.

Der Streit entzündet sich an einer Vorlage, die Ende Februar im Sozialausschuss der Stadt öffentlich wurde. Unter der Überschrift „Verhinderung von Wohnungs- und Obdachlosigkeit in Kiel“ werden in einem Diagramm die Personenkreise und die ihnen offenen Hilfewege definiert. Ergebnis: Nur wer sich als „Kieler Bürger/Bürgerin“ in der Stadt wohnungslos meldet, mit dem werde künftig eine Hilfeplanung erstellt und erhalte Beratung und Unterstützung. Andere Personen sollen auf ihren Wohnort verwiesen werden; sie bekommen noch eine Fahrkarte dorthin plus „ggf. Unterbringung in Schlichtwohnraum für eine Nacht“. Danach: „Ende“ der helfenden Unterstützung.

Sozialstadtrat Gerwin Stöcken rechtfertigt die Pläne gegenüber HEMPELS damit, man habe sich eine „Nachjustierung und Schärfung“ des Hilfesystems vorgenommen. Künftig wolle man die Prävention ausbauen, um Wohnungslosigkeit bereits im Vorfeld verhindern zu können. Mit der Wohnungswirtschaft habe die Stadt einen Masterplan verabredet, Wohnungslosen wieder Wohnraum zu verschaffen.

„Es geht um die, die in Kiel ihre Wohnung verloren haben“, so Stöcken, „um die wollen wir uns besonders stark bemühen.“ Wer anderswo wohnungslos geworden ist, für den sei die jeweilige Heimatkommune zuständig. Man dürfe das Problem nicht in die größeren Städte delegieren und sagen, „weil man sich anderswo nicht um genügend Wohnraum gekümmert hat, tragen wir das in Kiel mit.“ Finanzielle Aspekte spielten dabei keine Rolle, so Stöcken, die Vorwürfe der Selektion und Vertreibung seien falsch: „Wir wollen genauer hingucken: Warum brechen Menschen soziale Bindungen oder Therapien in anderen Orten ab, um dann wohnungslos in Kiel zu sein?“

HEMPELS-Vorstand Jo Tein nennt die Pläne in großen Teilen „erschreckend und fern der Lebensrealität von Obdachlosen“. Viele besäßen schon lange kein festes Zuhause mehr, oder sie erlebten dort Stress und wanderten in andere Regionen. Ein  Ausweiseintrag zum Wohnort sei für sie bedeutungslos. „Jede Kommune ist verpflichtet, diesen Menschen zu helfen, es darf nicht unterschieden werden zwischen Einheimischen oder Ortsfremden“, so Tein. Er befürchtet auch, dass eine Abwärtsspirale in Gang gesetzt wird, sollten  Kiels Pläne Realität werden: „Andere Kommunen sehen sich dann gezwungen, ihre Leistungen auch zurückzuschrauben.“ Gut sei hingegen, dass künftig verstärkt präventiv gearbeitet werden soll.

Der Kieler Sozialrechtsexperte und HEMPELS-Kolumnist Helge Hildebrandt hält die geplante Regelung ebenfalls „nicht nur sozialpolitisch für höchst problematisch, sondern nach geltendem Recht auch schlicht rechtswidrig“. Die Unterbringungspflicht der Kommunen, so Anwalt Hildebrandt, der für die Linke 2013 kurzzeitig parteiloses Mitglied im Kieler Stadtrat war, sei an den „tatsächlichen Aufenthalt“ geknüpft: „Der ist dort, wo jemand gerade ist. Bei einem Obdachlosen, der gerade in Kiel ankommt und erklärt, hier bis auf weiteres zu bleiben, ist das Kiel.“

Bei der Berliner BAG W nennt Geschäftsführer Thomas Specht auf HEMPELS-Nachfrage die Pläne der Stadt Kiel „ein Modell der Hilfeverweigerung, gegen das man sofort erfoglreich wird juristisch angehen können – komplett rechtswidrig ohne Wenn und Aber.“ Man wisse von keiner anderen Kommune in Deutschland, die auf ähnlich „dreiste Art und Weise“ gegen Obdachlose vorgehe oder das tun wolle. Specht: „Es darf nicht unterschieden werden zwischen ortsansässigen und fremden Obdachlosen“, ein Rechtsgutachten bestätige diese Sicht.

Bei der Kieler stadt.mission.mensch, im Auftrag der Stadt einer der großen Dienstleister in der Wohnungs- und Obdachlosenarbeit, spricht Geschäftsführerin Karin Helmer von einer bislang erst „groben Skizze. Das Papier kann als qualifizierte Diskussionsgrundlage verstanden werden, die es jetzt aber auszugestalten gilt“. Die Wohnungslosenszene habe sich in letzter Zeit stark verändert, es gebe viele Ursachen für den Verlust einer Unterkunft. Hilfsangebote müssten deshalb ausgebaut und neu organisiert werden. Helmer unterstreicht aber auch: „Wir stehen dafür, dass legitime Ansprüche durchgesetzt werden können und nicht nach unten geschraubt werden. Die Definition, wo der gewöhnliche und tatsächliche Aufenthalt eines Wohnungslosen ist, ist jetzt die politische Herausforderung.“

Im Laufe dieses Jahres will die Stadt mit den verschiedenen Trägern der Obdachlosenhilfe ihre Pläne diskutieren. Man werde nicht das Recht brechen und auch nichts mit der Brechstange durchsetzen, versichert Sozialstadtrat Stöcken angesichts der schon jetzt laut gewordenen Kritik.

Nachdem das Straßenmagazin HEMPELS in seiner April-Ausgabe 2017 zuerst über das Thema berichtete, haben auch verschiedene andere Zeitungen und TV-Sender das Thema groß aufgegriffen. Links zu diesen Veröffentlichungen hier:

http://taz.de/Obdachlosen-Auslese-nach-Aschenputtel-Prinzip-in-Kiel/!5396404/

http://www.bento.de/politik/kiel-plant-nur-noch-obdachlosen-aus-der-eigenen-stadt-zu-helfen-1299943/

http://www.ndr.de/fernsehen/sendungen/schleswig-holstein_magazin/Schleswig-Holstein-Magazin,sendung629386.html

https://www.sat1regional.de/videos/article/umstrittene-verordnung-stadt-will-nur-noch-obdachlose-aus-kiel-unterstuetzen-231045.html

http://www.shz.de/regionales/kiel/stadt-kiel-hilfe-nur-noch-fuer-eigene-obdachlose-id16555351.html

http://www.kn-online.de/News/Nachrichten-aus-Kiel/Vorstoss-aus-dem-Rathaus-Wirbel-um-Plaene-fuer-Wohnungslosenhilfe

HEMPELS wird in seiner Mai-Ausgabe weitere Artikel zu dem Thema veröffentlichen.


Wo bleibt der Kieler Mietspiegel 2016?

Sybille Kambeck / janefire.de

Der neue Mietspiegel für Kiel lässt auf sich warten. Grund hierfür sind die schwachen Rückmeldungen durch die angeschriebenen Mieterhaushalte sowie der Umstand, dass der neue Mietspiegel 2016 erstmals nach dem sog. Regressionsmodell erstellt werden soll. Das hat Folgen für das Miet- und Sozialrecht.

Eine Indexfortschreibung der Werte des Kieler Mietspiegels 2014 nach § 558 d Abs. 2 Satz 2 BGB ist nicht möglich, da der Mietspiegel 2014 bereits auf den fortgeschriebenen Werten des Mietspiegels 2012 beruht. Bei Streitigkeiten zwischen Vermieter und Mietern um Mieterhöhungen dürfte der Kieler Mietspiegel als sog. „einfacher Mietspiegel“ heranzuziehen sein. Für die Spanneneinordnung ist gegebenenfalls ein (teures) Gerichtsgutachten erforderlich.

Für das Sozialrecht wirft sich die Frage auf, ob die aktuellen Kieler Mietobergrenzen, die aus den Werten des Kieler Mietspiegels 2014 errechnet worden sind, seit 01.12.2016 noch auf einem sog. „schlüssigen Konzept“ im Sinne der Rechtsprechung des BSG beruhen. Betroffene, die aktuell eine Mietsenkungsaufforderung erhalten oder deren Miete in 2017 bereits auf die Mietobergrenze 2014 abgesenkt werden soll, ist zu raten, jedenfalls bei geringfügigen Überschreitungen der Mietobergrenze (bei Bestandsmieten: zuzüglich 10%-Toleranz) Widerspruch gegen die entsprechenden Bewilligungsbescheide zu erheben.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Alleinerziehende sollten Kosten der Unterkunft prüfen

(c) GesaD / pixelio.de

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In zwei aktuellen Beschlüssen hat das Sozialgericht Kiel klargestellt, dass alleinerziehende Eltern im ALG II-Bezug, deren Kinder aufgrund von eigenem bedarfsdeckenden Einkommen nicht hilfebedürftig sind, einen Anspruch auf Leistungen für die Unterkunft für eine Ein-Personen-Bedarfsgemeinschaft (in Kiel derzeit: 342,50 € bruttokalt) haben.

Bei alleinerziehenden Eltern im ALG II-Bezug kann es vorkommen, dass die Kinder aufgrund von eigenen Einkünften wie etwa Unterhalt, Kindergeld und Kinderwohngeld keinen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II (Hartz IV) haben. In diesem Fall bilden die Kinder mit ihrem Elternteil, bei dem sie leben, keine so genannte „Bedarfsgemeinschaft“ (§ 7 Abs. 3 Nr. 4 SGB II). Dies wiederum hat zur Folge, dass das Jobcenter Leistungen für die Unterkunft nur dem allein erziehenden Elternteil erbringt und sich folglich die Angemessenheitsgrenze an der Mietobergrenze für einen Ein-Personen-Haushalt zu orientieren hat. Bei einer alleinerziehenden Mutter sind in Kiel deswegen für die Mutter bis zu 342,50 € bruttokalt anstatt lediglich die Hälfte der Mietobergrenze für eine Zwei-Personen-Bedarfgemeinschaft in Höhe von 411,00 € bruttokalt (also 205,50 € bruttokalt) anzuerkennen.

(SG Kiel, Beschluss vom 11.08.2016, S 43 AS 185/16 ER und SG Kiel, Beschluss vom 30.11.2016, S 39 AS 289/16 ER unter Berufung auf BSG, Urteil vom 18.02.2010, B 14 AS 73/08)

Erstveröffentlichung in HEMPELS 2/2017

Nachtrag 25.04.2018: So jetzt auch ausdrücklich BSG, Urteil vom 25.04.2018, B 14 AS 14/17 R (Terminbericht in den Kommentaren).

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Feststellungsklage gegen Kostensenkungsaufforderung zulässig

Bundessozialgericht in Kassel

Bundessozialgericht in Kassel

Erachtet das Jobcenter die Kosten der Unterkunft von Beziehern von ALG II (Hartz IV) für zu hoch, fordert es diese auf, ihre Kosten innerhalb einer Frist von regelmäßig sechs Monaten auf ein angemessenes Maß zu senken. Erfolgt eine Kostensenkung, die in der Regel durch einen Umzug wird erfolgen müssen, nicht, werden nach Ablauf der sechs Monate nur noch Kosten in angemessener Höhe (sog. „Mietobergrenze“) anerkannt. Da es sich bei der Kostensenkungsaufforderung nicht um einen Verwaltungsakt handelt, kann gegen diese kein Widerspruch erhoben werden.

Mit Urteil vom 15.06.2016 hat das Bundessozialgericht (BSG) nun allerdings unter Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen entschieden, dass sich ein ALG II-Bezieher gegen eine Kostensenkungsaufforderung unmittelbar mit einer Feststellungsklage zur Wehr setzen kann. Denn nur durch eine Klage auf Feststellung des Nichtbestehens einer Kostensenkungsobliegenheit kann in diesen Fällen dem verfassungsrechtlichen Gebot aus Art. 19 Abs. 4 GG, effektiven Rechtschutz zu gewährleisten, Rechnung getragen werden. Weil existenzsichernde Leistungen im Streit stehen, ist es den von einer Umzugsaufforderung Betroffenen nicht zumutbar, abzuwarten, ob und wann das Jobcenter die Leistungen für die Unterkunft tatsächlich absenkt. Allerdings ist die Feststellungsklage nach Auffassung des BSG ultima ratio und kann  deswegen nicht mit der allgemeinen Behauptung begründet werden, die Mietobergrenze sei vom Jobcenter unzutreffend bestimmt worden. Ein Feststellungsinteresse besteht vielmehr nur dann, wenn eine Unzumutbarkeit oder Unmöglichkeit der Kostensenkung geltend gemacht wird.

(BSG, Urteil vom 15.06.2016, B 4 AS 36/15 R)

Erstveröffentlichung in HEMPELS 08/2016

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Vermieter muss Parabolantenne iranischer Familie dulden

(c) GesaD / pixelio.de

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Immer wieder gehen Vermieter wie selbstverständlich davon aus, sie könnten von ihren Mietern die Demontage von Satellitenantennen verlangen. Hinweise auf die besonderen Informationsbedürfnisse der Mieter sind dabei – gerade gegenüber institutionellen Vermietern und deren ebenso „institutionellen“ Anwaltskanzleien, die irgendwo in Deutschland ihren Sitz haben – regelmäßig in den Wind gesprochen.

Zur Durchsetzung ihrer vermeintlichen Ansprüche wird – selbst bei schmucklosesten Plattenbauten – mit dem „ästhetischen Gesamteindruck des Hauses“, der „Aufrechterhaltung des intakten Eigentums“ oder der gefährlichen „Segelwirkung“ von Parabolspiegelantennen argumentiert. Die rechtliche Argumentation der Mieteranwälte wird im schriftlichen Verfahren nicht selten pauschal als „unerheblich“, „vollkommen unerheblich“, von „Mangel an Substanz“ gekennzeichnet, nicht „einlassungsfähig“ usw. abgetan.

Nun ersetzt Überheblichkeit keine rechtliche Argumentation und so hat dann das AG Kiel mit Urteil vom 10.02.2017 zum Aktenzeichen 116 C 25/16 die Klage eines großen Vermieters in Kiel abgewiesen. In der Urteilsbegründung werden einige Grundsätze aufgestellt, die auch für andere ausländische Mieter von Interesse sein dürften:

„Der Klägerin steht auch nicht der geltend gemachte Unterlassungsanspruch zu. Die Aufstellung einer Satellitenempfangsantenne auf einen mitvermieteten Balkon einer Wohnung ist dann ver­tragswidrig, wenn sie sich nicht im Rahmen des den Mietern gemäß § 535 Abs. 1 BGB zu ge­wahrenden vertragsgemäßen Gebrauchs hält bzw. wenn der Vermieter nicht aufgrund einer aus § 242 BGB herzuleitenden Nebenpflicht aus dem Mietvertrag eine solche Aufstellung zu dulden hat.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist dem Grundrecht des Mieters aus Artikel 5 Abs. 1 S. 1 Hs. 2 GG, sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten, auch in zivilgerichtlichen Streitigkeiten über die Anbringung von Satellitenempfangsanlagen an Mietwohnungen Rechnung zu tragen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass das – gleichrangige – Grundrecht des Vermieters aus Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG berührt ist, wenn von ihm verlangt wird, ei­ne Empfangsanlage an seinem Eigentum zu dulden. Das erfordert in der Regel eine fallbezogene Abwägung der von dem eingeschränkten Grundrecht und dem grundrechtsbeschränkenden Ge­setz geschützten Interessen, die im Rahmen auslegungsfähigen Tatbestandsmerkmale des bür­gerlichen Rechts (§ 535 Abs. 1 S. 1, 2 i.V.m. § 541 BGB unter Beachtung von § 242 BGB) vor­zunehmen ist.

Unter Abwägung der beiderseitigen Interessen der Vertragsparteien und Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls hat das aus Art. 14 Abs. 1 GG herzuleitende Eigentumsinteresse hinter dem Informationsbedürfnis der Beklagten aus Art. 5 GG zurückzutreten. Der Empfang von digita­len Zusatzprogrammen kann dann zum Duldungsanspruch führen, wenn damit den durch den Ausländerstatus begründeten besonderen Interessen Rechnung getragen wird. Ausländische Mieter sind regelmäßig daran interessiert, ihre sprachliche und kulturelle Verbindung zu ihrem Heimatland zu erhalten. Bei dem Empfang von digitalen Zusatzprogrammen bleibt der Duldungs­anspruch des Mieters auf Errichtung einer Parabolantenne ebenfalls bestehen, wenn das in das Netz eingespeiste ausländische Programm lediglich ein – in zeitlicher oder sachlicher – Hinsicht nur eingeschränktes Programm bietet. Zugunsten des Mieters ist nämlich zu berücksichtigen, dass die Möglichkeit einer Auswahl und der zeitverschobenen Nutzung mehrerer Programme der Gefahr einseitiger Informationen entgegen wirkt. Zudem eröffnet eine breite Angebotspalette dem Fernsehnutzer Auswahlalternativen, die seinen Neigungen und Bedürfnissen entgegenkommen können.

Das Interesse der Beklagten geht dahin, ihren Kindern es zu ermöglichen, Kindersendungen aus dem Iran auf Persisch zu empfangen, damit diese spielerisch die Sprache erlernen können. Die­sem Informationsbedürfnis wird durch den Empfang von digitalen Zusatzprogrammen nicht genü­ge getan. Die Beklagten haben hierzu dargelegt, dass die übers Internet zu empfangenen Sender ihrem Informationsbedürfnis ihren Kindern ein kindergerechtes, weltanschaulich neutrales Fern­sehen zu ermöglichen, nicht gewahrleistet werden und darüber hinaus dargelegt, welche über Satellit zu empfangenen Sender dies nur ermöglichen.

Zwar ist auf Vermieterseite zu berücksichtigen, dass mit der Anbringung kein erheblicher Eingriff in die Bausubstanz verbunden sein darf, der Mieter den Vermieter von anfallenden Kosten – auch Folgekosten – und Gebühren freistellen muss, die Antenne fachmännisch installiert werden muss und der Mieter das Haftungsrisiko des Vermieters abzudecken hat sowie ihm auf dessen Verlan­gen für die voraussichtlichen Kosten der Entfernung der Anlage Sicherheit zu leisten hat.“

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Die Bürgerbeauftragte informiert: Lange Elternzeit kann zum Verlust des Anspruches auf Arbeitslosengeld führen

ltsh_logo„Wer nach dem dritten Lebensjahr des Kindes Elternzeit von mehr als zwölf Monaten nimmt, muss aufpassen, dass er seinen Anspruch auf Arbeitslosengeld nicht verliert“, teilte die Bürgerbeauftragte Samiah El Samadoni heute (Montag) in Kiel mit.

Voraussetzung für einen Anspruch auf Arbeitslosengeld ist, dass innerhalb der letzten zwei Jahre vor Beginn der Arbeitslosigkeit mindestens 12 Monate ein Versicherungspflichtverhältnis bestanden hat. In der Regel wird das durch ein Beschäftigungsverhältnis erreicht. Gleiches gilt auch, wenn man in diesem Zeitraum Krankengeld bezogen oder Elternzeit in Anspruch genommen hat. „Bei Letzterem ist aber zu beachten, dass dies nicht gilt, wenn die Elternzeit nach dem drittem Lebensjahr des Kindes genommen wird“, erläuterte die Bürgerbeauftragte.

Im vom Landessozialgericht Rheinland-Pfalz (Urteil vom 30.08.2016, Aktenzeichen L 1 AL 61/14) entschiedenen Fall hatte die Mutter 15 Monate Elternzeit nach dem dritten Geburtstag ihres Sohnes genommen. Davor hatte sie gearbeitet, während der Elternzeit dagegen nicht. Unmittelbar im Anschluss an die Elternzeit wurde sie arbeitslos. Weil sie in den letzten zwei Jahren vor Beginn der Arbeitslosigkeit nicht mindestens 12 Monate ein Versicherungspflichtverhältnis gehabt hatte – die Elternzeit zählte nicht mit –, lehnte die Bundesagentur für Arbeit einen Anspruch auf Arbeitslosengeld ab. Widerspruch und Klage hatten keinen Erfolg.

„Wenn Eltern die Elternzeit auf einen Zeitraum nach dem dritten Geburtstag des Kindes übertragen, sollten sie unbedingt darauf achten, dass ein möglicher Anspruch auf Arbeitslosengeld nicht verloren geht“, warnte El Samadoni. Seit August 2016 besteht für Erziehende zudem die Möglichkeit, sich freiwillig in der Arbeitslosenversicherung weiter zu versichern, um mögliche Lücken im Versicherungsschutz zu vermeiden (§ 28a Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 Sozialgesetzbuch III).

Unter dem folgendem Link  http://www.landtag.ltsh.de/beauftragte/bb_/pressemitteilungen.html stehen Ihnen weitere Presseinformationen zur Verfügung.

Die vollständige Pressemitteilung des  Landessozialgericht Rheinland-Pfalz (PM 18/2016) finde sich hier und ist als Kommentar zu diesem Beitrag hinterlegt.


Kein höheres ALG II wegen Hundehaftpflichtversicherung

(c) Kurt F. Domnik / pixelio.de

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Beiträge, die für eine gesetzlich vorgeschriebene Haftpflichtversicherung eines Hundes gezahlt werden, können vom Halter nicht vom Einkommen abgesetzt werden, um so höheres ergänzendes steuerfinanziertes Arbeitslosengeld II zu erhalten. Dies hat der 14. Senat des Bundessozialgerichts am 8. Februar 2017 entschieden und damit eine Entscheidung der Vorinstanz bestätigt (B 14 AS 10/16 R).

Geklagt hatte eine Hundehalterin, die ergänzend zu ihrem Einkommen aus Erwerbstätigkeit Arbeitslosengeld II bezogen hatte. Das Bundessozialgericht begründete die fehlende Absetzmöglichkeit der Versicherungsbeiträge mit Sinn und Zweck der einschlägigen gesetzlichen Bestimmung (§ 11b Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB II): Danach sollen nur solche Versicherungen, die einen spezifischen Bezug zu den Zielen des Sozialgesetzbuchs Zweites Buch aufweisen, vom Einkommen abgesetzt werden können, so zum Beispiel die Gebäudebrandversicherung, weil sie dem Wohnen dient, oder die Kfz-Haftpflichtversicherung, weil durch ein Auto die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit erleichtert wird. Ein derartiger Bezug zur Existenzsicherung oder zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit ist bei der Tierhaltung nicht gegeben, auch wenn ein Hund für viele Menschen von großer Bedeutung ist. Ist ein Hund aus gesundheitlichen Gründen notwendig, werden zum Beispiel von der Krankenkasse die Kosten eines Blindenführhundes übernommen.

Quelle: Pressemitteilung 3/2017 vom 8. Februar 2017


Hartz IV: Glücksspiel lohnt sich nicht

(c) Gerd Altmann / pixelio.de

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Glückspielgewinne sind im ALG II-Bezug als Einkommen anzurechnen. Und zwar auch dann, wenn nach Abzug der Spieleinsätze tatsächlich ein Verlust entstanden ist.

Aus vorgelegten Kontoauszügen wurden dem Jobcenter zahlreiche bar eingezahlte Beträge des späteren Klägers  bekannt. Als Herkunft der Gelder gab der ALG II-Bezieher Gewinne am Spielautomaten an. Aufgrund der Anrechnung der Glücksspielgewinne als Einkommen hob das Jobcenter daraufhin die dem Kläger über mehrere Jahre bewilligten ALG II-Leistungen teilweise auf. Mit seinem Vorbringen, dass er unter dem Strich keinen „Gewinn“ erzielt habe, weil die Spieleinsätze insgesamt die Spielgewinne überstiegen, ist der Kläger auch vor dem Bundessozialgericht (BSG) ohne Erfolg geblieben.

Die Bareinzahlungen des Klägers, die aus Glücksspielgewinnen stammen, sind als Einkommen nach den Vorschriften über Einkommen in sonstigen Fällen zu berücksichtigen. Es handelt sich dabei nicht um Einkommen aus einem Gewerbebetrieb. Entgegen der Ansicht des Klägers sind als notwendige Ausgaben zur Gewinnerzielung  nur die Einsätze vom Spielgewinn absetzbar, die zum Spielgewinn geführt haben, nicht hingegen sämtliche aufgewendete Spieleinsätze. Denn für die Einkommensberechnung unbeachtlich sind Ausgaben, die überwiegend dem privaten Bereich zugeordnet werden können – wie die in erster Linie zur Befriedigung des Spielbedürfnisses aufgewendeten weiteren Spieleinsätze, die nicht unmittelbar zu einem Gewinn geführt haben.

(BSG, Urteil vom 15.06.2016, B 4 AS 41/15 R)

Erstveröffentlichung in HEMPELS 01/2017

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Erhöhtes Schonvermögen im SGB XII / In Härtefällen schon jetzt anzuwenden

Zum 1. April 2017 steigt im SGB XII das Schonvermögen für alle volljährigen Personen, die alleine oder in einer sozialrechtlichen Einstandsgemeinschaft leben von 1.600/2.600 EUR und 614 EUR für Partner auf 5.000 EUR pro Person (einschließlich Eingliederungshilfe, Hilfe zur Pflege und Blindenhilfe), für jede weitere unterhaltene Person um 500 EUR. Damit werden dann auch KFZ’s innerhalb der Schonvermögensgrenzen in Geldeswert möglich.

Diese Regelung  gilt ab 1. April 2017, das BMAS hat aber mitgeteilt, dass in Erwartung der kommenden Regelung in Härtefällen die neue Regelung schon angewendet werden könnte.

Die BMAS Mitteilung liegt noch nicht vor, aber eine Mitteilung vom hessischen Sozialministerium: http://www.harald-thome.de/media/files/Hinweis-HSM-21.12.2016.pdf

Quelle: Thomé Newsletter 05/2017 vom 29.01.2017


Wartezeiten von mehr als 15 Minuten bei der Höhe der Terminsgebühr zu berücksichtigen

(c) Thorben Wengert / pixelio.de

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Wartezeiten eines Rechtsanwalts vor einem Termin zur mündlichen Verhandlung, welche die in der Ladung mitgeteilte Uhrzeit um mehr als 15 Minuten überschreiten und die allein der Sphäre des Gerichts zuzurechnen sind, sind bei der Bestimmung der Terminsgebühr gebührenerhöhend zu berücksichtigen. Bei einer Wartezeit von 1 ½ Stunden ist die Mittelgebühr um 1/3 heraufzusetzen (Beschluss des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 22.11.2016, L 5 SF 91/15 B E).

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Beratungshilfe: „Ausnahmsweise“ einmaliger telefonischer Klärungsversuch ausreichend

Amtsgericht Kiel (Photo: Helge Hildebrandt)

Amtsgericht Kiel (Photo: Helge Hildebrandt)

Mit Beschluss vom 23.01.2017 zum Aktenzeichen 7 UR II 23/16 hat das AG Kiel einen Rechtspflegerbeschluss aufgehoben, mit dem ein Antrag auf Beratungshilfe mit der Begründung abgelehnt worden war, der Rechtsuchende hätte sich ohne anwaltliche Hilfe selbst um eine Lösung der Angelegenheit bemühen können, die Beantragung von Beratungshilfe sei deswegen „mutwillig“ im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 3 i.V.m. Abs 3 BerHG gewesen.

Im Erinnerungsverfahren wurde nun richterlich bestätigt, dass der Rechtsuchende seine vor Aufsuchen eines Anwalts stattgehabten „Eigenbemühungen“ glaubhaft gemacht hat. Aufgrund der Dringlichkeit und der Bedeutung der Angelegenheit sowie der glaubhaft gemachten Reaktion des Gegners sei „ausnahmsweise ein einmaliger telefonischer Klärungsversuch ausreichend“ gewesen.

Anmerkungen

Das Vertretungsmandat in dieser Angelegenheit hat vom 15.03.2012 bis zum 28.03.2012 gedauert. Es konnte für den Rechtsuchenden am 28.03.2012 in zwei Telefonaten erfolgreich bearbeitet und abschlossen werden. Das Verfahren über die Beantragung von Beratungshilfe sowie das sich anschließende Erinnerungsverfahren haben vom 30.12.2015 bis zum 26.01.2017 gedauert und es waren insgesamt 9 Schriftsätze abzusetzen. Ich lasse das jetzt einfach einmal kommentarlos so stehen.

Rechtsuchenden und auch der Rechtsanwaltschaft ist vor dem Hintergrund der neueren Rechtspraxis an vielen Amtsgerichten, die Beratungshilfe von der Glaubhaftmachung zuvor stattgehabter sog. „Eigenbemühungen“ des Rechtsuchenden abhängig zu machen, zu raten, diese im Fall der nachträglichen Beantragung von Beratungshilfe (vgl. dazu Stichwort Beratungshilfe, 1.) genau zu notieren und etwaige schriftliche Nachweise zur Akte zu nehmen. Gegebenenfalls empfiehlt es sich, gleich in der ersten Beratung eine Versicherung des Rechtsuchenden über Art um Umfang seiner „Eigenbemühungen“ aufzunehmen. Im Regelfall wird der Anwalt vor dem Hintergrund der stark von Kontingenzen geprägten Rechtsprechung zu der Frage, wann die Inanspruchnahme von Beratungshilfe mutwillig ist, auf die Vorlage eines Berechtigungsscheins bestehen. Dies ist die logische Folge einer Gesetzgebung, die – anstatt Ansprüche klar zu formulieren – in zunehmendem Umfang nicht nur mit unbestimmten Rechtsbegriffen operiert, sondern zur (scheinbaren) Konkretisierung der von ihr bemühten unbestimmten Rechtsbegriffe neue – genauso unbestimmte – Rechtsbegriffen einführt. § 1 Abs. 3 BerHG steht hierfür als Paradefall:

Mutwilligkeit liegt vor, wenn Beratungshilfe in Anspruch genommen wird, obwohl ein Rechtsuchender, der keine Beratungshilfe beansprucht, bei verständiger Würdigung aller Umstände der Rechtsangelegenheit davon absehen würde, sich auf eigene Kosten rechtlich beraten oder vertreten zu lassen. Bei der Beurteilung der Mutwilligkeit sind die Kenntnisse und Fähigkeiten des Antragstellers sowie seine besondere wirtschaftliche Lage zu berücksichtigen.“

Mit dieser Formulierung hat der Gesetzgeber zum 01.01.2014 die bisherige Rechtsprechung des BVerfG zur „zumutbaren Selbsthilfe“ umgesetzt. Wie derartiges soft law indessen in der tagtäglichen (Beratungshilfe)Praxis umgesetzt werden soll, erschließt sich vermutlich nur mit höheren Weihen gesegneten obersten Bundesrichtern und unserem bundesdeutschen Gesetzgeber des 21. Jahrhunderts.

Das Amtsgericht Kiel jedenfalls hat nun festgestellt: Eigenbemühungen können auch fernmündlich erfolgen und wenn es sehr eilt und um wichtige Rechtsgüter geht, dann genügt ausnahmsweise auch ein einmaliger Klärungsversuch. Derartiger Kasuistik gehört offenbar die Zukunft.

Siehe auch: AG Halle (Saale), Beschluss vom 08.02.2012, 103 II 931/11: Auch Telefongespräche mit dem Gegner stellen eine Vertretung im Sinne des § 2 Abs. 1 BerHG dar.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Jobcenter muss Doppelmieten übernehmen

(c) Gerd Altmann / pixelio.de

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Bei einem Umzug lässt es sich häufig nicht vermeiden, dass Mieten für zwei Wohnungen – die ehemalige und die neue Wohnung – gezahlt werden müssen. Denn die alte Wohnung sollte erst gekündigt werden, wenn der Vertrag für die neue Wohnung unterschrieben ist. Denn sonst droht Wohnungslosigkeit, wenn der Vertrag später doch nicht zustande kommt. Bezieher von ALG II (Hartz IV) müssen mit den Jobcentern immer wieder um die Übernahme unvermeidbarer Doppelmieten streiten.

Das Sozialgericht Kiel hat in einem aktuellen Urteil erneut entschieden, dass Doppelmieten als Kosten der Unterkunft vom Jobcenter zu übernehmen sind, wenn der Umzug notwendig war und der Leistungsberechtigte alles ihm Mögliche und Zumutbare unternommen hat, Doppelmieten zu vermeiden beziehungsweise so gering wie möglich zu halten. So hatte sich die Klägerin in diesem Verfahren vergeblich an den neuen Vermieter gewandt, um den Beginn des Mietverhältnisses auf einen späteren Zeitpunkt zu verlegen. Sie hatte aktiv einen Nachmieter gesucht und zu diesem Zwecke unter anderem Kleinanzeigen und Annoncen aufgegeben. Damit hat sie nach Auffassung des Gerichts alles ihr Mögliche und Zumutbare getan, um ihre Mietaufwendungen so gering wie möglich zu halten. Das Jobcenter musste die doppelten Mietaufwendungen deswegen übernehmen.

(Sozialgericht Kiel, Urteil vom 27.09.2016, S 40 AS 500/15)

Erstveröffentlichung in HEMPELS 12/2016

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Keine Beratungshilfe für das Widerspruchsverfahren, wenn für das Überprüfungsverfahren Beratungshilfe gewährt wurde?

Logo BVerfGWurde Beratungshilfe für die Stellung eines Überprüfungsantrages gewährt, soll die Ablehnung der Beratungshilfe für ein anschließendes Widerspruchsverfahren den Rechtssuchenden nicht in seinem grundgesetzliche verbürgten Anspruch auf Rechtswahrnehmungsgleichheit aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und Abs. 3 GG verletzen. Denn mit der anwaltlichen Beratung im Überprüfungsverfahren sei auch die anwaltliche Beratung im anschließenden Widerspruchsverfahren als bereit gewährt anzusehen (BVerfG, Beschluss vom 7. November 2016 – 1 BvR 1517/16 – ).

Bewertung

Diese Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts überzeugt nicht. Verwaltungsverfahren, Überprüfungsverfahren und Widerspruchsverfahren sind – was gebührenrechtlich vollkommen unstrittig weil gesetzlich eindeutig normiert – verschiedene Angelegenheiten (§ 17 Nr. 1a RVG). Sie werden deswegen vom Rechtsanwalt auch gesondert abgerechnet. Die vom anwaltlichen Vergütungsrecht abweichende Rechtsprechung des BVerfG im Bereich der Beratungshilfe führt damit dazu, dass unbemittelte Bürger ihre Rechte nicht in gleicher Weise wahrnehmen können wie bemittelte Bürger, die ihren Anwalt in beiden Verfahren – Überprüfungs- und Widerspruchsverfahren – bezahlen können.

Zudem vermag die These, mit der Gewährung von Beratungshilfe für das Überprüfungsverfahren sei auch die gewünschte Beratungshilfe für das Widerspruchsverfahren als bereits gewährt anzusehen, nur in Fällen zu überzeugen, in denen im widerspruchsfähigen Ablehnungsbescheid keine neuen tatsächlichen oder rechtlichen Fragen zu beurteilen sind, die im vorangegangenen Überprüfungsverfahren noch nicht aufgeworfen worden sind.

Zuletzt relativiert das BVerfG mit dieser Entscheidung seine bisherige ständige Rechtsprechung, wonach für Widerspruchsverfahren stets Beratungshilfe zu gewähren ist (vgl. Stichwort Beratungshilfe, dort unter 3.3.3). Da die Beschlüsse des Amtsgerichts Bayreuth nicht veröffentlicht sind, lässt sich hier allerdings nicht abschließend beurteilen, inwieweit die Gründe für diese Entscheidung sich in dem konkreten Einzelfall finden lassen.

Dem Rechtsanwalt kann aufgrund von Entscheidungen wie dieser nur geraten werden, Beratungshilfe nur noch gegen Vorlage eines Berechtigungsscheins zu gewähren, da sich die Voraussetzungen der Beratungshilfegewährung zunehmend der rationalen Vorhersehbarkeit entziehen.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Bei Untätigkeitsklage keine Anrechnung der Geschäftsgebühr aus dem Verwaltungs- und Widerspruchsverfahren

(c) Thorben Wengert / pixelio.de

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Immer wieder versuchen es Behörden – hier das Justitiariat des Norddeutschen Rundfunks – weswegen es an dieser Stelle noch einmal klar gesagt werden soll:

Die Geschäftsgebühr aus einem Verwaltungs- oder Vorverfahren ist auf die Gebühren in einem Untätigkeitsklageverfahren auch im Verwaltungsrecht nicht anzurechnen. Zu beachten ist nämlich, dass Voraussetzung für eine Anrechung ist, dass der Streitgegenstand derselbe ist. Im Verwaltungs- oder Nachprüfungsverfahren ist der Anwalt in der Hauptsache tätig. Im Verfahren der Untätigkeitsklage geht es bei der verwaltungsgerichtlichen Untätigkeitsklage nach § 75 VwGO ausschließlich um den Anspruch auf Bescheidung, nicht aber um die Sache selbst. Es handelt sich also faktisch um einen eigenen Instanzenzug. Da ein Verwaltungs- oder Nachprüfungsverfahren zur isolierten Untätigkeitsklage nicht vorgesehen ist, kann insoweit auch keine Vorbefassung gegeben sein. Daher ist bei einer Untätigkeitsklage keine Anrechnung einer vorangegangen Geschäftsgebühr vorzunehmen.

Dem folgend Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht, Beschluss vom 14.09.2016, 4 A 64/16.

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Jobcenter muss Reparaturkosten bei Eigenheim voll übernehmen

(c) Kurt F. Domnik / pixelio.de

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Als Bedarf für die Unterkunft werden nach § 22 Abs. 2 SGB II bei selbst bewohntem Wohneigentum auch unabweisbare Aufwendungen für Instandhaltung und Reparatur als Zuschuss anerkannt, soweit hierdurch die für Mietwohnraum geltenden örtlichen Angemessenheitsgrenzen in 12 Monaten nicht überschritten werden. Beispiel: Laufende Kosten der selbst genutzten Immobilie: 300,00 € monatlich ohne Heizung, Mietobergrenze für angemessene Mietwohnung 400,00 €, Reparaturkosten bis 1.200,00 € im Jahr können als Zuschuss übernommen werden, ein etwaiger Rest nur als Darlehen.

Das Sozialgericht Dortmund hat nun entschieden, dass ein Jobcenter die Kosten für die Erneuerung einer defekten Gasheizung (5.200,00 €) ungeachtet der Frage der Angemessenheit der Wohnkosten tragen muss, wenn es zuvor der langzeitarbeitslosen Hauseigentümerin keine Kostensenkungsaufforderung zugestellt hat. Es könne dahinstehen, ob die Wohnkosten – wie von dem Jobcenter angenommen – unangemessen seien. Jedenfalls habe die Behörde es versäumt, der Klägerin vorab eine Kostensenkungsaufforderung zuzustellen. Das Erfordernis der Kostensenkungsaufforderung gelte für Mietwohnungen wie für selbstbewohntes Wohneigentum gleichermaßen. Mieter und Eigentümer seien als Grundsicherungsbezieher insoweit gleich zu behandeln.

Sozialgericht Dortmund, Urteil vom 19.09.2016, S 19 AS 1803/15

Erstveröffentlichung in HEMPELS 11/2016

Rechtsanwalt Helge Hildebrandt


Bürgerbeauftragte fordert vollständige Abschaffung der Zwangsverrentung für Arbeitslose